Netzwerke aus der Zeit des Kommunismus haben immer noch grossen Einfluss, schreibt der Historiker Hubertus Knabe. Auch weil eine Bewältigung der Vergangenheit ausblieb, drohe die Macht nun an einen prorussischen Extremisten zu gehen.
«Ziehen Sie sich warm an», hatte die Mitarbeiterin der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bukarest vorsorglich geschrieben, die den Besuch im rumänischen Geheimdienstarchiv arrangiert hatte. Und tatsächlich: Wenn man nach langer Fahrt durch trostlose Vororte das ehemalige Militärgelände am Rande von Bukarest erreicht hat, steht man in einer riesigen Halle, in der kaum mehr als zehn Grad herrschen.
Hier, wo früher Armeefahrzeuge standen, liegt heute das, was von der kommunistischen Geheimpolizei Rumäniens übriggeblieben ist: 2,3 Millionen überwiegend handgeschriebene Akten, teils in Bündeln verschnürt, teils in Boxen verpackt – ein gigantisches Archiv staatlicher Überwachung.
Die frostige Atmosphäre passt zur Stimmung in Rumänien, das seit 2004 zur Nato und seit 2007 zur EU gehört. Eine funktionsfähige, transparente Demokratie hat das Land bis heute nicht entwickelt. Wer etwas werden will, braucht Verbindungen und Protektion. Daran hat auch der einstige Hoffnungsträger Klaus Johannis nichts geändert, der vor seiner Wahl zum Präsidenten versprochen hatte, mit Korruption und Vetternwirtschaft aufzuräumen.
Am 8. Dezember wird sein Nachfolger gewählt, wobei erstmals ein prorussischer Rechtsextremist in die Stichwahl gelangt ist. Sollte dieser gewinnen, würde ein Nato-Gegner Oberbefehlshaber von Rumänien, das wegen seiner langen Grenze zur Ukraine im Konflikt mit Russland eine Schlüsselrolle spielt.
Ceaușescus alte Netzwerke
Der Rechtsruck, der sich am Sonntag bei den Parlamentswahlen fortsetzte, hat viel mit der Vergangenheit zu tun: Rumänien ist das einzige Land im ehemaligen Ostblock, in dem die kommunistische Nomenklatura nie wirksam entmachtet wurde. Die Netzwerke aus der Ära des Diktators Nicolae Ceaușescu blieben mehr oder weniger erhalten, wobei die politische Macht vielfach in wirtschaftliche transformiert wurde.
Denn als es im Dezember 1989 zu Massenprotesten gegen den «Conducător», wie sich Ceaușescu nennen liess, kam, gründete der ehemalige Spitzenfunktionär Ion Iliescu kurzerhand eine neue Partei – die bald darauf die Macht übernahm. Ungeachtet aller späteren Umbenennungen, Spaltungen und Fusionen blieb sie ein machtvolles Sammelbecken der Funktionäre, die den Übergang zur Demokratie in ihrem Sinne gestalteten. «Die zweite Ebene der kommunistischen Führung», so brachte es die Politikwissenschafterin Lavinia Stan auf den Punkt, «ersetzte die erste Ebene.»
In den ersten zwei Jahrzehnten nach Ceaușescus Sturz kamen drei Präsidenten und sieben Ministerpräsidenten aus dem kommunistischen Funktionärsapparat. Derzeit stellt Iliescus Partei, die sich fälschlicherweise sozialdemokratisch nennt, mit Marcel Ciolacu den Regierungschef. Ciolacu wollte eigentlich auch Staatspräsident werden, doch wurden er und seine Partei bei den jüngsten Wahlen in Rumänien deutlich abgestraft.
Unter Iliescu, der zweimal das Präsidentenamt bekleidete, konnte sich auch die Securitate unbehelligt in die neue Zeit retten. Die allmächtige Geheimpolizei, die mit schätzungsweise 40 000 offiziellen und über 400 000 inoffiziellen Mitarbeitern das Land wie ein Krebsgeschwür durchzog, wurde lediglich aufgeteilt.
Der übergelaufene Generalleutnant Ion Mihai Pacepa dokumentierte 1993 in einem Buch die personelle Kontinuität. Nato-Generalsekretär Manfred Wörner weigerte sich 1992 sogar, Rumänien zu besuchen, weil ein früherer Topagent den Spionagedienst leitete. Noch bis 2018 war ein von der Securitate ausgebildeter Offizier Vizechef des Auslandsnachrichtendienstes, der auch bei den gegenwärtigen Präsidentschaftswahlen kandidierte.
Proteste wurden niedergeknüppelt
Diejenigen, die den Einfluss der alten Kader zurückdrängen wollten, kämpften dagegen meistens auf verlorenem Posten. Im März 1990 verlangten Oppositionelle zwar in einer «Proklamation von Timișoara», dass Parteifunktionäre und Offiziere der Geheimpolizei drei Legislaturperioden lang keine politischen Funktionen übernehmen dürften. Doch zwei Monate später wurde Iliescu von 85 Prozent der Wähler zum Staatspräsidenten gewählt. Proteste auf dem Bukarester Universitätsplatz liess er anschliessend durch Sicherheitskräfte und herbeigerufene Bergarbeiter niederknüppeln.
Erst 1999 verabschiedete Rumänien ein Gesetz, das die Akten der Securitate öffnen sollte – als letzter Beitrittskandidat der EU. Doch da es die Nachfolgedienste nicht verpflichtete, ihre alten Unterlagen dem neuen Nationalen Rat für das Studium der Archive der Securitate (CNSAS) zu übergeben, stand dieser mit leeren Händen da.
Auf Anweisung von Staatspräsident Traian Băsescu musste der Inlandsgeheimdienst dann 2005 rund 1,6 Millionen Securitate-Akten aushändigen. Mit Lastwagen lieferte er sie ungeordnet und ohne Register, so dass die Papiere in mühevoller Arbeit neu erfasst werden mussten. Erst vor zweieinhalb Jahren übergab der Dienst auch die Verzeichnisse des ehemaligen Zentrums für Information und Dokumentation. Die Akten des Auslandsnachrichtendienstes hat der Rat dagegen bis heute nicht bekommen, während die Dossiers von Informanten, die der Partei beigetreten waren und später Karriere machten, bereits von der Securitate vernichtet wurden.
Die Akte von Herta Müller
Laut Gesetz hat jeder Bürger das Recht, die über ihn geführte Akte zu sehen. Doch nicht jeder wird darin fündig. Über die rumäniendeutsche Schriftstellerin Herta Müller hinterliess die Securitate zwar einen 914 Seiten umfassenden Vorgang «Cristina». Doch dass ihre Wohnung in Temeswar abgehört wurde, erfuhr sie erst aus der Akte ihres damaligen Mannes.
Kein Wort stand in dem Dossier zudem über den Dichter Roland Kirsch, der sie regelmässig besuchte und später erhängt im Badezimmer seiner Wohnung aufgefunden wurde. Obwohl die Securitate in Deutschland eine Rufmordkampagne gegen sie organisierte, gibt es im CNSAS-Archiv auch keine Akte der Spionageabteilung über die spätere Literaturnobelpreisträgerin.
Durch das Gesetz sollten eigentlich auch die geheimen Netzwerke in Politik und Wirtschaft freigelegt werden. Jeder Bürger hat deshalb Anspruch darauf, zu erfahren, ob Politiker, Kandidaten bei Wahlen, Richter, Staatsanwälte und höhere Verwaltungsbeamte früher für die Securitate arbeiteten. Diese müssen ihrerseits erklären, dass sie nicht in die Aktivitäten der Geheimpolizei involviert waren.
Die Regelung erwies sich indes als wenig wirksam. Denn erst 2006 bekam der Rat den Auftrag, die Selbstauskünfte anhand der Akten zu überprüfen. Weil ein Ex-Informant dagegen klagte, erklärte das rumänische Verfassungsgericht die Regelung bald für verfassungswidrig. Seit 2008 darf deshalb nur noch das Bukarester Berufungsgericht entscheiden, ob jemand Mitarbeiter oder Informant der Securitate war. Den Agenten muss dabei nachgewiesen werden, dass sie die Grundrechte anderer Personen verletzt und antikommunistische Haltungen angeprangert haben.
Der Präsident war ein Spitzel
Immerhin liegt mittlerweile zu mehr als 2700 Personen ein derartiges Urteil vor. Doch Konsequenzen hatte dies in der Regel nicht. Der prominenteste Fall war der von Präsident Băsescu, dessen Spitzeltätigkeit das Berufungsgericht erst 2022 bestätigte, als er seit acht Jahren nicht mehr im Amt war. Obwohl er unter dem Decknamen «Petrov» handschriftliche Berichte verfasst hatte, hatte er in vier eidesstattlichen Erklärungen das Gegenteil versichert.
Ans Tageslicht gebracht hatte den Fall Germina Nagâț, die früher die Ermittlungsabteilung leitete und heute Mitglied des Rates ist. Im Gespräch bezweifelt die 57-Jährige, dass die politische Klasse in Rumänien jemals den Wunsch hatte, die Verstrickungen wirklich aufzuklären. «Wir erinnern uns nur dann an die Securitate, wenn wir gegen unsere gegenwärtigen politischen Gegner kämpfen müssen», so bilanziert sie den Aufarbeitungsprozess.
Anfangs sei der Rat in einem Donut-Laden untergebracht worden, während die Akten jahrelang in einer Privatgarage gelagert hätten. Heute bekämen die 197 Mitarbeiter mindestens 30 Prozent weniger Gehalt als andere Staatsangestellte. Der dadurch verursachte Personalmangel führe zwangsläufig zu langen Bearbeitungszeiten. «Seid dankbar, dass wir euch nicht abgeschafft haben», so fasst sie die Haltung der Regierung zusammen.
Diese Einstellung zeigt sich auch noch auf anderem Gebiet: In Rumänien gibt es bis heute keine staatliche Gedenkstätte, die an die Zeit des Kommunismus erinnert. Nur der Schriftstellerin Ana Blandiana ist es zu verdanken, dass das Gefängnis in Sighet, in dem die frühere Elite Rumäniens zugrunde ging, inzwischen ein Museum ist. Finanziert und betrieben wird es von einer privaten Stiftung.
Tödliches Folterexperiment
Ähnliches gilt für das Gefängnis in Pitești. In Rumänien erlangte es schaurige Bekanntheit, weil sich die Inhaftierten, überwiegend Studenten, dort zu Beginn der 1950er Jahre gegenseitig foltern mussten. Auf diese Weise sollten sie zu «neuen Menschen» geformt werden. Dem Umerziehungsexperiment, das später auch auf andere Gefängnisse ausgedehnt wurde, waren mehrere tausend Häftlinge ausgesetzt, von denen fast einhundert ums Leben kamen.
Von dem Foltergefängnis sind heute nur noch Teile erhalten. Nach dem Ende des Ceaușescu-Regimes wurde der Komplex aufgeteilt, privatisiert und teilweise abgerissen. Erst 2023 wurden die Reste unter Denkmalschutz gestellt. Als Gedenkstätte dienen jedoch nur der Verwaltungstrakt und ein Zellenbau. Da die Heizung nicht mehr funktioniert, ist sie in den Wintermonaten geschlossen.
Auch jetzt ist es bitterkalt in dem Gebäude, von den Wänden bröckelt der Putz. Maria Axinte, die das Museum leitet, führt die Besucher durch düstere Zellen, in denen Informationstafeln hängen. Sie ist die Tochter eines lokalen Unternehmers und hat in England studiert. Die örtlichen Behörden, so berichtet sie, zeigten sich gänzlich desinteressiert. Auf die Frage, wie hoch ihr Jahresbudget sei, lacht sie nur und sagt: «Wir haben keins. Ich verwende das Geld, das ich woanders verdiene.»
Hubertus Knabe ist Historiker und leitete während achtzehn Jahren die Gedenkstätte im ehemaligen Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen.