Donnerstag, Juli 4

Clevere Maturanden und KI-affine Lehrer huldigen einem zweifelhaften Technikkult. Sie sollten innehalten und nachdenken.

Im Prinzip hat der Maturand nur das gemacht, was wir von künftigen Studenten erwarten: Er hat in kurzer Zeit sehr viel Material verarbeitet und dieses Wissen bei seiner mündlichen Deutsch-Matur derart überzeugend präsentiert, dass die Lehrerin eines Zürcher Gymnasiums gar nicht anders konnte, als ihm die Bestnote zu geben. Die NZZ hat im Mai über den jungen Mann geschrieben.

Der 20-Jährige hat keines seiner Bücher gelesen – und sich stattdessen vor allem mit künstlicher Intelligenz (KI) auf die wichtigsten Punkte der Prüfung vorbereitet. Handlung, Charaktere, Epoche, historischer Kontext und so weiter: Chat-GPT lieferte verdauliche Erläuterungen. Die Maschine stellte Fragen, die auch an der Maturaprüfung gestellt werden könnten. Sie verhalf dem Schüler zu einem guten Überblick, damit der rhetorisch gewandte junge Mann am Ende so über die Werke auf seiner «Leseliste» sprechen konnte, wie wenn er sie tatsächlich gelesen hätte.

Das ist die Zukunft des (digitalisierten) Lernens: pragmatisch, effizient, zweckgebunden. Lange Texte sind lästig. Der Mensch macht den Bot zu seinem Komplizen, damit er sich die mühsame Lektüre sparen und bei der Prüfungsvorbereitung gleich zur Sache kommen kann. Und dieses Kalkül wird erst noch belohnt. Wer sich Goethes 4612 Verse in «Faust I» im Original antut, ist selber schuld.

Es ist eine bedenkliche Entwicklung. Denn sie rührt an den Grundpfeilern des Gymnasiums, der Schule der Wissbegierigen, Hartnäckigen, Nachdenklichen, die einen Stoff wirklich durchdringen wollen, statt ihn nur zu konsumieren.

Fatale Gleichgültigkeit

So wie der Zürcher Maturand funktionieren heute viele Schülerinnen und Schüler. Laut einer repräsentativen Studie unter 14- bis 20-Jährigen in Deutschland möchten über zwei Drittel der Befragten mit KI-Programmen arbeiten, um zu schnellen Zusammenfassungen zu kommen. Etwa gleich viele würden sich nach eigenen Angaben komplette Texte schreiben lassen. Die meisten nutzen künstliche Intelligenz bereits mehrmals im Monat oder häufiger. Komplett ohne Chat-GPT oder andere KI-Systeme kommen nur noch die wenigsten aus (4 Prozent).

Der erwähnte KI-Crack steht für eine neue Generation von Schülern, die ihren Lehrern am Laptop weit voraus sind und auch keinerlei Skrupel haben, diesen Vorsprung bei Prüfungen und schriftlichen Arbeiten gekonnt auszuspielen. Auch das sollte zu denken geben.

Viele Jugendliche würden gerne mehr machen mit KI, auch im Unterricht. Doch die meisten Lehrer sind nicht bereit dafür. Eine klare Linie im Umgang mit KI gebe es an ihrer Schule nicht, berichtet ein Drittel der Jugendlichen in der erwähnten Studie. Viel hänge von den einzelnen Lehrerpersonen ab, wie so oft im Bildungswesen. Ein weiteres Drittel gibt zu Protokoll, dass die Nutzung von KI-Systemen an ihrer Schule gar kein Thema sei.

In der Schweiz ist die Lage nur unwesentlich besser. Während sich unerfahrene Lehrer in KI-Kursen mit technischen Problemen und Datenschutzfragen herumschlagen, können es viele Schüler kaum erwarten, bis die neueste Version von Chat-GPT oder einem anderen KI-Programm lanciert wird. Sie wissen: Das Tool wird ihnen erneut viel Arbeit abnehmen.

Im Kanton Zürich gehen Gymnasien davon aus, dass Maturanden die Bücher auf ihrer Leseliste gelesen haben müssen, um eine gute Note zu erzielen. Diese Haltung ist naiv, das zeigt der Fall des hiesigen Gymnasiasten überdeutlich. Den Schülerinnen eine Textpassage vorzulegen und sie dann mehr oder weniger frei referieren zu lassen, reicht im KI-Zeitalter nicht mehr. Die Lehrer sollten ihre Prüflinge vielmehr ins Kreuzverhör nehmen, nach weiteren Bezügen auch in anderen Büchern verlangen, den literarischen Horizont der Jugendlichen richtig abklopfen.

Nur: Einige Pädagogen bleiben bei dieser Frage seltsam gelassen, indifferent gar. KI statt Bücher lesen? Da zucken viele mit den Schultern. Jugendliche, die weder Lust noch Zeit haben für Literatur und sich stattdessen mit Zusammenfassungen und Sekundärtexten irgendwie durch die Prüfung zu mogeln versuchen, gab es schliesslich schon immer. «Königs Erläuterungen» oder «Kindlers neues Literatur-Lexikon» gab es schon lange vor KI. Bücher wie «Faust I» sind schliesslich harte Kost. Das kann man der künftigen Elite des Landes offenbar nicht mehr zumuten.

Dieser Relativismus ist problematisch. Tricksereien bei der Maturaprüfung dürfen nicht toleriert werden. «Unredlichkeit kann die Ungültigerklärung des Maturitätszeugnisses zur Folge haben.» So steht es zum Beispiel im Zürcher Maturitätsreglement. Es ist unredlich, über Bücher zu sprechen, die man nicht gelesen hat. Es ist kein Zeichen von Reife. Und es ist unfair gegenüber jenen Mitschülerinnen, die sich korrekt verhalten und ihre Leseliste tatsächlich als Leseliste verstehen.

Allein, wo bleibt die Empörung?

Bankrotterklärung des KI-Experten

Nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer huldigen demselben Technikkult, den sich auch der erwähnte Maturand zu eigen gemacht hat. In Zürich machen sie das sogar hochoffiziell. Ein Deutschlehrer und KI-Experte des Digital Learning Hub des Kantons, eines Netzwerks für digitalisierten Unterricht an Gymnasien und Berufsschulen, sagte kürzlich am Rande einer Weiterbildung: «Mir fällt kein Zacken aus der Krone, wenn meine Maturandinnen und Maturanden ihre Bücher nicht gelesen haben.»

Über den Chatbot-Maturanden fand der Mann nur lobende Worte. Ja er verstieg sich gar zur Aussage: «Die Aufgabe an der Maturaprüfung besteht weniger darin, den Primärtext gelesen zu haben – man muss ihn vor allem verstanden haben.»

Das kommt einer Bankrotterklärung gleich, Sabotage am eigenen Fach, am Lehrerberuf und an der gymnasialen Bildung.

Nichts gegen KI, nichts gegen digitalisierten Unterricht. Das Potenzial der neuen Technologie ist unbestritten. Mit Chat-GPT kann man literarische Figuren zum Leben erwecken und in der Klasse über die Qualität der Antworten des Chatbots diskutieren. In naturwissenschaftlichen Fächern können Schüler Präsentationen anfertigen mithilfe von KI. Das ist eine gute Übung, um den Umgang mit wissenschaftlichen Quellen zu lernen. Man kann den Schreib-Bot um Rohmaterial bitten und dieses dann in eigenen Worten umschreiben und (hoffentlich) mit eigenen Gedanken und Recherchen ergänzen.

Ja, man kann zu den ganz grossen Fragen vordringen: Was macht uns Menschen aus? Was unterscheidet uns von der Maschine, von einem rasenden, blinkenden Strich am Bildschirm, der zwar schreiben, aber nicht denken kann?

Aber es kann doch nicht sein, dass Vertreter der höchsten Schulstufe eine der wichtigsten Kulturtechniken des Menschen sozusagen über Bord werfen, weil künstliche Intelligenz gerade hip ist und von vielen Jugendlichen intensiv genutzt wird, damit sie ihren stressigen Schulalltag bewältigen können.

Es kann doch nicht sein, dass Literatur zu PDF-Dokumenten degradiert wird und Deutschlehrer nichts weiter dabei finden, dass ihre Schüler keine Bücher lesen. Dass sie die Grundlagen nicht lernen, nicht reflektieren, sich nicht anstrengen wollen bei der Lektüre. Dass sie lieber von einem Chatbot bedient werden wollen, anstatt zu zweifeln an einem Text. Dass sie von allzu menschlichen Erfahrungen tragischer Figuren nichts mitbekommen und sich so auch nicht mit ihnen identifizieren können.

Faust zum Beispiel verzweifelt an der Welt. In seinem Studierzimmer sagt er zu nächtlicher Stunde:

(Ich) sehe, dass wir nichts wissen können!
Das will mir schier das Herz verbrennen.

KI-affine Maturanden foutieren sich um solche Szenen. Sie wissen nicht, was sie verpassen. Literatur zeigt einem die Welt auf einzigartige Weise. Nichts bringt einem Sprache besser bei als ein gutes Buch. Wenn unsere Maturanden diese Erfahrung nicht gemacht haben, bevor sie ins Erwachsenenleben stolpern, wer dann?

Dichtung und Wahrheit an den Gymnasien

Die Mittelschule ist die einzige Phase im Leben kluger Menschen, in der sie eine umfassende Allgemeinbildung erhalten. Das ist kein alter Hut, sondern ein Privileg, auf das Gymnasiasten selber nicht verzichten wollen. Sie wollen ein breites Fächerspektrum haben. Das hat ein Bericht der Zürcher Bildungsdirektion deutlich gezeigt. Das bedeutet dann aber auch: Die Schüler sollen lesen, wenn es etwas zu lesen gibt. Und sei es in einem Fach, mit dem sie später nichts mehr zu tun haben wollen.

Es ist eine schöne Vorstellung. Ob sie auch realistisch ist, ist eine andere Frage. Bücher lesen für die Deutsch-, Englisch- oder Französisch-Matur braucht Zeit – viel mehr Zeit als eine Prüfungsvorbereitung in Mathematik, Biologie oder Physik.

KI bietet eine radikale Lösung. Lesen lassen geht viel schneller als selber lesen. Für viele Gymnasiasten ist das eine verlockende Perspektive, zumal der Schulstoff mit den neuen Grundlagenfächern Informatik sowie Wirtschaft und Recht weiter zunehmen wird. Mehr Fächer, aber nicht mehr Stunden, um sich damit auseinanderzusetzen: Der alte Grundkonflikt der Schule zeigt sich hier in seiner unschönsten Form.

Es ist verständlich, dass gestresste Gymnasiasten ihre eigenen Ideale nicht immer erreichen. Es ist nachvollziehbar, dass sie Chat-GPT fragen, ohne zu überlegen, ob es nicht auch ohne ginge. Aber das darf die Lehrer nicht aus der Verantwortung nehmen. Sie müssen ihre Schüler weiterhin davon überzeugen, dass es sich lohnt zu lesen, zu recherchieren, kritisch zu bleiben, anstatt sich abhängig zu machen von einer Maschine.

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