Der Fall um die Türken in Wil hielt Funktionäre, Politiker und Journalisten monatelang auf Trab. Erinnerungen an eine skurrile Geschichte aus dem kleinen Schweizer Fussball, der gerne gross träumt.
Der Tschetschene Bulat Tschagajew bei Xamax, der Franzose Marc Roger und der Iraner Majid Pishyar bei Servette: Immer wieder liessen sich Schweizer Fussballklubs auf windige ausländische Investoren ein, die später einen Scherbenhaufen hinterliessen.
Der FC Wil ist besonders erfahren mit solchen Geldgebern. 2003 übernahm der ehemalige sowjetische Nationalspieler Igor Belanow den Klub. Es kursiert die Anekdote, wonach Belanow einmal mit der Limousine auf den Trainingsplatz gefahren sei und alle Spieler zum Duschen geschickt habe – mit Ausnahme des Goalies. Der habe bleiben müssen, damit Belanow im Anzug Penaltys habe schiessen können.
Bald merkten sie im FC Wil, dass Belanow nur Unruhe und kaum Geld bringt. 2004 stieg der Klub in die zweitklassige Challenge League ab. Dorthin, wo er auch zehn Jahre später noch spielte. Damals, als die verrückteste aller Investorengeschichten ihren Anfang nahm.
Denn plötzlich spielten ehemalige brasilianische und türkische Nationalspieler in der Kleinstadt Wil, kollidierte Geopolitik mit Gemeindevorschriften, lautete das Ziel: Champions League statt Challenge League.
Die folgenden Schilderungen basieren auf Gesprächen mit mehr als zwanzig beteiligten Personen, unter ihnen der langjährige Vizepräsident, der türkische Sportchef und mehrere ehemalige Spieler.
Das Geld ist knapp
Am 6. Dezember 2014 klingelt das Handy von Roger Bigger. Er ist damals der Präsident im FC Wil. Am Telefon ist ein Vertreter des türkischen Milliardärs Mehmet Nazif Günal.
Günal ist mit seiner MNG Group im Fluggeschäft, im Strassenbau und im Tourismus tätig, er war beteiligt am Bau des grossen Istanbuler Flughafens. Nun ist er auf der Suche nach einem Fussballverein in der Schweiz.
Der FC Wil ist offen für Gespräche. Der erste Grund: Die finanziellen Bedingungen im Klub sind schwierig. Der FC Wil hatte mit sogenannten Third-Party-Ownerships gutes Geld verdient. Diese erlaubten es den Vereinen, Beteiligungen an Spielern zu halten, die andernorts unter Vertrag standen. Doch der Fussball-Weltverband verbietet das zu jener Zeit. Ausserdem trifft Anfang 2015 der Franken-Schock die lokalen Gewerbler, sie kürzen ihre Sponsoringausgaben.
Die Challenge League ist eine Liga, in der die Klubs mit dem lokalen Wurstverkäufer darüber verhandeln müssen, ob sie die Rechnung zwei Wochen später bezahlen dürfen.
Der zweite Grund heisst Roger Bigger. Der Präsident ist ein umtriebiger Unternehmer, der in der Immobilien- und der Finanzbranche tätig ist. Früher hat Bigger seinen Bruder beim Verkauf von Pommes-Automaten unterstützt. Die Idee floppte, aber das Visionäre ist Bigger erhalten geblieben. «Als Unternehmer musst du visionär sein, sonst musst du am Morgen gar nicht aufstehen», sagt er.
Biggers Vision mit Günal: finanzielle Sicherheit und der Aufstieg in die erstklassige Super League. Dream Bigger.
Träumen von Real Madrid
Im Frühjahr 2015 fliegt Günal in die Schweiz, um mit dem FC Wil über die Übernahme zu verhandeln. Bigger fährt zum Flughafen Zürich, um Günal abzuholen. Dieser kommt mit einer «Riesenmaschine», laut Bigger. «Das war irgendetwas zwischen einem normalen Privatjet und einem A320.»
Die Gespräche finden im Wiler Bergholz-Stadion statt. Die türkische Delegation findet, in der Schweiz sei es mit ihren lediglich zwanzig Profiklubs vergleichsweise leicht, den lukrativen internationalen Wettbewerb zu erreichen. Die Türken sprechen von Spielen gegen Fenerbahce Istanbul und Real Madrid. The biggest dream.
Doch Bigger ist vorbelastet. Er war schon Präsident im FC Wil, als der eingangs erwähnte Belanow den Klub übernommen hatte. Bigger lässt Günal durchleuchten, involviert sind die renommierten Zürcher Homburger-Anwälte. «Wir haben uns schon schlaugemacht, mit wem wir eine Ehe eingehen», sagt Bigger heute. «Die Anwälte haben sie genau gleich eingeschätzt wie wir: sehr westlich. Das waren nicht irgendwelche Chinesen oder weiss der Gugger. Keine Kultur, in denen sie dir A sagen und B denken.»
Bigger hat die Eigenart, den manchmal sehr PR-konformen Fussball in einfachen und ehrlichen Worten zu beschreiben. Er ist sprachlich eher beim Feierabendbier als beim Meeting. Bigger ist einer, der sich nicht verbiegen lässt.
Im Frühsommer 2015 ist die Übernahme Tatsache. 78 Prozent der Aktien häufen die Türken alles in allem an. Medien berichten von einem Kaufpreis von schätzungsweise 7 Millionen Franken.
Über 50 000 Franken Monatslohn
Mit der Ankunft der Türken verändert sich der Alltag im Klub. Daniela Grella leitet die Geschäftsstelle, sie sagt: «Innerhalb von vier Wochen wurde ich zur Vorzimmerdame degradiert.» Sie darf nur noch die Kaffeemaschine bedienen und Verträge tippen, die ihr der Sportchef Abdullah Cila diktiert. Einmal meint Grella, Cila falsch verstanden zu haben, so hoch ist der Monatslohn eines Spielers, den er nennt. Also lässt sie die letzte Null weg. «Dann sagte Cila, ich könne hinten noch eine Null anfügen.»
Der Lohn der bisherigen Spieler erhöht sich um das Anderthalb- bis Zweifache. Der FC Wil verpflichtet einstige Spitzenspieler. André Santos etwa, der im brasilianischen Nationalteam an der Seite von Neymar gespielt hatte. Oder Egemen Korkmaz, der vom türkischen Topklub Fenerbahce nach Wil wechselt.
Der durchschnittliche Monatslohn vor der Ankunft der Türken betrug etwa 4000 Franken. Jetzt verdienen einzelne Spieler rund 50 000 Franken.
Mitte Juli 2015 lädt der Klub zur Spielerpräsentation ins Bergholz-Stadion. 500 Sympathisanten und Neugierige kommen. Sie hören, wie Bigger von einer «neuen Ära» spricht. Wil habe nicht mehr die Ambition, nur im Mittelfeld der Challenge League herumzudümpeln, ruft er ins Mikrofon. Am gleichen Abend geben die Türken die Qualifikation für den internationalen Wettbewerb als Ziel aus.
Die Medien sind skeptisch. «Argwohn im Fürstenland», heisst es in der NZZ. Der «Blick» spottet über den «Fütbül Clüb Wil».
Die Wiler Fans sind wohlwollender. Im neuen Stadion-Song rappen die Silo-Boys: «Jetzt wird Wil wieder zu einer Grossmacht gross gemacht.»
Den kleinen FC Wil umgibt eine eigenartige Sehnsucht nach Grösse. Um die Jahrtausendwende betrog der damalige Präsident und ranghohe St. Galler UBS-Mitarbeiter Andreas Hafen seine Bank um 48 Millionen Franken, rund 10 davon steckte er in den FC Wil. Kurz darauf folgte Belanow, jetzt Günal. Warum dieses ständige Träumen?
Ein Mitglied der Silo-Boys führt es auf einen «Minderwertigkeitskomplex» zurück, weil der FC Wil immer als «kleiner Bruder des FC St. Gallen» gesehen werde, des grössten Sportvereins in der Ostschweiz.
Machtkampf auf der Geschäftsstelle
Im Sommer 2015 macht der FC Wil erste Schritte in Richtung Grossmacht. Aus den ersten drei Saisonspielen resultieren zwei Siege und ein Remis. Das erste Heimspiel besuchen dank Gratistickets 3000 Zuschauer, was Stadionrekord bedeutet. In der Vorsaison kamen im Durchschnitt 1400.
Dann steht die erste Verwaltungsratssitzung an. Als Roger Bigger in den Raum kommt, findet er ein riesiges Buffet vor. Bigger hat die Sitzung vorbereitet, glaubt, es werde auch über Zahlen geredet. Doch einer der türkischen Verwaltungsräte sagt: «Drei Spiele, nur sieben Punkte. Wir müssen über den Trainer diskutieren.»
Aus der Sitzung wird ein Stammtisch. Es geht um vergebene Torchancen, die Aufstellungen. Es geht: nur um Sportliches. Bigger sagt: «Finanzen waren nie mehr ein Thema. Das Geld ist geflossen. Und die Türken haben viel Geld reingebuttert, wirklich viel Geld.»
Mehmet Nazif Günal überweist etwa eine Million Franken pro Monat nach Wil. Das Geld kommt immer pünktlich, die Türken scheinen es ernst zu meinen. Sie organisieren ein Catering für die Spieler, kaufen Brustgurte, um die Fitnesswerte zu messen. Im Stadion entsteht ein Fitnessraum – einem Gerücht nach, weil sich der Brasilianer André Santos geweigert haben soll, in einem öffentlichen Fitnesscenter zu trainieren.
Es kursieren einige solcher Geschichten. Eine andere geht so: Der Sportchef Abdullah Cila habe die Verhandlung mit einem Spieler abgebrochen, weil dieser zu wenig Lohn gefordert habe. Die Begründung: Wer unter 15 000 Franken im Monat verlange, könne unmöglich ein guter Spieler sein.
Mehrere Personen aus dem Umfeld des Klubs erzählen von einer Begegnung Cilas mit dem Ersatzgoalie im Treppenhaus des Stadions. Wie viel er verdiene, habe Cila gefragt. 4000 Franken, habe der Goalie gesagt. Und Cila habe geantwortet: «Du kannst das Doppelte haben.»
Zu Cila hat jeder im Klub eine Meinung. Manche halten ihn für «zwäg», andere für «kalt». Roger Bigger sagt: zuerst nichts. «Da gebe ich keine Auskunft.» Noch im selben Gespräch sagt er dann: «Dass das Projekt gescheitert ist, ist zu 99 Prozent seine Schuld. Vornedurch hat er einen auf Freund gemacht, hintendurch hat er dir das Messer in den Rücken gerammt.»
Der Investor Mehmet Nazif Günal ist nur selten in Wil. Er hat seinen Sohn Murathan Doruk auf Kosten Biggers als Präsidenten installiert. Doch Murathan Doruk Günal fliegt werktags in der Welt herum und sitzt an den Wochenenden übermüdet auf den leeren Challenge-League-Tribünen. Im Klub wird deshalb um die Rolle des Statthalters von Mehmet Nazif Günal gerungen.
Der zum Vizepräsidenten degradierte Roger Bigger sagt: «Ich hatte ein sehr gutes Verhältnis zu Günal, fast ein bisschen ein väterliches.»
Der damalige Verwaltungsrat Maurice Weber sagt: «Wenn Günal in die Schweiz kam, musste ich ihn sehr oft am Flughafen abholen, damit wir auf dem Weg nach Wil einige Sachen besprechen konnten.»
Der damalige Sportchef Abdullah Cila sagt: «Manche Herrschaften wollten mitreden, Entscheidungen treffen. Aber das ging nicht. Da war ein Investor, der die Aktien gekauft hatte.»
Ein bisschen wirkt es, als buhlten drei Kinder um die Gunst ihres Vaters. «Schau, Papi, meines ist viel schöner geworden!»
Entlassung wegen der Gülen-Bewegung
Die Investitionen von Papi scheinen sich zu lohnen. Der FC Wil schliesst die Hinrunde der Saison 2015/16 auf Rang zwei ab, sechs Punkte hinter dem einzigen Aufstiegsplatz, den Lausanne-Sport belegt.
Um in der Rückrunde Lausanne angreifen zu können, verpflichtet der FC Wil den Top-Torschützen der Waadtländer, Jocelyn Roux. Von den Ligakonkurrenten Aarau und Wohlen wechseln Marvin Spielmann und Dylan Stadelmann nach Wil. Cila sagt: «Mehmet Nazif Günal war sauer, dass ich Spielmanns Ablösesumme um 100 000 heruntergehandelt habe.» Günal habe eine schnelle Abwicklung des Transfers höher priorisiert als den Kaufpreis.
In der Winterpause fliegt die Mannschaft ins Trainingslager. Es geht in die Südtürkei. Aber nicht für anderthalb Wochen, wie es im Profifussball üblich ist, sondern für vier.
Eines Nachmittags habe es im Hotel an der Zimmertür geklopft, sagt Stadelmann. Abdullah Cila sei dagestanden und habe ihn gebeten, mitzukommen. Stadelmann erzählt, er sei zu einer Villa gefahren worden, die Mehmet Nazif Günal gehört haben soll, dort habe er eine Privataudienz erhalten. «Es gab überall Kellner in der Villa. Der Präsident wirkte wie ein König. Es war wie in einem Film.»
Stadelmann hat keine guten Erinnerungen an die Zeit in Wil. Einige Spieler hätten sich nicht einmal gegrüsst, wenn sie in die Kabine gekommen seien. Mit einzelnen habe er fast kein einziges Mal geredet. Das schlägt sich in den Resultaten nieder: Der Rückstand auf Lausanne vergrössert sich im Laufe der Rückrunde. Der FC Wil verpasst den Aufstieg.
Für die neue Saison nimmt der Klub den türkischen Trainer Ugur Tütüneker unter Vertrag. Die Mannschaft startet schlecht und scheitert in der ersten Cup-Runde an einem unterklassigen Gegner. Entlassen wird Tütüneker aber ausgerechnet nach dem ersten Saisonsieg. Bigger sagt: «Die Begründung war nicht, dass er im Cup verloren hat. Die Begründung war, er sei ein Gülen-Anhänger! Das muss man sich einmal vorstellen!»
Tatsächlich begründet der Klub den Entscheid damit, dass der türkische Staat einen Haftbefehl gegen Tütüneker erlassen habe. Die Türkei ist in Aufruhr, weil die sogenannte Gülen-Bewegung versucht hat, den Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu stürzen. Nachdem der Putsch gescheitert ist, werden viele Gülen-Anhänger gesucht. Die türkische Politik erreicht das Bergholz-Stadion.
Wenig Gegenliebe von der Stadt
Weitere kulturelle Unterschiede kommen zum Vorschein, Beispiel Arbeitsrecht: Der Sportchef Cila arbeitet monatelang ohne gültige Papiere. Erst im Sommer 2016 beantragt er eine Arbeitsbewilligung.
Oder Beispiel Stadion: Der Investor Günal will das Stadion ausbauen und tauglich für internationale Spiele machen. Dafür lässt er Architekten aus der Türkei einfliegen. Irgendwann entscheiden sich die Türken für ein 43 Millionen Franken teures Projekt mitsamt Parkhaus. Sie versprechen, die Kosten selbst zu tragen, und sind der Meinung, der Stadt damit ein Stadion und eine Parkgarage zu schenken. Aber die Freude bei der Stadt hält sich in Grenzen.
Auf Geheiss des Wiler Stadtparlaments setzt Susanne Hartmann, die damalige Stadtpräsidentin der CVP, eine Grundsatzabstimmung an. Im Sinne von: Will die Bevölkerung überhaupt, dass das Stadion ausgebaut wird?
Die türkischen und die Schweizer Funktionäre im Klub sind zerstritten, aber in der Kritik an Hartmann sind sie sich einig. Sie habe diverse Treffen mit dem Investor ausgeschlagen und den Umbau des Stadions verschleppt. Nur einmal habe sie sich eine halbe Stunde Zeit für einen Kaffee mit Günal genommen. Zu hören ist, Hartmann sei im Fussball ohnehin schon vergeben. Sie sei Fan des FC St. Gallen.
Hartmann ist heute Regierungsrätin des Kantons St. Gallen. Sie möchte nicht mehr über die damalige Zeit reden – und verweist auf ihren Nachfolger im Stadtpräsidium, Hans Mäder.
Mäder ist während der türkischen Ära im FC Wil Gemeindepräsident der Thurgauer Gemeinde Eschlikon. Dort will der Klub ein Trainingscenter inklusive Teamhotel für über 30 Millionen Franken bauen. Günal bittet auch Mäder um ein Gespräch. Anders als Hartmann kommt er der Bitte nach.
Mäder versteht sich gut mit Günal, der eigens für das Treffen in die Schweiz geflogen ist. Er habe ein gutes Gefühl gehabt, sagt Mäder, der «Case» habe gestimmt. «Ich verstand Günal auch als Geschäftsmann, diese Idee, sich diversifizieren zu wollen. Wenn man in der Türkei ist, ist man abhängig von einer Person.»
Im Herbst 2016 kommt das Projekt in eine Versammlung der Bürgergemeinde Wallenwil, der das Land gehört. Die gut zwanzig Bürger stimmen dem Verkauf zu, die Verträge für die Trainingsanlage sind schon ausgearbeitet.
SMS-Nachricht mit der Aufstellung
Zur selben Zeit wird Martin Rueda Trainer des FC Wil. Ein bekannter Name im Schweizer Fussball, ein ehemaliger Nationalspieler und Trainer der potenten Young Boys. «Aber in Wil verdiente ich mehr als bei YB», sagt Rueda.
Vor dem ersten Spiel in Winterthur erhält Rueda eine Nachricht vom Sportchef Cila, der ihm die Taktik und die Aufstellung vorgeben will. Wil verliert 0:3, und jetzt schickt Murathan Doruk Günal, der Präsident und Sohn des Investors, eine Nachricht. Er tadelt Rueda für seine Auswechslungen, schreibt, ein anderer hätte den Elfmeter schiessen müssen. «Ich habe noch nie von jemandem eine so lange SMS-Nachricht bekommen», sagt Rueda. «Da ist es mir schon mulmig geworden.»
Doch der FC Wil fängt sich, gewinnt fünfmal in Serie – ehe ein Spiel in Genf ansteht. Zur Pause steht es 1:1. «Wir haben eigentlich gut gespielt», sagt Rueda. Zehn Minuten nach der Pause beginnt sich ein Spieler ohne seine Anweisung einzulaufen. Kurz darauf kommt ein türkischer Funktionär zur Ersatzbank hinunter und gibt über Ruedas Kopf hinweg Auswechslungen durch.
Danach geht es abwärts. Rueda sagt: «Ich habe Trainings erlebt, in denen ich das Gefühl hatte, die Mannschaft sei tot. Und das mit Klassespielern.» Rueda gewinnt kein Spiel mehr. Im Dezember 2016 wird er nach nur zwölf Partien freigestellt.
«Die Türken haben hingeschmissen»
Auch neben dem Platz häufen sich die Probleme. Der Kanton St. Gallen lehnt die Arbeitsbewilligung von Abdullah Cila ab. Im Januar 2017 verschiebt die Stadt die Grundsatzabstimmung zum Ausbau des Stadions, weil die vorgelegten Konzepte ungenügend seien. Zudem verlassen zwei türkische Leistungsträger den Klub.
Irgendwann in diesen Tagen führen Mehmet Nazif Günal und Abdullah Cila ein folgenschweres Gespräch. Günal sagt: «Abdullah, die lassen uns hier nicht weiterkommen. Wir lassen das sein.»
Am 26. Januar 2017 sitzt Cila in den Büros des Stadions. Als zwei Spieler vorbeikommen, sagt er: «Bis morgen, meine Jungs.»
Sie werden ihn nicht wieder sehen.
Cila kommt am nächsten Tag nur noch kurz zum Stadion. Er gibt seine Wohnungsschlüssel ab und fährt zum Flughafen Zürich. Den Dienstwagen lässt Cila im Parkhaus stehen. Dann steigt er in das Flugzeug.
Roger Bigger ist zu diesem Zeitpunkt in Österreich in den Skiferien. Am Abend sitzt er mit seiner Frau im Restaurant, als er eine E-Mail erhält: Die türkischen Verwaltungsräte des Klubs träten zurück, heisst es da. Wenige Augenblicke später die zweite E-Mail: Mehmet Nazif Günal stellt die Zahlungen an den FC Wil ein. Bigger steht auf und sagt zu seiner Frau: «Du, es brennt. Die Türken haben hingeschmissen.»
Der «Blick» schreibt: «Der FC Wil hat vor eineinhalb Jahren seine Seele an den Teufel verkauft. Wie erwartet, geht es schief.» Die NZZ titelt: «Wieder eine Räubergeschichte».
Die verbliebenen Schweizer im Klub bilden eine Task-Force. Sie versuchen, die Türken umzustimmen, aber sie erreichen niemanden. Alle Anrufe, E-Mails, SMS- und Whatsapp-Nachrichten bleiben unbeantwortet. Der FC Wil sitzt auf einer Lohnsumme von rund einer Million Franken pro Monat. Genau jene Million, die Günal anderthalb Jahre lang überwiesen hatte. Bis jetzt.
Transferverhandlungen des FC Barcelona helfen
Um überleben zu können, müssen die Löhne um bis zu 80 Prozent gesenkt werden. Die Task-Force verhandelt nächtelang. Viele Spieler stimmen zu. Sie wissen: Wenn der Klub Konkurs anmelden muss, bekommen sie fast nichts. Bei einigen Spielern aber ist es schwierig, sie bestehen auf ihren Lohn.
Und es gibt ein zweites Problem: Um die Lizenz für die nächste Challenge-League-Saison zu erlangen, sollte die Task-Force über die Aktien des Klubs verfügen. Und die sind mehrheitlich im Besitz von Mehmet Nazif Günal, der nicht mehr zu erreichen ist.
Der Verwaltungsrat Maurice Weber sagt, er habe eines Nachts einen Anruf des befreundeten Spielerberaters Dino Lamberti erhalten. Dieser sei gerade in Istanbul gewesen, an einem Bankett, das anlässlich eines Spielertransfers zwischen dem FC Barcelona und Fenerbahce stattgefunden habe. Wie es der Zufall gewollt habe, sei neben Lamberti auch Mehmet Nazif Günal eingeladen gewesen. Weil Lamberti um die Probleme in Wil gewusst habe, habe er ihn sofort angerufen, sagt Weber. «Was brauchst du?», habe Lamberti gefragt.
Wenige Stunden später sind die Aktien wieder in Schweizer Besitz. Günal hat sie für einen Franken abgegeben.
Abdullah Cila ist heute der Meinung, dass sich die Schweizer glücklich schätzen konnten. Sie hatten Millionen für das Aktienpaket bekommen, anderthalb Jahre später erhielten sie es für einen Franken zurück.
Bigger ist schwer enttäuscht. Er erklärt sich den Rückzug Günals mit kulturellen Eigenheiten: Er habe gehört, die Türken zögen sich zurück, wenn sie vor einer jüngeren Person das Gesicht verlören. Und genau das sei passiert: Günal habe mit seinen Fehlentscheiden das Gesicht vor ihm verloren. Im Klub wird auch gemutmasst, der türkische Präsident Erdogan habe die Unternehmer aus dem Westen zurückgepfiffen.
Zur Überraschung vieler gelingt es dem FC Wil, den Konkurs und damit den Zwangsabstieg zu verhindern. Es dauert aber noch Jahre, bis er die Altlasten aus der türkischen Ära abbezahlt hat. Bigger verlässt den Klub Ende 2017 nach einem Streit mit dem Verwaltungsrat Weber.
Wenige Gewinner
Weber ist heute der Präsident des FC Wil. Er hat in den vergangenen Jahren kluge Personalentscheide getroffen. Er besetzte das Organigramm mit Leuten aus der Region und engagierte Trainer, die junge Spieler weiterentwickelten. Die Goalies Philipp Köhn und Marvin Keller waren Stammkräfte im FC Wil, ehe sie sich in den Kreis der Schweizer A-Nationalmannschaft spielten. Dasselbe gilt für den Stürmer Kwadwo Duah.
Die anderthalb Jahre unter türkischer Führung haben viele Verlierer und nur wenige Gewinner hervorgebracht. Profitiert hat das Hotel Schwanen in der Wiler Innenstadt. Einzelne Zimmer waren über Wochen hinaus ausgebucht, dank türkischen Funktionären oder Architekten.
Die grössten Gewinner aber waren die drei Hauptaktionäre des Klubs. Wie inzwischen bekannt ist, kauften die Innerschweizer Unternehmer Ruedi Gillmann und Fredy Flükiger vor der Übernahme durch Günal grössere Aktienpakete, die sie teuer verkaufen konnten. Der Name des drittgrössten Hauptaktionärs, der seinerzeit seine Aktien an die Türken verkaufen konnte: Roger Bigger.
Die Autoren haben zum «Fall Wil» für CH Media einen achtteiligen Podcast namens «Tückische Millionen» produziert: bit.ly/3DzftnA.