Der Choreograf Filipe Portugal bringt die Tänzerin Giulia Tonelli zurück auf die Bühne – Zürichs Publikumsliebling ist durch den Film «Becoming Giulia» international bekannt geworden. In der neuen Ballettfassung von Bizets «Carmen» hat sie nur einen ernstzunehmenden Gegner.

Die Frau ist Spitze. Sie trägt Spitzenunterwäsche unter ihrem Nichts von einem Kleid, und sie trägt Spitzenschuhe, in denen sie sich über alle und alles erhebt: über die Tabakarbeiterinnen in der Fabrik, die lüsternen Männer auf der Strasse, Don José und die Moral. Da kann der kleine Sergeant Don José noch so rasend klacken in seinen Flamenco-Schuhen, sie hebt sich auf Spitze – und in die Spitzenklasse.

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Darin liegt durchaus eine Schwierigkeit bei dieser neuen Ballettversion der «Carmen», geschaffen von dem in Zürich lebenden Choreografen Filipe Portugal, die noch bis zum 15. Juni in der Klosterkirche Königsfelden in Windisch aufgeführt wird: Giulia Tonelli ist als Carmen so stark, dass sie die andern Tänzerinnen zu übertanzen droht. Nicht aber ihn, David Coria als Don José.

Die Stärke des spanischen Flamencotänzers liegt jedoch gerade in der glaubwürdig verkörperten Schwäche – sein Don José ist ein gebrochener Mann, von Anfang an. Ein hoffnungslos Begehrender, zerfressen von Eifersucht, ein Ausgebremster und Aussenseiter. Doch wie er dieses Begehren tanzt: Lang reckt er sich in alle Richtungen, dreht seine Glieder, als müsste er sich mit ihnen umgeben, sehnt sich ins Unendliche, bis weit, weit in den Kirchenraum hinein. Grossartig.

Musikalisch durchgeformt

David Corias Flamenco-Schritte, die nur in Andeutung sprechen, nehmen den Faden auf, der von Brigitta Luisa Merki in der Klosterkirche Königsfelden seit 2007 gespannt worden ist. Damals begann die Aargauer Choreografin mit ihrer Tanzkompanie «Flamencos en route» den Resonanzraum der Kirche zu erkunden und gründete die Plattform Tanz und Kunst Königsfelden. Was als Pilotprojekt begann, wurde 2012 zum kulturellen Leuchtturm des Kantons Aargau ernannt, mit zweijährlich stattfindenden Festspielen, die bildende Kunst, Tanz und Musik verbinden, und mit pädagogischen Projekten.

Im vergangenen Jahr übergab Brigitta Luisa Merki die künstlerische Leitung von Tanz und Kunst Königsfelden an den portugiesischen Choreografen und ehemaligen Ersten Solisten des Balletts Zürich, Filipe Portugal. Er hatte bereits 2023 den wunderschönen Fado-Abend «Heimlich seufzen die Winde» geschaffen, ein kraftvolles und gleichzeitig hoch musikalisch durchgeformtes Ballett.

Von exquisiter Feinheit ist nun auch die Musik dieser «Carmen»-Adaption, gespielt vom Ensemble Chaarts Chamber Artists. Der israelische Komponist Jonathan Keren hat dafür eine Partitur für Cello-Sextett und Perkussion geschaffen. Sie ist nicht nur inspiriert von Georges Bizets allbekannter Oper, sondern auf subtile Weise von deren Klängen und Melodien durchzogen und durchwoben. Wieder und wieder wird wie aus der Ferne die berühmte «Habanéra» angestimmt, um dann in trauriges Raunen zu gleiten. Die Melodien werden gespielt und getanzt, dann wieder nur angetönt und übertönt von Kerens eigenen Klängen. Passend dazu hat Antonia Businger auch die Szenerie in der Schwebe gelassen: vage Projektionen von Pflanzen auf einem Quader, vor dem geliebt und gestritten wird.

Ein beachtliches Comeback

Mit dieser «Carmen» bringt Filipe Portugal Giulia Tonelli zurück auf die Bühne. Das Leben des Zürcher Publikumslieblings als frischgebackene Mutter und Primaballerina wurde in dem Film «Becoming Giulia» von Laura Kaehr dokumentiert. Nach dem zweiten Kind musste Tonelli allerdings beim Opernhaus Zürich zu tanzen aufhören. Sie zeigt nun aber in Windisch, dass mit ihr in der Schweizer Tanzszene weiterhin zu rechnen ist.

Warum allerdings sollte sich die überaus selbstbewusste Carmen Tonellis ausgerechnet in die Torera von Clara Thierry verlieben? Die Rolle des Stierkämpfers Escamillo wird von Filipe Portugal tatsächlich mit einer Frau besetzt – als Verkörperung eines «Massenidols», als «berühmter Sänger, Fussballspieler oder Schauspieler», wie Portugal und sein Dramaturg Gregor Acuña-Pohl im Programmheft erläutern. Das liegt im Zeitgeist und mag inhaltlich sogar schlüssig sein: Der Möchtegern-Macho Don José rastet aus und sticht zu, gerade weil seine Angebetete mit einer Frau herummacht.

Doch diese Torera ist keine Madonna, auch keine Taylor Swift, sondern eher die nette Influencerin von nebenan, die für schillernde Kosmetik und Kleider wirbt. Die Idee lädt zum Nachdenken ein, aber das Material, Carmen das Wasser zu reichen, hat sie vom Choreografen nicht mit auf den Weg bekommen. Das tut der Message keinen grossen Abbruch, dem Ballett auch nicht. Femizid ist Femizid. Carmen wird erstochen, weil sie stark ist. Das ist die Botschaft, die – leider – bis heute ihre Aktualität behalten hat.

Windisch, Klosterkirche Königsfelden, bis 15. Juni. David Corias eigene Kompanie zeigt am 20. und 21. Juni ausserdem das Stück «Los bailes robados».

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