Mittwoch, Dezember 4

Immer mehr italienische Grossmütter werden dabei gefilmt, wie sie traditionelle Rezepte zubereiten. Sie überliefern ein Kulturgut und unterhalten ihre Follower.

Die Hände wühlen in einem Mehlhügel, es entsteht ein Krater. Es sind geschickte, alte Hände. Die Finger sind krumm, die Haut faltig, rötlich und bläulich. Sie gehören Natalina Moroni.

Moroni ist 89 Jahre alt. Eine zierliche Frau mit kurzen, braun gefärbten Haaren. Sie trägt eine einfache, rot-weisse Schürze. Die Ärmel des Wollpullovers hat sie hochgekrempelt.

«Heute gibt es Ravioli!», ruft Moroni mit ihrer leicht krächzenden Stimme. «Zuerst machen wir einen schönen Mehlbrunnen.» Dann beugt sie sich über das grosse Holzbrett, gibt Eier dazu und verrührt sie zügig mit einer Gabel.

Schnell entsteht ein riesiger Teig, den Moroni plattwalzt. Darauf verteilt sie mit den Fingern häufchenweise die Füllung, faltet den Teig zu und schneidet die Ravioli aus. Das Ganze ist untermalt von «Another Love» von Tom Odell. Ein kitschiges, melancholisches Liebeslied.

Moroni steht vornübergebeugt am Tisch in ihrer Küche in Sansepolcro, einer Kleinstadt in der Toskana in der Provinz Arezzo. Es ist eine einfache Küche. Terrazzoboden, alter Gasherd, rosa Plättchen. An der Wand hängt ein Marienbild, in der Ecke steht ein rotes Sofa mit Katzenmotiven, auf dem Regal Kupfertöpfe.

In diese Küche blicken regelmässig Millionen Menschen. Das Video, in dem man Moroni sieht, wie sie Ravioli zubereitet, wurde auf Tiktok 13 Millionen Mal angeschaut.

Auf Moronis Kanal, wo sie Nonna Natalina heisst, gibt es lauter solcher Videos. Inzwischen hat Moroni 3,6 Millionen Follower. Und sie ist nicht die einzige Nonna, die für die sozialen Netzwerke kocht.

Nonna Silvi GmbH

Meistens stehen die Enkel dahinter. Sie filmen ihre Grossmütter beim Kochen traditioneller Rezepte und verbreiten die Videos in den sozialen Netzwerken. Im Fall von Moroni ist es ihr Enkel Luca.

Mit der Reichweite kann Natalina Moroni auch etwas Geld machen, sie wirbt in den Videos für Tomatensaucen oder Pastamarken. Gerade ältere italienische Frauen, die besonders oft unter Altersarmut leiden, können sich so ein dringend benötigtes Zubrot verdienen.

Manche Frauen, beziehungsweise ihre Enkelkinder, bauen mit den Kanälen in den sozialen Netzwerken ein grosses Geschäft auf. So ist es bei Nonna Silvi, die eigentlich Silvana Bini heisst. Sie ist 83 Jahre alt und kommt aus Castelfiorentino nahe Florenz.

Bini ist das Gesicht einer beachtlichen Firma mit etwa zwanzig Angestellten, der Nonna Silvi GmbH. Der Instagram-Kanal ist nur ein Teil davon. Bini kocht nicht zu Hause wie Natalina Moroni, sondern in einer grossen industriellen Küche in der Produktionsstätte der Firma. In einem Online-Shop können Produkte der Marke Nonna Silvi gekauft werden: Sugo, Cantucci, Panettone. Auch ein Kochbuch gibt es, dieses Jahr ist es auf Deutsch erschienen.

Trotz dem grossen Betrieb im Hintergrund kocht Bini normale Portionen. Immer wieder muss sie ihren Enkel zurechtweisen: «Vai, basta, Mammamia!», ruft sie, wenn er zu viele Eier für eine Carbonara bereitstellt.

Beim Zwiebelschneiden dichtet Bini: «Du weinst, ich weine, wir alle weinen in Gottes Gnade!» («Piangi te, piango io, piangiamo tutti in grazia di dio!») Natürlich benützt sie nicht ein teures japanisches Messer, sondern ein billiges mit grünem Plastikgriff.

Mit 104 Jahren Tortellini falten

Nicht immer sind es die Enkel, die ihre Nonne berühmt machen. Einige hundert Frauen wurden etwa von der Britin Vicky Bennison ausfindig gemacht: Die «Pasta Grannies», so heisst der Kanal in den sozialen Netzwerken. Eine von ihnen ist Rosa Turri, die Bennison beim Herstellen frischer Pasta in ihrer Küche in Faenza gefilmt hat.

Bennison kaufte vor zwanzig Jahren ein Haus in den Marken und wurde dort auf ältere Frauen aufmerksam, die frische Pasta zubereiten. Sie begann, die Frauen dabei zu filmen, und hat die Rezepte inzwischen auch in Kochbüchern festgehalten.

Bennisons Motivation: ein über Generationen überliefertes Handwerk zu dokumentieren, das in Italien immer weniger verbreitet ist. Bis vor achtzig Jahren hatte jede Familie eigene Rezepte, jedes Dorf seine Sugo-Variation. Bennison hat Frauen gefilmt, die bis zu 104 Jahre alt sind und gekonnt Pasta kneten, schneiden, falten.

Die Routine der alten Signore ist beeindruckend. Alles ohne Messbecher und Waage, alles nach Gefühl. Etwa Fedora, die mit 96 Jahren Passatelli macht. Oder wenn die 104 Jahre alte Irma Tortelloni faltet. Das Geschick und die speziellen Methoden der Pastaherstellung sind Gründe, weshalb die Videos so beliebt sind.

Authentizität statt Facelift

Bei den anderen Influencer-Nonne, die alles Mögliche kochen, so wie Silvana Bini, geht es allerdings mehr um den Unterhaltungswert als um das Handwerk. Sie klopfen Sprüche, plaudern vor sich her.

Und ganz nebenbei erzählen die Frauen aus ihrem bewegten Leben: Meistens sind sie in Grossfamilien auf dem Land aufgewachsen. Sie haben erlebt, wie Soldaten im Zweiten Weltkrieg ihre Vorräte gestohlen haben, nach dem Krieg folgte der soziale Aufstieg. Sie zogen in die Dörfer, gründeten Familien.

Die Frauen schlagen eine Brücke von der Kriegszeit ins Jetzt, in Zeiten von Tiktok. Sie erzählen von den armen Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen sind. Wie sie in einem sehr ruralen Italien auf den Höfen lebten und den Gutsherren in der «mezzadria», der Halbpacht, bis in die 1950er Jahre die Hälfte des Ertrages ihres Betriebs abgeben mussten.

Wenn Natalina Moroni den Nonnakuchen, die «Torta della Nonna», bäckt, berichtet sie von ihrer Nonna Rosa, die auf sie und ihre sieben Geschwister aufpasste, von der sie Kochen und Nähen gelernt hat. Während die Mutter mit dem Vater mit dem Vieh aufs Feld hinauskonnte.

Solche Geschichten erzählen die Köchinnen unverblümt, mit grosser Leichtigkeit und trällern bald wieder vor sich hin: «Guardate che bellezza, Madama Doré!», singt Silvana Bini immer wieder in ihren Videos, ein altes Kinderlied. Dabei rührt sie kräftig ihren Sugo um und lächelt in die Kamera.

Gegenprogramm zum Bling-Bling

Dieses unbeschwerte Auftreten, der Humor, das Menschliche: Sie machen die Frauen authentisch. Genau das wollen die User. Dass die Videos oft vorhersehbar sind, stört nicht. Im Gegenteil. Wenn Silvana Bini wieder einmal Carbonara zubereitet und mahnt: «Guanciale braucht es dafür – nicht Pancetta, Guan-cia-le!», dann ist es genau das, was die Follower hören wollen. Das, was man von der eigenen Grossmutter kennt, bei der man auch genau weiss, was ihr gefällt und was nicht.

Das entschleunigte, beinahe archaische Kochen der Nonne ist das Gegenprogramm zum hektischen Bling-Bling, zu den blitzsauberen Hochglanzvideos, in denen trendige Rezepte vorgestellt werden. Ältere Damen mit runzligen Händen statt junge Influencer mit Facelift. Sie stehen in einfachen, unordentlichen Küchen statt in gut beleuchteten Studioküchen.

Die Frauen bringen Echtheit in eine Welt, in der sonst Perfektion und unerreichbare Standards gelten. Und nehmen dabei ihre Pasta, ihren Sugo sehr ernst – sich selber allerdings weniger: «Viele Grüsse von Nonna Silvi, für den Moment lebt sie noch», sagt Silvana Bini.

Exit mobile version