Während der Winterzeit ist Capri die Ruhe selbst. Dann entfaltet die Ferieninsel ihren wahren Zauber und wird zum Refugium für Romantiker.
Starker Wind aus West, raue See bis morgen früh, alle Verbindungen von Capri zum Festland sind gekappt, ich stecke fest.
Ein pfeifender Wind zerrt dreist an meinen Fensterläden, aus dem Garten der Nachbarn fliegt ein Myrtenzweig auf meine Terrasse. Die Sonne blendet, und trotz meiner erhöhten Lage sehe ich, wie das Meer aufgewühlt schäumt.
Eigentlich ist es egal, ob jetzt ein Schiff fährt oder nicht. Ich werde heute ohnehin wie so oft im Winter Reissaus nehmen und mit dem Hund hinuntergehen zu den fast leeren Giardini di Augusto, den Augustusgärten, um in einer auf Capri so wertvollen Atmosphäre des Alleinseins die Meeresluft zu schnuppern.
Der Kiosk mit der Zitronenglace ist im Winter zugenagelt
Die kegel- bis nadelförmigen Faraglioni-Felsen im türkisblau glitzernden Meer, die sich im Wind streifenden Palmwedel, Limoncello, Grotten, eine Hitze, eine Armada aus Segel- und anderen Booten sowie ein babylonisches Geplapper am Hafen, Gedränge auf der Piazzetta: Das ist Capri. Im Sommer.
An diesem Wintermorgen bin ich allein unterwegs über die Via Matteotti. Der Kiosk mit der vielleicht besten Zitronenglace Capris wurde nach Saisonende vorübergehend zugenagelt. Ich blicke in sattgrüne Gärten, wo aus dunklem Laub orange Kugeln leuchten, bald sind die Zitrusfrüchte reif. Es riecht nach verbranntem Holz und nasser Erde. Der Dezemberwind zeigt sich heute wirklich garstig, doch der Himmel, azurblau wie im Prospekt, lässt das vergessen.
Am Ende der Strasse blicke ich auf eine Felswand, Pinien und eine Meeresbucht. Meterhohe Wellen klatschen gegen die Felsen unten an der Via Krupp. Mein Hund springt im Zickzack fröhlich vor mir her.
Ein freudiges «Stefa!» reisst mich aus meinen Tagträumen. Oben in den Augustusgärten winkt der städtische Gärtner.
Im Winter, wenn auf der Insel alle entspannt sind, begrüssen wir Einwohner uns gern im Vorbeigehen mit dem Vornamen. «Tonino!», rufe ich zurück. Er hat sich in einen dicken Schal vermummt. Sicher nicht wegen des Windes. Es herrschen Temperaturen von 15 Grad. Aber es ist ja Dezember.
«Ciao, buongiorno!», sagt er nun, da ich zu ihm trete, auch das ein Inselgruss. In Neapel, in Kampanien, auf dem Festland würden sie sich für das vertraute «Ciao» oder ein offizielles «Buongiorno» entscheiden.
Tonino fragt, ob ich die Bougainvillea am Parkeingang gesehen habe, dieses pink leuchtende Blumenmeer. Der Gärtner käme nie auf die Idee, im Dezember seine Jahresferien zu nehmen, wenn es Blumen gibt, die dann nur für die Capresen blühen.
Wenn im Städtchen Capri alle Restaurants und alle Bars bis auf eine einzige auf der Piazzetta dichtgemacht haben, wenn man sich nur noch beim Hausarzt, im Gemüseladen oder auf der Post begegnet, dann entscheide ich mich wie viele Capresen für ausgedehnte Spaziergänge auf der Insel und flaniere zu Orten, die nun meine ungeteilte Aufmerksamkeit erhalten können.
Jeder Blick ein Postkartenmotiv
Mit Blick auf den Monte Solaro und den Tiberiushügel stelle ich mir dann vor, wie sich vor Urzeiten ein himmlischer Bühnenbildner einen Spass daraus gemacht hat, helle Kalksteinbrocken zu einer dramatischen Felsformation aufeinanderzuschichten und Capri zu erschaffen, eine Insel, die aus lauter Hügeln besteht. Unterwegs auf den Wegen und Pfaden, geht es deshalb hinauf oder hinunter. Ob hinauf nach Tiberio oder Matermania oder hinunter in eine der Buchten: Jeder Ausblick könnte das Motiv einer noch entzückenderen Postkarte sein.
Im Sommer dient diese Landschaft den Besuchern aus aller Welt als Kulisse für ein Glücksversprechen, im Winter spielt sie bei den daheimgebliebenen Einheimischen die Hauptrolle.
Die Insulaner, denen man im Winter beim Spaziergang begegnet, bewegen sich gern in geselligen Grüppchen, zumeist sind sie weisshaarig oder graumeliert. Vor dem Frühstück oder danach, am späten Vormittag oder nach dem Mittagessen spazieren sie, die Capresen. Frauen und Männer gehen dabei meist getrennt.
Beliebt, weil steigungslos und gespickt mit anregenden Ausblicken über die Insel auf das Meer, ist der Villenweg Via Tragara, der noch über die Küstenstrasse Via Pizzolungo verlängert werden kann. Die Liebhaber dieser Strecke entlang von Villen und Gärten, so denke ich manchmal, wüssten es als Erste, wenn sich die spektakulären Faraglioni-Felsen vor der Punta Tragara in der Nacht davongemacht hätten.
Jeder Flaneur bringt Neuigkeiten aus seiner Welt mit, die Saison war lang. Manchmal mische ich mich unter die Schwatzenden. Schon wieder soll ein Hotel aus capresischem Familienbesitz an einen internationalen Investor veräussert worden sein. Ein zweistelliger Millionenbetrag? Ach, bald gibt es sie nicht mehr, die typisch capresische Gastfreundschaft mit Einheimischen als Hoteliers, die die Vorlieben ihrer Stammgäste kennen. Und wo, bitte schön, sollen die Einheimischen ohne Grundbesitz wohnen, wenn alle Hausbesitzer nur noch lukrative B&B aus ihren Häusern machen?
Die Jungen fliegen nach dem Saisonende aus
Jungen Capresen begegne ich während meiner winterlichen Streifzüge kaum. Sobald Anfang November die Blaue Grotte nicht mehr angefahren wird und auch das letzte Hotel eine «Arrivederci im Frühjahr 2024»-Tafel in die Pforte gehängt hat, suchen die Jungen wie Zugvögel das Weite.
«Was sollen sie hier auch machen?», sagt Tonino, der Gärtner, und fügt an: «Ausser Internet bietet die Insel im Winter ja nichts, und die Natur sehen sie in diesem Alter noch nicht.»
Wer keine schulpflichtigen Kinder hat, ist weg, am besten bis kurz vor dem Josefstag am 19. März, wenn in der Regel mit dem Frühling die Saison beginnt. Die einen belohnen sich mit monatelangen Dauerferien im günstigen Sharm al-Sheikh oder in Thailand. Sie schicken Weihnachtsgrüsse über die sozialen Netzwerke, Selbstporträts mit lachenden capresischen Freunden am Strand von Phuket. Andere nehmen eine zweite Arbeitssaison mit und verknüpfen auch im Winter Job und Freizeit, in St. Moritz etwa oder Miami, wo die jungen Capresen dann ihrer Sommerklientel von Capri begegnen.
Lange Zeit, ich lebe als Zuzügerin seit fast zwanzig Jahren auf der Insel, hatte ich geglaubt, dass auf Capri die Männer mehr tratschten, schliesslich sehe ich sie jeden frühen Morgen auf der Piazzetta stehen, dicht gedrängt in Grüppchen. Im Sommer ab 7, im Winter nach 8 Uhr. Mittlerweile weiss ich, dass es sich dabei um die lokalen Bauunternehmer handelt, die ihre aus Neapel angekommenen Handwerker um sich versammeln und sich austauschen, wie sie das seit Generationen tun.
Der Weihnachtsbaum auf der Piazzetta ist aus Plastik
Um in die Stadt Capri zu gelangen, muss jeder über einen Platz gehen. Bekannt ist dieser Ort bei Einheimischen und Touristen als die Piazzetta, der kleine Platz.
Klein erscheint er mir im Sommer, wenn es kaum ein Durchkommen gibt. Die Bar Tiberio, die Piccolo-Bar, das Gran Caffè und die Bar Caso teilen sich dann den Platz mit ihren Korbstühlen auf. Von früh bis zum späten Abend sitzen dort diejenigen, die gesehen werden wollen. Die Tagestouristen zwängen sich zwischendurch, manch einer hofft darauf, mittendrin eine Berühmtheit zu entdecken.
Im Herbst dann stelle ich mir vor, der Bürgermeister habe die Wand seines Rathauses ein wenig nach hinten gerückt, als winterliche Hommage an seine Capresen. Ohne Bestuhlung erscheint der Platz schier unendlich gross.
Vor wenigen Tagen ist der Platz wieder geschrumpft worden. Am 8. Dezember, wenn die Italiener traditionell ihren Christbaum schmücken, wurde die Piazzetta kurz vor sechs Uhr abends zum Wohnzimmer der Capresen: Plötzlich waren sie alle da, fröhlich und redselig, manche aufgekratzt, in der Piccolo-Bar gab es keinen einzigen freien Korbstuhl mehr.
Alle Augen waren auf den Christbaum aus Plastik gerichtet, der wie immer über Nacht aufgebaut worden war. Den einen war er zu mickrig, andere hätten eine echte Tanne wie früher bevorzugt. Der Bürgermeister bekam nichts davon mit. Als er die Lichter des Weihnachtsbaums erstrahlen liess und die Volkstanzgruppe Scialapopolo zuerst den Panettone-Weihnachtskuchen verteilte und dann mit Gesang zum Tanz lud, zeigten sich die Capresen versöhnt mit dem merkwürdig kegelförmigen Baum.
Um 1900 wurde Capri zum Sehnsuchtsort
Wenn ich im Winter unterwegs bin, lädt mich die Insel immer wieder auf eine kleine Zeitreise ein. Die leeren Gassen und die verblassten Farben der Landschaft, sie erinnern mich an die ersten Schwarz-Weiss-Fotografien des Eilands und bringen mich in die Zeit um 1900, als Capri gerade zum Sehnsuchtsort geworden war, den Romantiker aus dem Norden nur zwischen November und Mai besuchten.
In dieser Zeit muss auch der Mythos von Marina Piccola entstanden sein. Diese malerische Bucht auf der Südseite mit ihrem smaragdgrün glitzernden Meer, den bunt gestreiften Sonnenschirmen und dem Blick auf die Faraglioni-Profile in der Ferne verbinden seit den sechziger Jahren, als man plötzlich zum Baden nach Capri kam, wirklich alle auf der Welt, die von Capri schwärmen, mit einem ungetrübten Sommererlebnis. Dabei ist Marina Piccola im Juli ein Albtraum. Der Kieselstrand wird zu einem grossen Patchworkhandtuch mit sonnenverbrannten Leibern, und selbst im Wasser treten sich die Badenden in Strandnähe gegenseitig auf die Füsse.
Ende September hatte mich Luigi, ein einheimischer Freund, zum Schmunzeln gebracht. Wir waren uns auf der Strasse zufällig begegnet, die Strassen waren noch voll und laut, und er meinte nur im Vorbeigehen: «Na, jetzt sehen wir uns ja bald wieder in Marina Piccola?»
Nur wenige können einen solchen Satz verstehen. Marina Piccola, Baden im Winter? An einem Sonnentag wie heute, wenn der Wind das Meer aufbauscht, auf der Piazzetta die Hüte fliegen, die Insel für Auswärtige unerreichbar ist, dann bekommt diese kleine Bucht für uns Insulaner eine magische Anziehungskraft. Also beschliesse ich, hinunterzugehen.
Unten am Meer treffe ich Luigi und seine Verlobte Marisa, ausserdem Massimo und Costanza. Sie sitzen im windgeschützten Teil der Bucht unter der leergeräumten Strandbadterrasse. Auch Barbara und Luisa hat es aus Anacapri heruntergezogen. Ihre Daunenjacken liegen auf den warmen Kieselsteinen am Strand, alle sitzen mit geschlossenen Augen im Bikini und in der Badehose da und halten ihre Nasen in die gleissende Sonne. Auch wenn wir heute nicht baden können, spüren wir das Meersalz auf der Haut. «Ich liebe Aerosol,» sagt Barbara und lacht über die Gischt, die uns immer wieder erreicht.
Gekrönt wird dieser Glückstag durch das Panino caprese, das Mozzarella-Tomaten-Brötchen, das mir Luigi anbietet.
Luisas Espresso aus der Thermoskanne reicht sogar für den Fischer, der von einem nahen Felsen angelt.
Für den Abend bin ich eingeladen. Zum Apéritif. Der Wind pfeift immer noch, ich begegne nur wenigen Capresen in den Gassen, die meisten erkenne ich an ihren Silhouetten. Das war doch gerade Stefano, der Anwalt! Wo kommt der denn her nach Sonnenuntergang, er konnte doch heute nicht in seine Kanzlei nach Neapel, die Schiffe fielen ja aus? Die staubigen Kerle vor mir, sie sprechen ukrainisch, sind bestimmt Bauarbeiter. Die Armen sind spät dran, bestimmt muss noch eine Villa vor Weihnachten fertig renoviert sein.
In ein capresisches Haus eingeladen zu werden, ist etwas Besonderes – auch nach den fast zwanzig Jahren, in denen ich nun hier wohne. Nach Hause, ins Wohnzimmer, laden Einheimische fast nur Verwandte ein.
Und Verwandte hat ein Insulaner, wie in einem Bergdorf, meist viele, zumindest weitläufig Verwandte. Würde, nur mal angenommen, ein Staiano eine aus dem Clan der Lembo heiraten oder eine Starita einen Gargiulo, dann müsste sich das jeweilige Brautpaar auf mehrere hundert Gäste einstellen.
Mein Weg führt mich heute Abend hinauf Richtung Tiberio, in eine historische Villa, deren Namen den Vorsatz «casa» hat, Haus. So wie die nach dem Schriftsteller benannte legendäre Casa Malaparte, die das ganze Jahr von Architekturliebhabern aus aller Welt belagert wird. Oder die Casa Solitaria, die gerade für einen höheren Millionenbetrag den Besitzer gewechselt hat.
Heizen ist ein hitziges Thema
Mein Gastgeber empfängt mich im Sakko und mit offenen Armen. Er steht oben an der Treppe am Ende des capresischen Säulengangs, die riesigen Pinien des Parks schirmen den plötzlichen Nieselregen von oben ab. Der Wind hat nachgelassen, die Temperatur ist auf 11 Grad gesunken.
In dem alten Gemäuer mit den Terrakottafliesen ist es feuchtklamm, aber wir sitzen ja gleich vor dem gemauerten Kamin. Der Hausherr legt ein trockenes Stück Holz nach, das Feuer lodert auf, und ich denke an Rilke. Der Dichter war im Dezember 1907 in der capresischen Villa Discopoli zu Gast bei einer deutschen Gräfin. In seinen Briefen hatte er mehrmals betont, wie sehr er sich auf der kalten Insel doch auf ein wärmendes Kaminfeuer am Abend freute.
Heizen ist auf Capri heute wie damals ein hitziges Thema. Mit Strom heizen ist kostspielig, weil auf der Insel der Strom um ein Vielfaches teurer ist. Er kommt vom Festland über ein Seekabel. Gas gibt es nur aus Flaschen, Öl kann sich nur leisten, wer Platz für einen Tank hat. Und einen richtigen Kamin haben eigentlich nur diejenigen, die, wie der Hausherr dieser «casa», über einen kleinen Wald verfügen.
Mein Gastgeber Giangiuliano ist ein Wahlcaprese. Er lebt eigentlich in Rom, aber er liebt Capri. Unsere Liebe zu Capri im Winter verbindet uns. Seine römischen Eltern haben ihm als Kind traumhaft schöne Sommererinnerungen geschenkt; um sie zu bewahren, überlässt er seine schmucke Villa seit vielen Jahren zwischen Mai und September wohlhabenden Amerikanern, wenn auf der Insel die Nächte ebenso schwül wie laut sind und das Caprifieber rund um die Uhr wütet.
Dann unternimmt Giangiuliano die Reisen, von denen er mir heute Abend bei einem Glas Martini erzählt.
Seine Torta caprese ist die Beste, die ich kenne, er bereitet sie zu nach einem alten Rezept seiner längst verstorbenen capresischen Haushälterin, eine Variante der gefeierten Mandel-Schoko-Kuchen-Version, auch sie mit Mandeln anstatt der Schokolade, mit sonnengereiften Zitronen, vom Baum hinter seinem Haus.
Der Fischer gibt die Wetterprognosen
Am nächsten Morgen fahren die Schiffe wieder, wenn auch nur die langsamen Fähren. Drei Tage ohne Verbindung zum Festland, das war die längste Zeitspanne, an die ich mich erinnern kann. Im Februar vor dem Covid-Jahr, damals hatte auch ich einen Flug verpasst.
Für die Insulaner haben die Wetterbedingungen eine andere Bedeutung als für Neapolitaner und andere Grossstädter. Wer am kommenden Tag einen Flug, einen OP- oder Gerichtstermin oder andere wichtige Verabredungen auf dem Festland hat, schläft schlecht und studiert Wettervorhersagen wie Aktienbesitzer die Börsennachrichten. Oder er fragt einen Fischer. Weil immer ein Quentchen Unsicherheit bleibt, setzen manche Capresen schon zwei Tage vor wichtigen Festland-Terminen über.
Das Meer sieht heute irgendwie unschuldig aus, stahlblau und glatt wie ein Bergsee, als habe es kein Gestern gegeben.
Die Caprisonne blitzt heute nur ab und zu hervor aus einer tiefdunklen Wolkendecke. Gelegentlich aber, zwischendrin und wirklich nur für einen Augenblick, erzeugt sie ganz grosse Momente. Weil mein Hund an der Leine zieht, bin ich nicht schnell genug, sie für meine Freunde im Norden zu fotografieren.
Der Gärtner Tonino schneidet heute Oleander in der Via Sopramonte, beim Vorbeigehen haben wir uns begrüsst.
Kurz darauf habe ich die oberste Terrasse der Giardini di Augusto wieder für mich allein. Beim Blick über Marina Piccola auf den klaren Horizont lasse ich die Gedanken fliegen.
Was wäre, wenn genau in diesem Moment alle Inselliebhaber aus aller Welt, die gerade von Capri träumen, durch ein Wunder auch physisch präsent sein könnten?
Die Insel würde wohl im Meer versinken.