Montag, November 17

In der taiwanischen Hauptstadt gibt es ein «Little Burma». Doch wirklich burmesisch ist es nicht.

Auf den ersten Blick sieht die Huaxin-Strasse im Süden Taipehs aus wie viele Strassen in den älteren Quartieren der taiwanischen Hauptstadt. Vier-, fünfstöckige Gebäude, eng aneinandergebaut, die Fassaden mit kleinen Fliesen bedeckt. Sie schimmern in allen Schattierungen von Grau wegen der ständig hohen Luftfeuchtigkeit.

In den Erdgeschossen sind meist kleine Restaurants einquartiert. Sie sind zur Strasse hin offen, nicht viel mehr als Essensstände in einer Garage. Mit grossen Reklametafeln buhlen sie um Kunden. Zwar sind alle mit chinesischen Schriftzeichen angeschrieben. Doch überall prangen die auffälligen Kringel des burmesischen Alphabets. Daher wird die Huaxin-Strasse im Volksmund auch als «Little Burma» bezeichnet.

Mehrere Wellen von Immigranten aus Burma

Hier lebten die «normalen» Immigranten aus Burma, sagt Ma Yin-qing, die im Quartier aufgewachsen ist. Diese unterschieden sich von Soldaten der nationalistischen Armee, die nach dem chinesischen Bürgerkrieg aus dem Norden Burmas repatriiert worden seien, erklärt die 26-jährige Soziologin.

Bereits diese kurze Erklärung zeigt, dass die Geschichte der Einwohner der Huaxin-Strasse komplex ist. Sie – oder ihre Vorfahren – stammen alle aus dem heutigen Myanmar. Sie gehören aber weder zur Mehrheitsbevölkerung der Bamar noch zu einer der zahlreichen Minderheiten im Vielvölkerstaat. Sie sind ethnische Chinesen. Und darum kamen sie nach Taiwan.

Als der chinesische Bürgerkrieg auf dem Festland mit dem Sieg der Kommunisten 1949 zu Ende ging, floh der Oberbefehlshaber der nationalistischen Kuomintang (KMT), Chiang Kai-shek, mit rund 1,5 Millionen Gefolgsleuten auf die Insel Taiwan. Einzelne seiner Truppenverbände hingegen zogen sich über die bergige Grenze von Südchina nach Burma zurück. In den 1950er und 1960er Jahren wurden rund 7000 bis 8000 Soldaten und ihre Familien dieser «verlorenen Armee» dann nach Taiwan evakuiert.

Eine zweite Einwandererwelle kam ab den 1960er bis in die frühen 1990er Jahre. «Einerseits machte die burmesische Regierung Druck auf die chinesische Minderheit», sagt Ma Yin-qing, «anderseits arbeitete die KMT aktiv daran, sie nach Taiwan zu locken.» Denn jeder Überseechinese – so wurden diese Menschen bezeichnet –, der in die Republik China nach Taiwan und nicht in die kommunistische Volksrepublik übersiedelte, war für die Nationalisten ein kleiner Propagandasieg.

Schüler chinesischer Schulen prügeln sich

So kam zum Beispiel Jiang Ming-yo nach Taiwan. Der heute 78-Jährige wuchs im Norden Myanmars auf, in Myitkyina, der Hauptstadt des Teilstaats Kachin. Dorthin waren seine Eltern mit ihm nach dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs geflohen. Damals war er dreijährig. Geboren wurde er noch in der südchinesischen Provinz Yunnan.

Jiang besuchte eine chinesische Schule, eine nationalchinesische, denn die Schulen der chinesischen Minderheiten in Myanmar seien getrennt gewesen, sagt er. Es gab solche, die nationalistisch, und andere, die kommunistisch ausgerichtet waren. Die Lehrmittel spiegelten die entsprechende Ideologie. «Wir hatten wenig Kontakt mit den gleichaltrigen Jungs der kommunistischen Schule», erinnert sich Jiang. «Und wenn wir mal auf sie trafen, artete das manchmal in einer Prügelei aus.»

Später wurde er Lehrer an derselben Schule, wo er Schüler gewesen war. Nebenher half er, junge Überseechinesen für die Übersiedlung nach Taiwan zu gewinnen. So sei er ins Visier der Kommunisten geraten. Lokale Kontakte hätten ihn davor gewarnt, dass kommunistische Agenten ihn nach China entführen wollten. 1981 floh er mit seiner Familie nach Taiwan.

Nicht alle stehen zu ihrer Herkunft

Bei Jiangs Lebenslauf drängt sich die Frage auf: Als wer fühlt er sich? «Hier in Taiwan bezeichne ich mich als burmesischer Überseechinese», sagt Jiang, ohne zu zögern, «wenn ich aber im Ausland bin, dann sage ich: ‹Ich bin aus Taiwan, aber ich bin Chinese.›»

Bei der jungen Soziologin Ma Yin-qing klingt die Antwort anders. Ihre Familie stammt zwar ursprünglich auch aus Yunnan, doch sie wurde in Taiwan geboren. «Ich bin Überseechinesin zweiter Generation. Aber eigentlich bin ich Taiwanerin.» Die Soziologin setzt sich intensiv mit ihrer Identität auseinander, hat ihre Masterarbeit über junge Überseechinesen aus Myanmar geschrieben.

Als Kind schämte sie sich für ihre Herkunft, versuchte diese so gut als möglich zu verstecken. «Es gab zwar in meiner Klasse andere Kinder aus Überseechinesen-Familien», sagt sie, «wir wussten voneinander, deckten uns aber, damit sonst niemand davon erfuhr.»

Sogar heute wollten nicht alle zu ihrer Herkunft stehen, sagt Ma. Einige fürchten sich vor negativen Reaktionen ihres Umfelds, wenn dieses erführe, dass sie Immigranten seien. Das mag komisch wirken in einem Land, wo weit über 90 Prozent der Einwohner Vorfahren haben, die entweder nach 1949 oder in den dreieinhalb Jahrhunderten davor vom Festland eingewandert waren.

Die burmesische Kultur geht verloren

In der Gemeinde der Überseechinesen wollten die meisten Eltern, dass sich ihre Kinder möglichst gut assimilieren, sagt Ma. So gehe die burmesische Kultur zunehmend verloren. Dazu kommt ein Paradox: Die Überseechinesen haben zwar die burmesische Kultur nach Taiwan gebracht, doch strenggenommen ist diese ihnen gar nicht eigen.

«Früher in Burma feierten die Überseechinesen vor allem ihre chinesischen Feste», erklärt die Soziologin. «Hier in Taiwan begehen sie burmesische Feste, die aus dem Buddhismus stammen.» Die Stadtregierung fördert diese Feste, um den Tourismus anzukurbeln. Dazu gehören das burmesische Neujahrsfest (Thingyan) im Frühling und das Lichtfest Thadingyut im Herbst – die beide als lokale Attraktionen in der Huaxin-Strasse gefeiert werden und viele Besucher anziehen.

Ähnlich sei es mit dem Essen. Man kenne burmesische Gerichte – die häufig indische Einflüsse haben – halt aus der Kindheit, von zu Hause bei den Eltern und Grosseltern. Mas Wahl für das Gespräch mit der NZZ unterstreicht dies: ein einfacher Imbiss an der Huaxin-Strasse, wo Frühstück serviert wird.

Sie bestellt Nan bya, ein dünnes Fladenbrot, das mit gekochten Bohnen serviert wird. «Mein Lieblingsfrühstück», meint sie schmunzelnd, «burmesisch kochen kann ich aber nicht.» Den Milchtee holt sie sich später in einem taiwanischen Laden – sie zieht diese Variante vor, die süsser und weniger bitter ist als die burmesische.

Mitarbeit: Riley Chou.

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