Montag, Oktober 7

Die Schweiz unterstützt die Friedensinitiative von Russland und China zum Ukraine-Krieg. Der Schweizer Aussenminister hat in der letzten Phase seiner Amtszeit offenbar beschlossen, wieder mehr auf sich selbst zu hören.

Die Schweiz war das einzige westliche Land, das am Rande der Uno-Generalversammlung in New York eine Einladung von China und Brasilien akzeptiert hatte. Es geht um einen Sechs-Punkte-Plan, dessen Ziel es ist, den Krieg entlang der aktuellen Frontlinie einzufrieren. Ziel: Beide Seiten sollen ihre Kriegshandlungen einstellen und sich an den Verhandlungstisch begeben.

«Inakzeptabel», schreibt das ukrainische Aussenministerium

In der Friedensinitiative fehlt allerdings ein Verweis auf die Uno-Charta, und die territoriale Integrität der Ukraine wird nicht ausdrücklich erwähnt. Russland hatte die Initiative begrüsst. Die Ukraine weist sie vehement zurück. Sie befürchtet, dass der Kreml die eroberten Gebiete schliesslich behalten wird und der russische Angriff auf die territoriale Unversehrtheit der Ukraine dadurch belohnt wird. «Alle Initiativen, die keinen eindeutigen Verweis auf die Uno-Charta enthalten und nicht die vollständige Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine garantieren, sind inakzeptabel», schrieb das ukrainische Aussenministerium in einem Kommentar, der vor allem an die Schweiz gerichtet war. Die Teilnahme der Schweiz sei «schwierig zu versehen».

Die ukrainische Kriegsdiplomatie ist bekannt dafür, harte Worte zu wählen, nicht aber gegenüber der Schweiz. Enttäuschung und Unverständnis – das sind potenzielle Beziehungskiller. Weshalb also nahm die Schweiz überhaupt an einem Treffen teil, zu dem die Ukraine nicht eingeladen war?

Kurze Rückblende: Es waren aufgewühlte Tage im Frühjahr 2022. Plötzlich herrschte wieder Krieg in Europa, ein brutaler, ein grosser, einer mit vielen Waffen und unzähligen Toten. Die seither viel bemühte Zeitenwende besteht rückblickend vor allem in der Rückbesinnung darauf, dass es dieses «Mittel» der Politik überhaupt noch gibt.

Auch die offizielle, friedliebende Schweiz wusste nicht, wie sie sich angesichts dieser rohen Gewalt verhalten soll. «Pass auf dich auf, mein Freund», sagte Ignazio Cassis wenige Wochen nach dem russischen Einmarsch zum ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski. Russlands Reaktion kam prompt: Ein Freund ihres Feindes gehört auf die Liste unfreundlicher Staaten.

Zwei Jahre später, im Juni dieses Jahres, organisierte die Schweiz den Friedensgipfel auf dem Bürgenstock. Die Aussenpolitik der Schweiz zeigt sich symbolisch in einem Bild von Bundespräsidentin Viola Amherd. Aus einer Reihe von Teilnehmern streckt sie lächelnd fragend den Kopf aus.

Grund für ihren Blick war der kanadische Premierminister Justin Trudeau, der «Slawa Ukraini!» in den Zentralschweizer Himmel rief. Der ukrainische Schlachtruf erschallte auf einer Friedenskonferenz, zu der die Gegenseite erst gar nicht eingeladen war. Cassis, der zwischen Trudeau und Selenski stand, lachte leicht verdattert.

Heute ruft Kiew Bundesbern auf, sich nicht an den Friedensplänen von China und Brasilien zu beteiligen. Es ist ein Appell an Cassis, unter den bisherigen Bedingungen doch noch Freunde zu bleiben. Doch der Aussenminister will offenbar über die ukrainische Friedensformel, auf der die Bürgenstock-Initiative aufgebaut war, hinausdenken.

So richtig im Detail abgesprochen mit seinen Bundesratskollegen war das wohl nicht. Hat Cassis also beschlossen, in der letzten Phase seiner Amtszeit mehr auf sich selbst zu hören? Er hätte die Russen gerne dabei gehabt auf dem Bürgenstock. Cassis will, dass es endlich vorwärtsgeht mit den Bemühungen um einen Frieden zwischen Russland und der Ukraine. Sein Vermächtnis als Bundesrat soll dereinst sein, einen Beitrag für konkrete Friedensmassnahmen geleistet zu haben – wohl wissend, dass der Einfluss der Schweiz bescheiden bleibt. Doch der Tessiner hat einen Vorteil: Er versteht sich nicht nur mit Selenski gut, sondern auch mit Sergei Lawrow, dem russischen Aussenminister.

Dieser hatte sich zwar umgehend darüber lustig gemacht, dass die Schweiz am Sechs-Punkte-Plan der Chinesen Interesse zeigte. Aber eine Erwähnung der Russen ist auch ein Indiz dafür, dass die Schweiz noch als potenzielle Vermittlerin ernst genommen wird. Von beiden Kriegsparteien kritisiert zu werden, erhöht die neutralitätspolitische Glaubwürdigkeit.

Gespräche mit China und Brasilien «von Interesse»

Cassis sieht das offensichtlich auch so, denn er liess nach kritischen Medienmeldungen über sein Interesse an der Initiative der Chinesen seine Absichten nicht etwa relativieren, sondern bekräftigen. Die konkreten diplomatischen Anstrengungen, die von der Gruppe rund um China und Brasilien ausgingen, könnten «für uns von Interesse sein», liess Nicolas Bideau, Cassis’ Sprecher, über die internationalen Agenturen vermelden.

Wenige Tage danach war Bideau noch einmal gefragt: Als am Donnerstag durchsickerte, dass die EU-Kommission der Schweiz im Rahmen des geplanten institutionellen Abkommens keine einseitige Ventilklausel zum Schutz vor zu starker Einwanderung gewähren wollte, reagierte Cassis’ Aussendepartement so gelassen wie noch nie. «Auch wir würden gerne so schnell wie möglich fertig werden», sagte Bideau zu Radio SRF, aber was zähle, sei die Qualität der Verhandlung. «Wenn wir das Gefühl haben, dass die Ziele des Bundesrats erreicht wurden, dann werden wir die Verhandlungen abschliessen. Das ist die Deadline.»

Die neue Selbstbestimmtheit ist offensichtlich Absicht.

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