Dienstag, Oktober 8

In der maroden Kleinstadt im Herzen des Rust Belt schliessen die letzten Fabriken. Für etwas Leben sorgen neu ankommende Haitianer, doch viele Einwohner wünschen sich Donald Trump zurück.

In Charleroi ist die Hoffnung auf eine bessere Zukunft schon lange gestorben. Der Stadtverwalter Joe Manning sagt es so: «Wir hatten lange Glück, bis wir keines mehr hatten.»

Er erlebt gerade einen besonders schwierigen Tag: Jüngst wurde bekannt, dass die Glasfabrik Cornelle Brands per Ende Jahr nach Ohio verlegt wird, über 300 Arbeitsplätze sind akut bedroht. Und dann erwähnte Donald Trump in einer Rede Charleroi als weiteres Beispiel für eine Stadt, in der angeblich die Haitianer ihr Unwesen trieben. «Charleroi, was für ein schöner Name, aber es ist jetzt nicht mehr schön dort», sagte Trump. Seiter klingelt auf der Verwaltung unablässig das Telefon. Interessierte wollen wissen, ob die Haitianer Hunde und Katzen ässen, was sich längst als falsche Legende erwiesen hat.

Wie in einem Zombie-Film

Die schönen Zeiten von Charleroi waren lange vor der Ankunft der haitianischen Gastarbeiter vorüber. Die einst prunkvollen Gebäude – darunter fünf Kinos und eine Bank mit neoklassizistischem Säulenportal – sind verlottert; der einstige Stolz der Stadt, das Opernhaus The Coyle, wurde 2019 abgerissen. An der Hauptstrasse reihen sich leerstehende Geschäfte aneinander. In einem verriegelten Geschenkladen ist bloss ein Artikel ausgestellt: «Make America great again»-Kappen. «Wir sehen uns am 22. Juni wieder», steht im Schaufenster des Süsswarengeschäfts Gene & Boots Candies säuberlich mit Kreide auf eine Tafel geschrieben. Man wähnt sich bisweilen in einem Zombie-Film, in welchem die Menschen panisch das Weite gesucht haben und alles liegen liessen, was ihnen teuer war.

Einst war die Fabrikstadt als «Magic City» bekannt, weil sie während des Stahlbooms im frühen 20. Jahrhundert so schnell gewachsen war. Im Gegensatz zu den Nachbarorten förderte sie nicht Erz, sondern produzierte Glas, Fensterscheiben und später Pyrex-Küchenartikel, die noch heute in vielen amerikanischen Haushalten zu finden sind. In den sechziger Jahren wohnten in Charleroi über 11 000 Menschen, 2020 waren es noch etwas über 4000. Das goldene Zeitalter der amerikanischen Stahlindustrie war in den achtziger Jahren Geschichte, die Fabrikschliessungen versetzten das Monongahela-Tal, wo sich eine Fabrik an die andere reihte, in eine tiefe Krise, von der sich die lokale Wirtschaft bis heute nicht erholt hat. Ab 2012 holte die Opioidkrise die Region ein und liess die Todesraten in die Höhe schnellen.

Doch dann, ab 2021, zogen plötzlich Immigranten nach Charleroi: aus Liberia, aus Vietnam und in jüngerer Zeit aus Haiti – rund 2000 an der Zahl. Die Bevölkerung wuchs zum ersten Mal seit zwei Generationen wieder.

Einwanderer eröffnen Geschäfte

Ein Fleischverarbeiter mit Personalbedarf holte die Einwanderer nach Charleroi, ganz legal. Haitianische Flüchtlinge geniessen seit der Erdbebenkatastrophe 2010 in den USA Schutzstatus. Personen aus Venezuela, Kuba, Nicaragua und Haiti gewährt die Biden-Regierung seit Anfang 2023 eine erleichterte Einwanderung, falls ein Sponsor in den USA sie finanziell unterstützt – rund 550 000 Migranten kamen bisher auf diesem Weg als Gastarbeiter in die USA. Daraus ist ein System von Personalrekrutierung und -transport entstanden. Die Arbeiter aus Haiti werden von Personalfirmen rekrutiert, oft in Florida, wo die meisten von ihnen zuerst ankommen, und an Kunden im Norden vermittelt. In Charleroi sammeln Kleinbusse mit der Aufschrift Wellington Staffing Inc. jeden Morgen Arbeiter ein, um sie an ihre Arbeitsplätze am Stadtrand zu fahren.

So kommt es, dass sich auf den Strassen von Charleroi wieder Leben regt. An der Fallowfield Avenue misten drei Haitianer ein vergammeltes Ladenlokal aus und werfen Schrott in eine Mulde am Strassenrand. «Hier entsteht ein karibisches Restaurant», sagt Rodny Michel, ein 35-jähriger Haitianer, fröhlich. Michel reiste 2021 in die USA und erhielt den temporären Schutzstatus TPS, den Joe Biden kurz nach der Amtsübernahme für Haitianer wieder einführte, nachdem Donald Trump ihn aufgehoben hatte. «Ich lebe gerne hier, ich kann etwas tun», sagt er. Als er angekommen sei, sie die Stadt hässlich gewesen, jetzt sehe sie viel besser aus. Er sei hier, um zu arbeiten – «die Amerikaner wollen doch keine schmutzige Arbeit verrichten». Über die Gerüchte, die J. D. Vance und Donald Trump verbreitet haben, kann er nur den Kopf schütteln: «Nein, wir essen keine Hunde, ganz bestimmt nicht.»

Sein Chef Kumar Sanjel fährt in einem schnittigen, azurblauen Tesla vor. Der gebürtige Nepalese aus Pittsburgh eröffnete kürzlich das Lebensmittelgeschäft Global Food and Convenience Store gleich neben seinem zukünftigen Restaurant. Er habe noch nie Probleme mit den Haitianern gehabt. Er arbeite gerne mit ihnen zusammen. In Charleroi sieht er nur Chancen. Die Migranten sind für ihn Mitarbeiter und Kunden zugleich. Die Mieten seien im Vergleich zu Pittsburgh spottbillig. Für die Räumlichkeiten seines angehenden Restaurants bezahlt er tausend Dollar Miete pro Monat. «Wir werden die Stadt verbessern», sagt Sanjel.

Böse oder gute Immigranten?

Charleroi war schon immer ein Schmelztiegel der Kulturen. Davon weiss Nikki Sheppick zu berichten. Die 72-Jährige ist die Vorsitzende der Charleroi Historical Society. Als 1893 die erste Glasfabrik in Charleroi aufmachte, seien bis zu 500 Glashandwerker aus Belgien angeheuert worden. Aber die Arbeiter seien auch aus Italien gekommen, aus der Slowakei, und die Chinesen hätten Wäschereien betrieben. Auf die multikulturellen Wurzeln sei man stolz, sagt Sheppick.

Aber mit den neuen Migranten hätten die Leute von Charleroi ihre Mühe. Ein Problem sei die Sprachbarriere, sie könnten nicht Englisch. Und es gebe enorm viele Autounfälle, weil sie keine Fahrprüfungen machen müssten. Ihr Mann sei kürzlich fast angefahren worden. Die meisten ihrer Bekannten würden aus Angst vor den Migranten gar nicht mehr in die Innenstadt fahren. Das schade den lokalen Geschäftsleuten.

Wir betreten eine Sportbar im Zentrum, wo Michele Jacobs hinter dem Tresen steht, keine Kundschaft weit und breit. Sie besitzt auch noch einen Coiffeursalon und lässt ihrer Litanei freien Lauf. Da seien der Dreck, der Abfall und der Urin. Es seien auch Knochen von jungen Hunden gefunden worden, dort im Twilight Hollow, die Köpfe hätten sie einfach über den Hügel geworfen. Am meisten aber ärgert Jacobs und Sheppick, dass neue Ladenbesitzer von Nonprofitorganisationen Anschubhilfe erhielten. Und dass sie sozialversichert würden. Es gehe nicht um die Hautfarbe, sagt Sheppick, sondern um Fairness. «Wir verlieren Geld mit unseren Geschäften, und ihnen wird geholfen», sagt Jacobs. Beide werden im November Donald Trump wählen.

Aber nicht alle Ladenbesitzer in Charleroi sehen die Einwanderung als Problem an. Auf der Strassenseite gegenüber der Sportbar betreibt Justin Regan einen «Adventure-Shop». Klar, die Einkommen seien tief in Charleroi, aber er sei einfach glücklich hier, wie andere auch, sagt Justin. Er verkauft alles, was ihm und seinem Geschäftspartner Spass macht: Vinylplatten, Turnschuhe, Anime-Figuren und vor allem mundgeblasene Wasserpfeifen für den Cannabiskonsum. Er wolle die Tradition der Glasfabrikation weiterführen, sagt Regan zur Erklärung seines Geschäftskonzepts.

Auf Facebook würden durchgeknallte Geschichten verbreitet, sagt der 27-Jährige, von Migranten, die Hunde ässen und in Gärten vergrüben. Das sei alles frei erfunden. «Die sitzen in ihren Wohnzimmern auf den Hügeln und tippen sich die Finger wund, aber die haben doch keine Ahnung, was hier läuft.»

Der Gemeinderat hat andere Sorgen

Die Facebook-Gruppe heisst «Charleroi Ramblings» und hat 3500 Follower. Sie tauschen Rezepte für Milchshakes und die neusten Gerüchte über Einwanderer aus. Seit Donald Trump die Migranten in Springfield und Charleroi als Haustierfresser verleumdet hat, ist die Fieberkurve in der Stadt gestiegen. An den Gemeindeversammlungen machen aufgebrachte Bürgerinnen und Bürger ihrem Ärger Luft – und melden zahlreiche Vorfälle, von denen sie gehört haben wollen. Ruhig machen die Gemeinderäte darauf aufmerksam, dass Gesetzesbrüche der Polizei gemeldet werden sollen.

Der regionale Polizeichef Chad Zelinsky reagiert verärgert auf meine Frage, ob die Kriminalität in Charleroi gestiegen sei. «Fragen Sie doch geradeheraus, ob die Migranten kriminell seien», meint er. «Das wollen doch im Moment alle Medienleute wissen.» Er arbeite seit dreissig Jahren als Polizist, die Kriminalität sei immer etwa gleich hoch gewesen, es gebe vor allem Kleinkriminalität und Drogendelikte. Vor fünf Jahren sei es wirklich schlimm gewesen, auf dem Höhepunkt der Opioidkrise. Wie die Fliegen seien die Leute gestorben, mitten auf der Strasse. Durch die Einwanderer hätten die Autounfälle zugenommen, da sie die Signalisation nicht kennten.

Auch der Stadtverwalter Joe Manning spielt die Probleme mit den Immigranten herunter. «Sie bezahlen Steuern, eröffnen Geschäfte und bewohnen Gebäude, die sonst verfallen würden.» Einzig die Kosten für die Schulen seien gestiegen, weil man die Migranten Englisch lehren müsse. Das belaste den knappen Haushalt. Aber unter dem Strich seien die Migranten positiv für die Wirtschaft der Stadt.

Das wirkliche Problem sei die angekündigte Schliessung der Fabrik von Cornelle Brands, nicht die Migranten. Der Bürgermeister Matt Doerffler, ein Republikaner, nennt den Beschluss des Glasproduzenten, den Standort Charleroi aufzugeben, eine Katastrophe. Auf die Frage, wo er Charleroi in fünf Jahren sehe, stösst der Bürgermeister ein bitteres Lachen aus. «Ehrlich gesagt, wenn die Fabrik schliesst, sehe ich vor allem grosses Leid.»

Hungernde Senioren in Charleroi

Hinter dem Kinderhort, nahe den Gleisen, verteilt die Greater Pittsburgh Community Food Bank Lebensmittel an Hilfsbedürftige. Der Andrang ist gross. Man helfe rund 230 Familien in Charleroi, sagt Rachel Martone, welche die Verteilung leitet. Dutzende von Autofahrern, vor allem weisse Rentner, warten in einer langen Schlange, um Fleisch, Eier, Früchte und Gemüse in ihre Kofferräume zu laden. Unter ihnen befindet sich Christine. Die IV-Bezügerin lebt von 900 Dollar Rente pro Monat. Auch ihr Sohn und ihre Schwiegertochter leben in ihrem Haus, beide arbeiten in der Glasfabrik. Christine weiss nicht, wie sie überleben wird, wenn die Fabrik Ende Jahr schliesst. Sie seien viel gewohnt, hier in Charleroi. Seit Jahrzehnten gehe es nur bergab. Aber all die Migranten, das sei ein grosses Problem; ihre ganze Familie wähle jetzt auch Donald Trump.

Auf den Autos sind viele Trump-Kleber zu sehen. Es gehe ihm nicht um die Hautfarbe, sagt der Freiwillige Joe Spadacene, der den Bedürftigen Kohlköpfe entgegenstreckt. Die Republikaner machten einfach einen besseren Job, sagt er. Seine Eltern seien auch Einwanderer gewesen, aber es könne nicht sein, dass die Migranten einfach so über die Grenze kommen könnten. Man könne nicht für all diese Leute sorgen. Die Preise seien dermassen gestiegen, es bleibe nichts mehr übrig. Man müsse sich entscheiden, ob man Benzin kaufe oder Essen. «Die letzten vier Jahre waren fürchterlich für uns, es ist Zeit für einen Wechsel in Washington.»

Ein Zug braust vorbei mit Wagen, voll beladen mit Kohle. Noch gibt es Industriebetriebe in Pennsylvania, die Erdgasförderung, ein paar Stahlwerke von U. S. Steel, die wohl bald vom japanischen Unternehmen Nippon Steel gekauft und laut Experten womöglich stillgelegt werden, weil es zu teuer ist, sie umweltgerecht zu sanieren. Die Leute in Charleroi wissen: Der Wohlstand kehrt nicht zurück. Für die Ankömmlinge, die in ihrer Stadt das Glück suchen, haben sie wenig übrig.

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