Zum Auftakt der 78. Filmfestspiele präsentierte sich die Croisette als Hafen der Sittlichkeit, während sich Robert De Niro seinen «banausischen Präsidenten» vorknöpfte.

Was geht nur in Frankreich vor sich? In Cannes stösst man sich an zu viel Nacktheit, das ist die erste überraschende Neuigkeit.

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Die 78. Filmfestspiele haben sich Anstandsregeln auferlegt. Allzu durchsichtig sollen die Kleider der Stars nicht mehr sein. Wer die Treppe zum Festival-Palais hochschreitet, darf sich nicht entblössen, so steht es in der «Charte du festivalier»: «Aus Gründen des Anstands ist Nacktheit auf dem roten Teppich verboten.»

Paradiert an der Croisette jetzt die Sittenpolizei? Auch ausladende Roben sind geächtet. Denn Schleppen sorgen für Stau vor dem Einlass. Ausserdem gibt es Streit im Saal, wenn hohe Hüte die Sicht einschränken. Cannes sieht Handlungsbedarf.

Kein Johnny Depp diesmal

Dann Depardieu – das war die nächste unerwartete Meldung: Wegen sexueller Übergriffe wurde der Nationalheilige zu anderthalb Jahren Gefängnis bedingt verurteilt. Die Zeiten, als sich der grösste Star des Landes gegenüber Frauen verhalten konnte, wie er wollte, sind passé. So entschied das Pariser Strafgericht am Dienstagvormittag, nur Stunden vor der Cannes-Eröffnung.

Diese erfolgte dann mit dem Film einer jungen Französin. Auch damit schlägt das Fest einen neuen Ton an: Denn eigentlich geniesst man den Ruf, eine unverbesserliche Altherrenbastion zu sein. So sorgte vor zwei Jahren ein Film mit dem mutmasslichen Schwerenöter Johnny Depp («Jeanne du Barry») für Empörung zur Eröffnung. Doch dieses Jahr entschied man sich für einen familientauglichen, leichten und völlig skandalfreien Auftakt mit feministischer Grundierung.

«Partir un jour» heisst dieser Erstling von Amélie Bonnin, der tags darauf schon wieder vergessen ist. Die Geschichte um eine gefeierte Fernsehköchin, die in der Autobahnraststätte der Eltern nach dem Rechten schauen muss, erzählt vorhersehbar von einem Stadt-Land-Konflikt, aufgelockert mit Musical-Elementen. Französische Dutzendware, nicht der Rede wert.

Schwülstige Reden

Es kommt einiges zusammen: ein Hang zur Prüderie im Festival-Palais, die Ächtung Depardieus, der leicht verdauliche Feminismus zum Auftakt. Zeichnet sich etwa eine Zeitenwende auf Französisch ab? Während in Amerika #MeToo tendenziell zurückbuchstabiert wird und etwa Harvey Weinstein wieder Fürsprecher findet, schwingt das Pendel in der Grande Nation in die entgegengesetzte Richtung.

Moralismus scheint en vogue. Auch wurde bei der Eröffnungszeremonie nicht gegeizt mit grossen Worten. In schwülstigen Reden versicherten sich Stars ihrer Bedeutsamkeit. Viel Weltschmerz wurde vom Teleprompter verlesen.

Angefangen mit Juliette Binoche. Die Jurypräsidentin, die dem neuen Dresscode in einem madonnenartigen hellrosa Kleid Folge leistete, hielt der Filmgemeinde eine Predigt: «Krieg, Elend, Klimawandel, primitive Frauenfeindlichkeit, die Dämonen unserer Barbarei lassen uns keine Ruhe», sagte Binoche in ihrer angestrengten Rede, die aber immerhin sehr um Ausgewogenheit bemüht war. «Die Geiseln vom 7. Oktober» erwähnte die Schauspielerin genauso wie die palästinensische Fotojournalistin Fatima Hassouna, die bei einem israelischen Luftangriff in Gaza getötet wurde.

Anzurechnen ist Binoche ausserdem, dass sie sich dem x-ten offenen Brief gegen Israel verweigert hat, den die Anti-Israel-Fraktion von Richard Gere über Susan Sarandon bis zu Javier Bardem zum Festivalstart zirkulieren liess.

«Für Faschisten sind wir eine Bedrohung»

Politisch wurde dann auch Robert De Niro, dem Leonardo DiCaprio die Ehrenpalme überreichte: Beide waren sich einig, dass es um die Demokratie in ihrer Heimat nicht zum Besten bestellt sei. De Niro attestierte seinen Landsleuten, um ihre Rechte zu kämpfen. «In my country, we are fighting like hell for democracy», sagte der Altstar, ohne allerdings einen Gedanken daran zu verschwenden, dass er allenfalls für die Hälfte der Amerikaner sprach. Darin liegt das Problem. Hollywood hat den Draht zu weiten Teilen des Landes verloren.

De Niro sprach von einem «banausischen Präsidenten», der sich gegen die Künste stelle, weil diese für «Inklusion und Diversität» stünden. Weil die Kunst die Leute zusammenbringe, «nehmen uns Autokraten und Faschisten als eine Bedrohung wahr», sagte De Niro.

Er erwähnte auch Trumps Zolldrohung gegen Filme, die nicht in Amerika produziert werden. Was er nicht erwähnte: Der amerikanischen Filmindustrie geht es nicht gut, in der Branche beobachtet man mit Sorge, dass zunehmend Jobs ins Ausland abwandern. Wenn Blockbuster etwa im Niedriglohnland Ungarn umgesetzt werden statt in Kalifornien, trifft das den einheimischen Filmarbeiter. Mit Zöllen mag ihm kaum geholfen sein. Mit wohlfeilen Worten eines Superstars aber auch nicht.

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