Der Schweizer Fussball wäre ein anderer ohne seine deutschen Entwicklungshelfer. Eine Geschichte von Pionieren, die in der Nationalliga Verrücktes erlebt haben.

Am Sonntag in Frankfurt treffen an der EM die Schweiz und Deutschland aufeinander. Zwischen den beiden Ländern gibt es im Fussball seit Jahrzehnten einen regen Austausch. Früher war es oft so, dass Deutsche nach glorreichen Zeiten in die Schweiz kamen, um hier auf tieferer Stufe die Karriere weiterzuführen. Man denke etwa an Günter Netzer (GC), Karl-Heinz Rummenigge (Servette), Uli Stielike (Xamax) oder Friedhelm «Timo» Konietzka (u. a. Winterthur, FCZ).

Und dann gibt es jene Deutschen, die in ihrer Heimat um Akzeptanz kämpfen mussten und deren Karrieren erst so richtig strahlten, als sie sich in der Schweiz niederliessen. Sie dislozierten ins kleinere Land, obwohl sie wussten, wie die Deutschen über den Schweizer Fussball dachten, nämlich: dass dieser eine eher spassige Angelegenheit sei, die man nicht ganz ernst nehmen könne.

Diese vier Deutschen haben den Schritt dennoch gewagt – und sind in der Schweiz heimisch geworden:


Hubert Münch: Flucht vor der Bundeswehr, entdeckt an einem Grümpelturnier

Eine Fussballkarriere, wie sie Hubert Münch machte, ist heute unvorstellbar. Als Jüngling zog er in die Schweiz, um in Deutschland der Rekrutierung durch die Bundeswehr zu entgehen. Familienangehörige hatten im Krieg gelitten, Münchs Vater überlebte mit Glück einen Lungendurchschuss.

Münch zog an den Zürichsee und arbeitete als Fernmelde-Elektroniker. Als seine Firma an einem Grümpelturnier teilnahm, fiel er einem Späher des FCZ auf – und erhielt eine Einladung zum Probetraining. Er hatte zuvor im Stuttgarter Amateurverein FV Zuffenhausen gekickt.

In Zürich erwarb sich Münch den Ruf als aufsässiger Manndecker mit Eisenfuss. Und seine Härte bekam sogar ein Weltstar zu spüren. Als der FCZ 1969 ein Testspiel gegen das grosse Manchester United absolvierte, das ein Jahr zuvor den Europapokal der Landesmeister gewonnen hatte, grätschte Münch George Best vom Feld. «Ein anständiges Tackling», wie es Münch formuliert. Doch der Stürmer fiel so unglücklich, dass er sich am Sitz eines Fotografen, der zu nahe an der Seitenlinie sass, den Kopf anschlug. Mit Platzwunde liess sich Best auswechseln. «ManU» gewann trotzdem 9:1.

Aber: Münch hatte eine Wette gegen seinen Teamkollegen Fritz Künzli gewonnen. Als der FCZ aus dem Trainingslager in Davos an dieses Spiel gereist war, neckte Künzli den Verteidiger, er werde keine Chance haben gegen Best. Münch hielt dagegen, er werde ihn schon aus dem Spiel nehmen. Künzli kündigte gleichzeitig an, er werde ein Tor schiessen. Beide waren gespannt, was eintreffen würde, und einigten sich auf einen Wetteinsatz. Das Ergebnis: Künzli blieb ohne Treffer, Münch triumphierte.

Als der FCZ ein Testspiel gegen den FC Santos mit Pelé absolviert hatte, war Münch behutsamer zu Werke gegangen. Er sagt, aus Respekt habe er den Brasilianer in den Direktduellen «nur begleitet». Pelé habe ihn dafür «amigo» genannt, «Freund».

Laut FCZ-Statistik hat Münch für den Klub fast 350 Spiele gemacht; er war an drei Meister- und vier Cup-Titeln beteiligt. Münch identifizierte sich so stark mit der neuen Heimat, dass der Schweizer Nationaltrainer Alfredo Foni meinte, er könne ihn für seine Auswahl aufbieten – bis er verdutzt feststellte, dass Münch nur den deutschen Pass besass.

Als Münch selbst Trainer war, 1989 im FC Schaffhausen, meldete sich ein Jüngling zum Probetraining: Joachim Löw. Münch sagt, auch er habe damals nicht gedacht, dass Löw die Deutschen 25 Jahre später als Coach zum WM-Titel führen würde.

Münch lebt in Meilen. Auf die Frage, wer am Sonntag gewinne, die Schweiz oder Deutschland, antwortet der 83-Jährige professionell wie ein Jungprofi: «das bessere Team».


Helmut Benthaus: Er machte den FC Basel gross

Als Rivale von Münchs FCZ galt der FC Basel. Und dessen Hochblüte war vor allem mit einem Namen verknüpft: Helmut Benthaus. Sicher, dieser hatte auch in Deutschland Erfolg. Er war der Erste, der in der Bundesliga sowohl als Spieler (1964 mit dem 1. FC Köln) als auch als Trainer (1984 mit dem VfB Stuttgart) Meister wurde. Und er brachte es auf acht Länderspiele.

Aber in Basel schuf er etwas, das weit über die Rasenvierecke hinausreichte. Benthaus gelang es, den FCB in der Gesellschaft zu etablieren. Hierzu behalf er sich mit kreativen Ideen: Er tat sich mit seinem Freund Werner Düggelin zusammen, dem Direktor des städtischen Theaters. Ihrem Publikum verkauften sie Tombola-Lose, mit denen Eintritte in der nicht bevorzugten Domäne gewonnen werden konnten. Was dazu führte, dass plötzlich auch Theaterfreunde FCB-Spiele besuchten.

Erst durch Benthaus wurde der Klub zu einem Schwergewicht; mit ihm errang er sieben Meister- und zwei Cup-Titel. Zuvor war der FCB ein einziges Mal Meister geworden. Dass Benthaus 1965 überhaupt rheinaufwärts in die Schweiz zog, hatte damit zu tun, dass er hier als Spielertrainer fungieren durfte; in der Bundesliga war dieses Modell verboten. Und ihm gefiel die «heimelige Atmosphäre» in Basel. Der FCB war damals klamm, aber der Klub tröstete sich damit, in Benthaus einen Mann verpflichtet zu haben, der mehrere Rollen mit Bravour meistern konnte. Weil kein medizinisches Personal angestellt war, gab er auch den Masseur.

Benthaus, Jahrgang 1935, war im Krieg in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, im stark bombardierten Ruhrgebiet. Als Junior von Rasensport Holthausen kickte er auf einem Platz ohne Grashalm, der aus der schwarzen Asche der Kohleproduktion bestand. Er war ein Vorzeigeschüler, studierte Philologie mit den Schwerpunkten Sport und Englisch. In Basel dozierte er parallel zu seiner Sportlerlaufbahn an der Universität.

Als Fussballtrainer war er ein rationaler Lehrer, dem es trotz seinem hohen Intellekt gelang, die Dinge verständlich zu vermitteln. Kein Wunder, wurde er zum Mentor eines gewissen Ottmar Hitzfeld. Dazu, dass sich Schweizer Sportler früher bei Auswärtsspielen sehr schwertaten, meinte Benthaus einmal laut NZZ, sie verlören «fernab von Rösti und Bratwurst an Tatkraft und Moral».

Heimisch wurde er als Schweizer Bürger in Riehen. Und sagte: «Man fühlt sich wohl, wo man Erfolg hat.» Im digitalen Telefonbuch steht unter seinem Namen: «Sportlehrer». Für Basel war er viel mehr als das.


Alfred Herberth: In Aarau war er tagsüber allein im Training

Als Alfred «Charly» Herberth 1980 nach Grenchen kommt, ist er irritiert. Er will im Solothurnischen schauen, ob er hier seine Fussballkarriere fortsetzen könnte. Und als ihm jemand vom dortigen FC die Spielstätte des Nationalliga-B-Vereins zeigt, denkt er: Wo ist denn nun das Stadion?

Herberth glaubt, auf einem Nebenfeld zu sein. «Als ich hörte, dass auf diesem Plätzli die Heimspiele stattfänden, musste ich schon leer schlucken», sagt Herberth heute. Er war anderes gewohnt: Mit seinem Stammverein 1860 München spielte er im Olympiastadion von 1972 – phasenweise in der 1. Bundesliga.

Als es den Sechzigern nicht mehr lief und er zum fast einzigen Einheimischen im Kader wurde, wollte Herberth weg. Er hatte Angebote aus Spanien und den USA, doch das war ihm zu fern. Und er war neugierig auf die Schweiz. Also schaute er sich Grenchen an, wo soeben die Münchner Legende Tschik Cajkovski als Trainer angeheuert hatte.

Doch Herberth sollte schliesslich im FC Aarau unterschreiben, der gerade in die Nationalliga A aufgestiegen war. Auch hier traf er auf kärgliche Bedingungen: Weil er der einzige Vollprofi im Kader war, musste er tagsüber allein trainieren. Die Mannschaft traf sich jeweils erst um 18 Uhr, wenn der Trainer und seine Mitspieler ihren Brotjob erledigt hatten. Weil er niemandem einen Ball zuspielen konnte, ging Herberth vormittags mit Stecken auf den Rasen, um ein paar Slalomläufe zu machen. Oder er joggte durch den Wald.

Trotzdem blieb Herberth zehn Jahre im FC Aarau. Der Mittelfeldmann avancierte mit 340 Einsätzen zum Rekordspieler des Vereins (und erzielte dabei 100 Tore). 1985, als Aarau mit dem Trainer Hitzfeld Cup-Sieger wurde, erhielt Herberth die Auszeichnung «Ausländischer Spieler des Jahres». Er sagt dazu bescheiden: «Ach, das war nicht so schwierig, damals durften ja nur wenige Legionäre in der Schweiz spielen.»

Herberth fühlte sich immer mehr als Bayer denn als Deutscher, er gehe gerne aufs Oktoberfest. Den Spitznamen «Charly» verdankt er dem einstigen Bayern-Spieler Karl-Heinz «Charly» Mrosko, weil er wie dieser nie in einem Match aufgesteckt habe.

Nach der Karriere ging Herberth einem bürgerlichen Beruf nach. Der ehemalige Lehrling der Sparkasse Dachau arbeitete dreissig Jahre lang als Unternehmensberater in der Versicherungsbranche. Unterdessen pensioniert, lebt er 68-jährig immer noch in Buchs (AG). Er schätzt die Gelassenheit vieler Schweizer.


Georg Zug: Das Stadtkind, das Freude an den Bergen gefunden hat

Bei Georg Zug fing alles mit einem Irrtum an. Er stand im MSV Duisburg unter Vertrag, 2. Liga, und als dem Verein 1986 der Abstieg drohte und sogar der Bankrott, meinte ein Spielervermittler zu ihm, ob er weiterhin 2. Liga spielen wolle, einfach in der Schweiz. Zug, erst 22-jährig, dachte: Wieso eigentlich nicht? Ist ja ähnliches Niveau. Und sagte zu. Denn immerhin wurde dieser FC Glarus, den man ihm empfahl, von Wolfgang Frank trainiert, einer früheren Bundesliga-Grösse.

Erst später erfuhr Zug, dass mit der 2. Liga in der Schweiz anders als in Deutschland nur die vierthöchste Spielklasse gemeint war. Als er in Glarus ankam, mussten die dortigen Amateurspieler noch mit kaltem Wasser in einer Baracke duschen. Aber der Klub hatte einen fussballverrückten Funktionär mit grossen Zielen: Fritz «Ypsch» Hösli. Und der Wirt und Patron kratzte Geld zusammen, um immer wieder Verstärkungen aus Deutschland zu holen, später kam sogar der Europameister Hans-Peter Briegel.

Die Glarner marschierten in die Nationalliga B durch, Georg Zug war nun tatsächlich in der zweithöchsten Liga. Und im August 1988 erlebte er eine Sternstunde: Der Stürmer erzielte im «Joggeli» gegen den FC Basel in der 88. Minute das 2:1-Siegtor für den Underdog. Später zog Zug zum benachbarten Rivalen, dem FC Tuggen, bei dem es den Schlachtruf gab: «Wir haben keinen Bahnhof, aber einen Zug!»

Aber Zug blieb Glarner. Er wohnt nach wie vor im Dörfchen Linthal, im hintersten Zipfel des «Zigerschlitzes». Dort arbeitete er neben dem Fussball viele Jahre als Betriebsmechaniker in der Spinnerei – bis diese einging. Heute, kurz vor dem 60. Geburtstag, ist er für die Schokoladenfabrik Läderach tätig.

Andere Deutsche sind unterdessen wieder in ihrer Heimat, weil sie das Glarnerland eingeengt hat. Zug erging es anders, er sagt: «Wenn es mir irgendwo gefällt, gehe ich nicht so schnell weg. Ich bin kein Vagabund.» Und das einstige Stadtkind hat die Freude an Hochtouren gefunden. Es gebe keinen Glarner Berg, den er nicht bestiegen habe. Er sei auch schon auf Viertausendern im Wallis gewesen. Der Job in der Schokoladenfabrik scheint nicht auf seine Hüften zu schlagen. Zug sagt: «Ich bin immer noch bei 77 Kilo.»

Vergessengegangen ist er in Deutschland nicht. Ein Autogrammhändler bietet seine Karte, die aus Zugs Zeit im MSV Duisburg stammt, für 2 Euro 75 im Internet zum Verkauf an.

FC Glarus Aufstieg in die NLB

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