Dienstag, September 2

Elena Oberholzer

Als Europas Kulturhauptstadt 2025 will Chemnitz den schlechten Ruf loswerden. Eine Begegnung mit diesem Ort und den Menschen, die sagen: Hier schlummert etwas.

Chemnitz liegt im Bundesland Sachsen im Osten von Deutschland. Eine Viertelmillion Menschen leben hier. Mit einem holprigen Regionalzug fährt man von Dresden eine Stunde hin. Chemnitz ist die einzige deutsche Grossstadt, die nicht an den Fernverkehr angeschlossen ist. Eine abgeschnittene Stadt.

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Vor dem Hauptbahnhof in Chemnitz liegt ein Platz aus Beton. An einem Dienstagmorgen im Sommer ist er menschenleer, nur eine Frau mit Kind an der Hand hastet zum Bahnhofsgebäude und verschwindet darin. Daneben, an einem anderen Gebäude bei den Gleisen, prangt ein Schriftzug. In riesigen, gelb leuchtenden Lettern steht dort: «Fürchtet euch nicht.»

Chemnitz ist europäische Kulturhauptstadt 2025. Über das Jahr verteilt finden in der Stadt mehr als tausend Veranstaltungen statt, es gibt Ausstellungen, Theater, Konzerte. Chemnitz profitiert von mehr Tourismus, von mehr Leben in der Stadt. Auch der Schriftzug am Hauptbahnhof ist zu diesem Anlass angebracht worden. Er ist Teil eines Projekts von Graffitikünstlerinnen und -künstlern.

Edeltraud Höfer hat beinahe ihr ganzes Leben in Chemnitz verbracht. In diesen Wochen führt sie mehrmals täglich Touristen durch die Stadt. Auf einer Tour erzählt sie die Geschichte eines Chemnitzer Instruments, der Concertina, einer Vorgängerin des Bandoneons. Höfer ist 69 Jahre alt und hat eigentlich kaum Zeit. In diesem Jahr läuft es sehr gut, die Führungen sind den ganzen Sommer über ausgebucht. Doch nun sitzt sie in einem Café am Marktplatz und erzählt in sanftem Sächsisch von sich und von Chemnitz.

Edeltraud Höfers Vater war Bergmann im Erzgebirge. Als sie ein Kind war, zog die Familie nach Chemnitz, das damals in der DDR hiess wie eine Metropole von Weltrang: Karl-Marx-Stadt. Das war 1961. Das Zentrum war nach dem Krieg fast vollständig zerstört. Man baute es wieder auf, als sozialistische Vorzeigestadt. Noch heute ist das sichtbar. Die Strassen, die zu breit wirken, das grosse Kongresszentrum, die sieben Meter hohe Büste von Karl Marx.

«Wobei Karl Marx ja gar nie hier gewesen ist», sagt Edeltraud Höfer. Das sei doch ziemlich lustig. Sie kichert. Höfer studierte Polnisch und Russisch in Leipzig und Warschau und arbeitete als Übersetzerin. Dann kam die Wende, ihre Fähigkeiten waren nicht mehr gefragt. Durch die Wiedervereinigung wurden viele Jobs aus der ehemaligen DDR obsolet. Sie sagt: «Es hat uns alle aus der Bahn geworfen.» Höfer nahm eine Stelle bei der Landesdirektion des Freistaates Sachsen an. «Ich wollte nicht lange bleiben, doch es sind dann 28 Jahre geworden.»

Zum 60. Geburtstag schenkte sie sich selbst eine Ausbildung zur Gästeführerin. Seither führt sie Besucherinnen und Besucher durch die Museen, durchs Rathaus, durch die breiten Gassen der Chemnitzer Innenstadt. Manchmal dreht sie gar Videos für Youtube. Fragt man sie nach Tipps für Chemnitz, zählt sie auf. Eine Viertelstunde lang.

Vor sieben Jahren, im August 2018, geriet Chemnitz plötzlich in die internationalen Schlagzeilen. Zwei Asylbewerber hatten am Rande des Chemnitzer Stadtfestes einen Mann erstochen. In den Tagen darauf organisierten rechte und rechtsextreme Gruppierungen zahlreiche Demonstrationen, der AfD-Politiker Björn Höcke marschierte mit Neonazis aus ganz Deutschland durch die Stadt, es kam zu Sachbeschädigungen und Gewalttaten.

Just damals stand Chemnitz am Beginn des Bewerbungsprozesses für die Europäische Kulturhauptstadt 2025. Wer sich bewirbt, reicht ein umfangreiches Dossier mit Konzepten zu kulturellen Programmpunkten und Stadtentwicklung ein. Die Kosten tragen Gemeinde, Bundesland und Bund gemeinsam. In dem Dossier thematisierte Chemnitz die Ereignisse vom Sommer 2018. Man wollte die politische Debatte beleben. Im Dossier steht: «Während extreme politische Meinungen laut werden, schweigt die Mitte.» Diese Mitte wollte man mit der Bewerbung zur Kulturhauptstadt ermutigen. «Fürchtet euch nicht.»

Die Gästeführerin Edeltraud Höfer bekam nach den Protesten im Sommer 2018 Dutzende Mails von besorgten Touristen. Ob man in Chemnitz überhaupt sicher sei. Höfer war frustriert. Wegen der Proteste und wegen der riesigen medialen Berichterstattung. Nach den Demonstrationen gab es Gegenproteste. Für die Veranstaltung «Wir sind mehr» reisten Zehntausende aus ganz Deutschland an, auch Linksextreme. Die Zeitungen berichteten gross. Dann, einige Tage später, organisierte der Intendant des Theaters ein Konzert, nur für die Chemnitzerinnen und Chemnitzer. 6000 Menschen kamen. Dafür hätten sich die Medien nicht mehr interessiert, erinnert sich Höfer.

Der Titel Kulturhauptstadt sei die Chance, sich in ein anderes Licht zu rücken, sagt Höfer.

Ostdeutsche Hip-Hop-Hauptstadt

Chemnitz kann eine düstere Stadt sein, auch im Sommer. Mitten in der Innenstadt steht ein rundes Einkaufszentrum, das man aus jeder Himmelsrichtung betreten kann. Ältere Menschen schieben ihre Rollatoren durch die Gänge, Jugendliche treffen sich bei Coffee Fellows, dem deutschen Abklatsch von Starbucks. Sonst ist es ruhig, ab und zu wirkt es, als würden Menschen verschwinden, so leer ist es an manchen Ecken.

Felix Kummer, der Sänger der weltberühmten Chemnitzer Band Kraftklub, hat 2019 ein Soloalbum veröffentlicht. Darin verarbeitete er seine Kindheit in Chemnitz. Er singt: «Chemnitz City Swag, alles sieht irgendwie traurig aus».

Es fehle an einem gemütlichen Treffpunkt, sagen die Chemnitzerinnen und Chemnitzer, einem Ort, wo man verweilen könne. Vor einigen Jahren wollte man den Brühl-Boulevard beleben, eine Strasse etwas ab vom Zentrum. In der DDR war der Brühl eine beliebte Flaniermeile gewesen, doch nach der Wende verschwanden die Cafés und Geschäfte. Vor einigen Jahren sanierte die Stadt die Schule an der Strasse und förderte Projekte aus der Nachbarschaft, das Quartier sollte auch Familien anlocken. Heute gibt es auf dem Brühl ein Café, ein, zwei Restaurants und Bars. Es ist ein Anfang.

Im 19. Jahrhundert hatte sich Chemnitz zu einem bedeutenden Industriestandort entwickelt. Es gab Fabriken für Dampflokomotiven, Bohrmaschinen, Schreibmaschinen, es gab eine Textilindustrie. Das Stadtbild war geprägt von rauchenden Schornsteinen, man sprach vom «Sächsisches Manchester». Anfang des 20. Jahrhunderts schien es, Chemnitz würde bald zur Millionenstadt. Dann kamen die Weltkriege.

In der DDR betrieb man viele Fabriken weiter. Doch nach der Wende kam die Privatisierung, die Unternehmen suchten andere Standorte. Zwar ist Chemnitz noch heute ein wichtiges Wirtschaftszentrum mit einer Technischen Universität. Doch der Campus liegt ausserhalb der Stadt, und die Studierenden gehen nach dem Studium weg. Chemnitz hat viel Abwanderung erlebt, seit der Wende hat jede fünfte Person die Stadt verlassen.

Es gibt aber auch die, die zurückkommen. René Kästner ist 48 Jahre alt und Künstler, er leitet das Street-Art-Projekt Hallenkunst. In den letzten Jahren ist er viel gereist, hat auch einmal in Hamburg gelebt. Doch jetzt ist er hier und erzählt von Chemnitz, in seinem Büro im fünften Stock eines Hochhauses am Rande der Stadt. Wie viele Häuser erinnert das Haus an die Industriestadt, die Chemnitz war. Vor dem Krieg gehörte es einer Weberei eines jüdischen Geschäftsmannes an.

René Kästner ist in den 1990er Jahren in Chemnitz aufgewachsen, machte Graffitikunst, war in der Hip-Hop-Szene unterwegs. Kästner ist streng zu seiner Stadt, sagt Sätze wie: «Provinz ist halt Provinz. Wenn du hohe Ansprüche hast, fehlt dir schnell was.» Aber er sagt auch, dass er an Chemnitz hänge: «Ich mag das alles hier. Wenn es schlecht läuft, tut es mir weh.»

Kästner weiss, dass in diesem Ort etwas schlummert, er hat es selbst gespürt. Damals, Ende der 1990er Jahre, war Chemnitz ein Zentrum für Hip-Hop aus Ostdeutschland. Hier wurde das Splash-Festival gegründet, heute eines der grössten Hip-Hop-Festivals Europas. Sogar Eminem war hier, ehe er bekannt wurde. Die Chemnitzer Band Kraftklub ist über Deutschland hinaus bekannt, ebenso der Rapper Trettmann. Kästner sagt: «Exporte hatten wir schon immer.»

Doch Kästner kennt, klar, auch die Probleme. Das Splash wechselte Ende der 2010er Jahre die Location, das Gelände am Stausee Oberrabenstein war zu teuer geworden, seither findet das Festival in einem anderen Bundesland statt, auf einer Halbinsel in Sachsen-Anhalt. Kästner findet, die Stadt hätte das Festival halten sollen.

Bei dem Projekt Kulturhauptstadt plante Kästner von Anfang an mit. Es sei eine gute Sache, aber man müsse realistisch sein. Kästner zeigte mit seinem Team Ende August eine Ausstellung mit Bildern von siebzig Künstlerinnen und Künstlern, die aus der Street-Art- und Graffiti-Szene kommen. Er hat schon Ausstellungen in Hamburg oder Paris gemacht. Er meint: «In Chemnitz werden wir so etwas ohne Subventionen wahrscheinlich nicht wieder machen können.»

Und da ist noch ein anderes Thema, das René Kästner bewegt. Es sind die Erinnerungen ans Jahr 2018 und die Frage, wie Chemnitz in Zukunft mit rechtsextremen Gruppierungen umgehen wird. Jetzt scheine die Problematik verschwunden, sagt der Künstler. Aber: «Wenn es nächstes Jahr wieder knallt mit den Nazis, ist das vielleicht alles Schall und Rauch.»

Chemnitz hat eine lange Geschichte mit rechtsextremer Gewalt. In der Zeit nach der Wende zogen rechte Schlägertruppen durch die Stadt, sie griffen Ausländer und Linke an, die Zeit ist heute bekannt als «Baseballschlägerjahre». Bei der Eröffnungsfeier zur Kulturhauptstadt im Januar organisierten die Freien Sachsen eine Demonstration. 200 Personen nahmen teil. Die Partei steht rechts der AfD und hat bei den Kommunalwahlen in Chemnitz im vergangenen Jahr fast 5 Prozent der Stimmen geholt.

Im Rahmen der Kulturhauptstadt hat Chemnitz ein NSU-Dokumentationszentrum gebaut, es steht mitten in der Stadt. Es beschäftigt sich mit den Strukturen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), eines der grössten Netzwerke rechtsextremer Gewalt in Deutschland. Im Bundesland Sachsen war der NSU besonders aktiv. Die Ausstellung zeigt die Geschichte der zehn Opfer, die in ganz Deutschland von Mitgliedern des NSU ermordet wurden. Das Zentrum soll Modell für weitere Zentren in Deutschland werden.

Immerhin sind die Mieten tief

Zu Beginn des Bewerbungsprozesses für die Kulturhauptstadt waren viele Chemnitzerinnen und Chemnitzer skeptisch gewesen. Vielleicht fürchtete man sich davor, sich zu präsentieren. So sagt es die Gästeführerin Edeltraud Höfer. Viele hätten gefragt: Warum denn ausgerechnet wir? Doch für den Moment scheint die Angst verschwunden. Wenn sie durch die Stadt laufe, sagt Edeltraud Höfer, da sehe sie Einheimische, die Besuchern ihre Stadt erklärten.

Viele sind voller Eifer, engagieren sich freiwillig. Zum Beispiel für das grösste Projekt der Kulturhauptstadt: «3000 Garagen». In Chemnitz gibt es 30 000 Garagen, es ist eine Besonderheit des Ostens. In der DDR bauten die Menschen Garagenhöfe, sie werden bis heute benutzt. In diesem Jahr haben 3000 Menschen ihre privaten Garagen geöffnet, auf den Arealen gibt es Feste und Ausstellungen. Darüber hinaus hat Chemnitz anlässlich der Kulturhauptstadt über dreissig Plätze in der Stadt und im Umland gebaut, saniert, neu gestaltet. Chemnitz bekommt einen neuen Park und einen Platz, auf dem Quartierfeste und Weihnachtsmärkte stattfinden sollen.

René Kästner und seine Leute vom Projekt Hallenkunst haben in den vergangenen Monaten in der Innenstadt leere Flächen bemalt. Zunächst nutzten die Künstlerinnen und Künstler Flächen, die die Stadt zur Verfügung stellte. Nach und nach meldeten sich Privatbesitzer. Sie wollten auch ein Kunstwerk an ihrer Fassade.

Auch der Schriftzug «Fürchtet euch nicht» vom Hauptbahnhof stammt von ihnen. Es ist ein christlicher Satz, er kommt an Dutzenden Stellen in der Bibel vor. Im Jahr 1989, in den letzten Monaten der DDR, wurden Kirchen zum Treffpunkt des Widerstands gegen den Staat. «Fürchtet euch nicht» stand damals in Ostdeutschland für den friedlichen Aufstand gegen das Regime.

Kästner hofft, dass all die Projekte junge Menschen nach Chemnitz locken. Wenn sie nichts erwarteten, dann könne die Stadt sie überraschen. Vielleicht kämen sie dann wieder. Immerhin seien die Mieten tief. Immerhin.

Überhaupt hat Chemnitz etwas, das kaum eine deutsche Metropole zu bieten hat: Raum. Nach der Wende standen unzählige Gebäude leer, manche noch heute. Das ist manchmal trostlos. Aber auch eine Chance. René Kästner sagt: «Ja, in Chemnitz gibt es wenig zu feiern. Ja, die Anbindung ist Scheisse. Aber wir haben Platz.»

Den Namen Europas Kulturhauptstadt trägt Chemnitz noch bis Ende des Jahres. Schon 2026 muss die Stadt sparen, auch im Bereich der Kultur. So flüchtig ist dieses grosse Projekt. Im Frühjahr protestierten Aktivistinnen gegen die Kürzungen und besetzten das Schauspielhaus. Eine der grossen Fragen, die man sich in Chemnitz wird stellen müssen, ist: Was bleibt von diesem Jahr?

Doch jetzt, an einem warmen Sommerabend, spielt im Stadthallenpark im Zentrum eine Band jazzige Pop-Musik, Kinder schubsen sich auf der Wiese herum, alte Pärchen tanzen zögerlich. Ein junger Mann mit umgehängter Sporttasche bleibt stehen, filmt die Szene. Applaus. Der Sänger ruft ins Mikrofon: «Es regnet nicht, ihr seid da, es ist schön.» Ein alter Mann läuft in Richtung Strassenbahnhaltestelle und sagt zu sich oder vielleicht zur Stadt: «Also, so schlecht war das heute nicht.»

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