Freitag, November 29

China vermarktet seine Medaillengewinner der Paralympics als Symbolfiguren für den sozialen Staat. Doch die Para-Athleten sind in der Volksrepublik eine abgeschottete Elite.

Ein Gradmesser für Erfolg bei den Paralympics sind Medaillen. Nach diesem Massstab ist die Volksrepublik China seit den Spielen 2004 in Athen die erfolgreichste Nation. Immer mit den meisten Medaillen, immer mit grossem Abstand zu anderen Ländern. Auch bei den diesjährigen 17. Sommer-Paralympics in Paris dominierte China mit 220 Medaillen, das sind fast 100 mehr als Grossbritannien auf Rang 2.

Doch man könnte auch einen anderen Gradmesser anlegen. Wie sehr wirkt sich der sportliche Erfolg einer Nation auf den Alltag von Menschen mit Behinderungen aus? Auf ihre Sichtbarkeit, ihre Gesundheitsvorsorge, auf ihre Bildungschancen oder auf dem Arbeitsmarkt? «Die Effekte der Paralympics auf die Gesellschaft in China sind sehr gering», sagt der britische Wissenschafter Stephen Hallett, der eine Sehbehinderung hat und lange in China gelebt hat. «Die Teilnehmer der Paralympics sind eine Elite. Diese Gruppe steht nicht für Teilhabe, sondern eher für Abschottung.»

Jahrhundertelang galten Menschen mit Behinderungen in China als Belastung, auch wegen tief verwurzelter Traditionen. Im Konfuzianismus wurden gesunde Kinder als ideal angesehen, weil sie die Familienlinie fortschreiben und ältere Angehörige pflegen konnten.

Im Buddhismus galt eine Behinderung mitunter als Strafe für ein früheres Leben. Vor allem auf dem Land wurden behinderte Menschen in China versteckt. Die wenigen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen stammten aus dem 19. Jahrhundert und waren von christlichen Missionaren gegründet worden.

Der querschnittgelähmte Deng Pufang gründete Sondereinrichtungen

Es musste schon eine einflussreiche Persönlichkeit sein, die dieses System herausforderte. 1988 gründete Deng Pufang den Chinesischen Behindertenverband. Der Sohn des Führers der Kommunistischen Partei Deng Xiaoping war während der Kulturrevolution von Rotgardisten gefoltert und aus einem Fenster gestossen worden. Seitdem war Deng querschnittgelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Mit seinem Verband brachte Deng in den 1990er Jahren Hunderte Sondereinrichtungen für behinderte Menschen auf den Weg: Schulen, Pflegeheime und Sportstätten.

«Dieser Verband war relativ verschlossen und wirkte eher wie ein staatliches Kontrollgremium», sagt Stephen Hallett. «Menschen mit Behinderungen, die nicht im Parteiapparat vernetzt waren, konnten kaum Ideen einbringen.» Und so verfestigte sich die Abschottung von behinderten Menschen.

Anfang des Jahrtausends sah es nach einem Wandel aus. 2001 wurden die Olympischen und damit auch die Paralympischen Spiele für 2008 nach Peking vergeben. In einem relativ offenen gesellschaftlichen Klima setzten sich Aktivisten und NGOs für die Rechte behinderter Menschen ein. Als einer der ersten Staaten ratifizierte die Volksrepublik die neue Behindertenrechtskonvention der Vereinen Nationen. In diesem Übereinkommen wurde ausdrücklich die Inklusion von Menschen mit Behinderungen festgeschrieben, ihre gleichberechtigte Teilhabe.

Im Sport würde das bedeuten, dass Schwimmhallen, der Schulunterricht oder Trainerkurse für Menschen mit und ohne Behinderungen gleichermassen zugänglich sind. Aber erneut setzte China auf einen Sonderweg. In einem Vorort von Peking wurde das weltweit grösste paralympische Trainingszentrum errichtet. Hunderte Spezialschulen und Krankenhäuser auf dem Land sollten Jugendliche mit frischen Amputationen an die lokalen Sportbüros melden. So wurden jährlich mehrere tausend Menschen für paralympische Sportarten gesichtet. Bis heute.

In China leben 80 Millionen Menschen mit Behinderungen

Die Auswahl ist gross, denn in China leben rund achtzig Millionen Menschen mit Behinderungen. «Die Sportler müssen monatelang in spartanischen Unterkünften leben», sagt Stephen Hallett, der an der Universität Leeds forscht. «Wer sich nicht schnell genug entwickelt, wird wieder aussortiert.»

Und selbst die vielen Medaillengewinner stehen nach ihren Laufbahnen oft vor dem Nichts. Sportler mit einer Sehbehinderung sind dann häufig als Masseure tätig. Netzwerke zwischen Sport und Arbeitsvermittlung bestehen selten.

Die Vereinten Nationen haben in China mehrfach angemahnt, dass neue Rampen, Leitsysteme oder rollstuhlgerechte Busse in Peking oder Schanghai nicht für ein zeitgemässes Inklusionskonzept ausreichen. Die Kommunistische Partei und Präsident Xi Jinping weisen solche Hinweise als westliche Bevormundung zurück. Stattdessen deuten sie die paralympische Dominanz als Überlegenheit gegenüber den politischen Rivalen aus den USA und Europa. Und innenpolitisch vermarkten sie ihre Medaillengewinner als Symbolfiguren für den sozialen Staat.

Doch das ist Propaganda. Es ist richtig, dass seit den Paralympics 2008 in Peking zunehmend Menschen mit Behinderungen im chinesischen Fernsehen gezeigt werden. Behörden und Unternehmen haben Beschäftigungsquoten für behinderte Arbeitnehmer verabschiedet. Doch die Umsetzung läuft schleppend.

Das Gesundheitssystem ist von einem europäischen Standard weit entfernt. Die Kommunistische Partei ist darauf angewiesen, dass Familien ihre Angehörigen mit schweren Behinderungen selbst betreuen. Nach Jahrzehnten des Wachstums hat es China mit einer alternden Gesellschaft zu tun. Der Anteil von Menschen mit Behinderungen wird weiter wachsen, auch wegen Umweltschäden und früherer Abtreibungen als Folge der Ein-Kind-Politik. Tausende Familien, die sich davon überfordert fühlen, setzen ihre behinderten Kleinkinder weiterhin vor Krankenhäusern und Heimen aus.

Seit nunmehr zwanzig Jahren überdeckt die chinesische Dominanz bei den Paralympics, dass behinderte Menschen in der Volksrepublik abgeschottet sind. Auch das Internationale Paralympische Komitee (IPK) und viele westliche Para-Athleten meiden eine kritische Debatte darüber. Schliesslich würden sie damit auch die positive Inklusionserzählung ihrer Bewegung relativieren. Und China bleibt einer der grössten Wachstumsmärkte für Sponsoren und Orthopädie. Unter den chinesischen Medaillengewinnern ist der Anteil von Sportlern mit Prothesen geringer als in den USA, Grossbritannien oder in den Niederlanden.

Es ist eine Frage der Zeit, bis auch chinesische Leichtathleten mit Hightech-Prothesen Medaillen gewinnen. Aber was wäre der Effekt für die Gesellschaft? «Der Sport könnte in der Gesundheitsvorsorge und Rehabilitation von Unfallopfern eine grössere Rolle spielen», sagt der Forscher Stephen Hallett. «Und die Paralympics-Sieger könnten dafür die perfekten Botschafter sein.» Zumindest in der Theorie.

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