Sonntag, September 8

Der internationale Leichtathletik-Verband will die Sportart reformieren und für ein modernes Sportpublikum attraktiver machen. Die neuste Idee im Weitsprung geht vielen Athletinnen und Athleten aber zu weit.

Ein zwanzig Zentimeter breites Stück Holz macht aus dem Weitsprung ein Nervenspiel. Wer gewinnen will, muss nicht nur weit springen, sondern den Absprungbalken richtig treffen. Sonst ist der Versuch ungültig.

Simon Ehammer, mit 8 Meter 45 der Schweizer Rekordhalter in dieser Disziplin, war schon Leidtragender dieses verflixten Stücks Holz. Im WM-Final im letzten Jahr in Budapest sprang Ehammer im zweiten Versuch weit über 8 Meter, das hätte ihn in die Nähe der Medaillen gebracht. Doch Ehammer hatte um Haaresbreite übertreten und wurde Neunter. Ein ähnliches Malheur passierte ihm im März 2023 an den Hallen-EM im Siebenkampf. Der Favorit Ehammer brachte ausgerechnet in seiner Paradedisziplin Weitsprung keinen gültigen Versuch zustande – und verpasste die angestrebte Medaille.

Ehammer wurde in Budapest zum Verhängnis, dass seit vergangenem Jahr der Übertritt nicht mehr aufgrund eines Abdrucks auf einem Plastilin-Streifen ermittelt wird, sondern mit einer Kamera. Mit der früheren Messmethode wäre sein Versuch gültig gewesen. Der mittlerweile 24-jährige Appenzeller ärgerte sich an den WM fürchterlich und sagte: «Es ist ein ‹Seich›. Wenn ich auf das Resultatblatt schaue, dann ist das nicht würdig für das, was ich draufhabe.»

Der Weltverbandspräsident Sebastian Coe sagte am Rande der WM 2023, die Leichtathletik sei viel zu konservativ

Dramen wie jenes von Ehammer könnten bald passé sein. Jonathan Ridgeon, der CEO des Weltverbands World Athletics, sagte im Podcast «Everything but Footy», man überlege sich, den Balken abzuschaffen und durch eine Absprungzone zu ersetzen. Das käme einer Revolution der Sportart gleich. «Fast jeder Sprung würde zählen. Wir prüfen auch neue Messmethoden, damit das Resultat sofort feststeht», sagte Ridgeon. World Athletics testet die Absprungzone vorerst während eines Jahres mit verschiedenen Athletinnen und Athleten. Das geschehe in «starken Trainingsgruppen», sagte Ridgeon.

Der Weltverband sucht schon seit Jahren Möglichkeiten, Wettkämpfe zu verkürzen und seine Sportart für das Publikum attraktiver zu machen. An den WM in Budapest war im Weitsprung fast ein Drittel der Versuche ungültig. Bis das Resultat eines Sprungs feststand, vergingen manchmal dreissig Sekunden – zu viel für ein modernes, ungeduldiges Sportpublikum. Ridgeon sagte, er verspreche sich von der Änderung «dramatischere Wettkämpfe».

Ähnlich klang der Weltverbandspräsident Sebastian Coe am Rande der WM 2023. Er sagte, die Leichtathletik sei viel zu konservativ und müsse «fit gemacht werden für die nächsten dreissig oder vierzig Jahre». Tagelange Events wie WM oder EM passten nicht mehr in die Lebensweise eines modernen Publikums.

Jüngere Zuschauerinnen und Zuschauer will World Athletics obendrein mit einer Netflix-Dokumentation anlocken, bei den Dreharbeiten wurden Athletinnen und Athleten während der WM 2023 begleitet. Solche Serien gab es schon mit «Drive to survive» in der Formel 1 und mit «Unchained» über die Tour de France – sie brachten den jeweiligen Sportarten ein breiteres Publikum.

Änderungen in der Diamond League führten zu Protesten und einem Rückzieher

Eine Netflix-Serie ist schön und gut, wird aber nicht reichen. Das weiss auch Coe. Er sagte: «Wir brauchen spannendere und unterhaltsamere Wettbewerbe, damit unsere Sportart ihre Bedeutung nicht verliert.» Und stellte «signifikante Änderungen» in Aussicht.

Mit Reformen ist World Athletics auch schon gescheitert. 2020 wollte der Verband das Programm der Diamond-League-Meetings entschlacken und strich langfädige Wettkämpfe wie Diskus, 3000 Meter Steeple oder 5000 Meter. Die Athletinnen und Athleten protestierten; der Verband machte einen Rückzieher und nahm die Disziplinen zurück ins Programm.

Auch aus dem Weitsprung kommt nun Kritik. Sie kommt unter anderem von Carl Lewis, der einstigen Lichtgestalt der Leichtathletik. Lewis, 63 Jahre alt, gewann 1984, 1988, 1992 und 1996 olympisches Gold im Weitsprung. Hinzu kamen fünf Olympiasiege im Sprint.

Lewis schrieb in den sozialen Netzwerken zur Prüfung der Abschaffung des Absprungbalkens: «Man sollte bis zum 1. April warten mit Aprilscherzen.» Der Weitsprung sei die schwierigste Sparte der Leichtathletik, doch schaffe man den Balken ab, «entfernt man das anspruchsvollste Element». Und Ivana Spanovic, die letztjährige Weltmeisterin aus Serbien, sagte der BBC: «Die Funktionäre, die diese Änderungen planen, haben zu wenig Kontakt mit dem Weitsprung. Sie ignorieren die Meinung von uns Athletinnen.»

Der World-Athletics-CEO Ridgeon sagte zur Kritik: «Wir wollen eine Sportart reformieren, die seit fast 150 Jahren gleich ausgetragen wird. Wir wissen, dass das nicht ohne Kontroversen geschehen wird.» Der Weitsprung war schon an den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 in Athen im Programm – der spätere Sieger war mit zwei Übertritten in den Wettkampf gestartet.

Für Ehammer gehen die Änderungen zu weit

Der Schweizer Rekordhalter Ehammer ist ebenfalls skeptisch; auch wenn ihn der Balken 2023 vielleicht zwei Medaillen an Grossanlässen gekostet hat. «Es braucht Änderungen, aber den Balken abzuschaffen, geht in die falsche Richtung», sagt er. Ehammer wünscht sich eine klarere Definition, wie gemessen wird. «Wird beim ersten Bodenkontakt des Fusses gemessen, oder zählt der Moment des Abstossens? Das muss man klären», sagt er. Mit der Abschaffung des Balkens würde dem Weitsprung ein zentrales technisches Element genommen.

Ehammer ist kein Leisetreter. Er ist bekannt dafür, dass er seine Ziele offensiv formuliert – mögen sie noch so ambitioniert sein. 2022 sagte er der NZZ: «Ich will Olympiagold und der erste Mensch werden, der über 9 Meter springt.» Der Weltrekord im Weitsprung liegt bei 8 Meter 95, aufgestellt an den WM 1991 in Tokio vom Amerikaner Mike Powell. Diese Bestmarke würde bei der Abschaffung des Balkens eingefroren und als «ewiger Rekord» in die Sporthistorie eingehen.

Ehammer sagt, es sei schwierig zu beurteilen, wie weite Sprünge eine Absprungzone zulassen würde. Das hänge von der Unterlage ab. «Der Balken federt immer ein bisschen. Springen wir in Zukunft von der Tartanbahn ab, werden wir wohl keine Sprünge über 8 Meter 60 mehr sehen», sagt er. Sei die Unterlage der Absprungzone hingegen ähnlich beschaffen wie der Balken, würden wohl wieder die magischen 9 Meter in Reichweite rücken – erstmals seit dem WM-Final 1991 und dem epischen Duell zwischen Lewis und Powell.

Ehammers Fazit ist klar: «Der Balken muss bleiben.» Die Enttäuschung nach den verpatzten Weitsprung-Wettkämpfen an den Hallen-EM und den WM in Budapest sei nach wenigen Wochen verflogen gewesen. «Und mein Absprung wird jeweils während einer Saison immer sicherer. Da hilft nur üben, üben und noch einmal üben.»

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