Letztes Jahr gelang ihr der internationale Durchbruch. Am Dienstag ist die amerikanische Pop-Sängerin erstmals in Zürich aufgetreten. Mit ihren Songs wirbt sie für Mut und Selbstsicherheit.
Die Farbe Rot wuchert in allen Schattierungen. In Tüchern, Bändern und Fetzen wogt und schmiegt sie sich von unten herauf um die gestiefelte Sängerin, um zuletzt die Lippen dunkel zu tönen und in ein paar Tupfern und Strichen auch noch die Augen skizzenhaft zu umkränzen. Im braunen, hüftlangen Haar immerhin ein Abglanz von Henna.
Rot ist bei Chappell Roan ein Signal für volle Fahrt voraus, aber auch für knurrenden Lebenshunger und eine Leidenschaft, die sich blutig in menschlichem Fleisch verbeisst. Wer am Dienstagabend das Konzert der 27-jährigen Amerikanerin im vollen Zürcher Hallenstadion besuchte, bekam deshalb nicht nur ein grosses Märchen- oder Lustschloss zu sehen auf der Bühne. Vielmehr zeigten sich zwischen Ziergittern, Toren und Türmchen auch kleine Drachen und Vampire, die ihren Durst mit Blut zu stillen pflegen.
Keine Lust auf Prinzen
Während Posaunen und Trompeten für Fanfaren sorgen und ein All-Women-Begleitquintett einen erdigen Rockbeat hinlegt, erscheint auf dem Schloss bald auch Chappell Roan. Schon mit ihrem Erfolgsalbum «The Rise and Fall of a Midwest Princess» (2023) hat sie sich als royale Figur in Szene gesetzt. Wer nun an ein artiges Dornröschen denken mag, das in seinem unschuldigen Schlummer auf seinen Prinzen warten muss, wird von der amerikanischen Powerfrau aus Missouri rasch eines Besseren belehrt.
Chappell Roan braucht zu ihrem Glück keinen Prinzen, weil sie eh auf Frauen steht. Jungs findet sie doof, wie sie in ihren Songs zugibt: «I’m through with all these hyper mega bummer boys» singt sie gleich zu Beginn schon in «Super Graphic Ultra Modern Girl». Und sogleich ist auch der musikalische Tonfall definiert: laut statt leise, geradlinig statt kompliziert, Starkstrom statt Raffinement. Chappell Roan spielt sich nicht als grazile Tänzerin auf, lieber schreitet, wippt und stampft sie über die Bühne. Selbst der inszenierte kurze Tanzkurs vor «Hot to Go» ändert nichts daran.
Chappell Roan hat eine Botschaft, die sie so direkt wie möglich unter ihre Fans bringen will. Sie verarbeitet in ihren Songs nicht nur ihre ersten amourösen Erfahrungen, sondern auch die Reaktion ihres konservativen Umfelds. Ihr Coming of Age, das sozusagen im Comingout gipfelt, erweist sich als triumphale Befreiungsgeschichte, mit der sie auch die Fans zu Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit anstiften will.
Dem missionarischen Zweck entsprechend interpretiert sie ihr Repertoire mit viel Engagement und ungebremster Euphorie, die durch die Rockband noch verstärkt wird. Tatsächlich nehmen sich die Live-Interpretationen ihrer Songs erdiger und packender aus als die Studioversionen. Schade nur, dass Roan in schönen Balladen wie «Kaleidoscope» oder «Picture You» die Energie nicht etwas herausnehmen kann; auch in den langsamen Stücken wird gelärmt und gefeiert.
Energie für die Seelen
Roan verfügt über eine tragende Stimme, mit der sie durchaus auch feinere Empfindungen ausdrücken könnte. Im Konzert aber forciert sie ihre Kehle und Stimmbänder. Sie schreit, klagt, trällert und jodelt. Kein Wunder, dass bei so viel Power die Kontrolle über die Intonation zuweilen verlorengeht.
Den richtigen Ton trifft die Amerikanerin nicht immer, dafür umso sicherer den Nerv der Zeit. Das Publikum ist gekommen, um zu feiern. Als vor dem Konzert Abbas «Dancing Queen» durchs Stadion tönt, wird bereits aus vollen Kehlen mitgesungen. Chappell Roans Musik sorgt dann erst recht für Begeisterung. Die Fans – in der Mehrheit jüngere Frauen, begleitet von Partnerinnen und Müttern – quittieren das ganze Konzert mit Beifallstürmen, wogenden Handys und dankbarem Geschrei. Ihr Blut wurde nicht aufgefrischt durch die sanguinische Performance, aber immerhin ihre Seelen.