Donnerstag, November 13

Indien will die Beziehungen zu Russland nicht abbrechen, auch wenn es von seinen westlichen Partnern dafür kritisiert wird. Delhi kann seinerseits kaum verstehen, warum die Europäer nicht mehr Abstand zu China nehmen.

Herr Mohan, die Beziehungen zwischen Indien und China sind angespannt, geradezu feindselig. Sind die beiden Länder Feinde?

Wir haben ernsthafte Differenzen – und die Beziehungen sind so schlecht wie seit den 1960er Jahren nicht mehr. Die beiden Länder sind sicher Gegner, ich würde aber nicht so weit gehen, sie als Feinde zu bezeichnen. Denn wir sind auch Nachbarn und betreiben immer noch Handel. Wir müssen lernen, miteinander zu leben.

Was ist der Grund für das angespannte Verhältnis?

Auslöser war der Galwan-Zwischenfall 2020/21 . . .

. . . dabei kamen zwanzig indische Soldaten ums Leben. Das war ein gewaltiger Schock für Indien, nicht?

Ja, denn zum ersten Mal innerhalb von fünfzig Jahren gab es Tote. Wir hatten während Jahrzehnten ein Abkommen, das unter anderem besagte, dass keine Seite grosse Truppenverbände in die Grenzregion verlegen soll. Doch dann brach China diese Abmachung auf einmal.

Zur Person

C. Raja Mohan – Experte für indische Aussenpolitik

C. Raja Mohan ist Distinguished Fellow am Asia Society Policy Institute und Gastprofessor am Institut für Südasien-Studien der National University of Singapore. Er war Mitglied eines Expertengremiums, das den indischen Rat für nationale Sicherheit berät.

Ganz im luftleeren Raum passierte das aber nicht . . .

Nein. Der Hintergrund ist, dass China entlang der umstrittenen Grenze im Himalaja die Infrastruktur ausgebaut hat. Peking hat sich stark modernisiert und glaubt, seine Gebietsansprüche nun einlösen zu können. China gibt fünfmal so viel für seine Streitkräfte aus wie Indien. Wir haben ein Handelsbilanzdefizit von 100 Milliarden Dollar mit China. Und dann ist China militärisch auch im Indischen Ozean immer stärker präsent.

Kann Indien bei den viel grösseren Rüstungsausgaben Chinas mithalten?

Nein. Wir haben zwar Stärken – etwa dass wir keinen Mangel an Soldaten haben. Unsere Armee kann also China entgegenhalten. Im maritimen Bereich brauchen wir allerdings Partnerschaften, wie mit den USA.

China sagt: «Lasst uns die Grenzfrage zur Seite legen und wie früher Handel treiben.» Für Indien scheint das keine Option zu sein.

Für uns ist klar: Zuerst muss die Grenzfrage gelöst werden. Dann erst kann es einen politischen Dialog geben. Dreissig Jahre lang haben wir die Grenzfrage zur Seite gelegt – und dann ist uns China in den Rücken gefallen. Indien traut China nicht mehr.

Mit seinem ständigen Druck scheint China Indien in die Arme der USA zu treiben . . .

Indiens traditioneller Reflex ist die Neutralität, sich keinem Block anschliessen zu wollen. Die Chinesen dachten wohl, dass Indien nach einen Schlag wie Galwan nichts tun würde.

Da haben sich die Machthaber in Peking aber verspekuliert . . .

China glaubt, so stark zu sein, dass es andere Länder schikanieren kann. Damit hat China Japan dazu gebracht, sich von seiner pazifistischen Politik zu verabschieden. Und es hat die Philippinen wieder ganz ins amerikanische Lager getrieben. Peking scheint das aber nicht als Problem zu sehen. Es denkt sich: «Probleme mit den Amerikanern lösen wir von Grossmacht zu Grossmacht. Alle anderen müssen sich mit uns arrangieren.»

Gleichzeitig zweifeln viele Länder in der Region auch immer wieder, dass die USA ein wirklich vertrauenswürdiger Partner sind. Vertraut Indien den USA?

Darum geht es gar nicht. Wir müssen unsere eigenen Fähigkeiten zur Verteidigung ausbauen. Und da ist die Partnerschaft mit den USA hilfreich. Und als Demokratie haben wir mit dem Westen mehr gemeinsam als mit China.

China ist mit seiner Marine auch zunehmend im Indischen Ozean präsent. Warum macht das Indien Sorgen?

Solange sich China nicht bedrohlich verhält, lässt sich dagegen nichts einwenden. Es war eine Frage der Zeit, bis China als grosse Handelsnation im Indischen Ozean auch mit seiner Marine präsent sein würde. Aber wenn es beginnt, Militärbasen zu bauen, etwa in Pakistan oder Sri Lanka, dann ist das ein Problem für uns. Der Westpazifik ist bereits von einer chinesischen Hegemonie bedroht. Wir brauchen die USA und ihre Alliierten, damit dies nicht auch im Indischen Ozean geschieht.

Mit Sri Lanka und den Malediven haben sich gleich zwei Nachbarländer Indiens in jüngster Zukunft China zugewandt. Beunruhigt Sie das?

Wir dürfen uns nicht zu sehr beeindrucken lassen, wenn nach einer Wahl ein Land die Ausrichtung ändert. Wir sollten weiterhin ein guter Nachbar sein, diesen Ländern beistehen und den Handel entwickeln. Und wir sollten geduldig sein: Bei den nächsten Wahlen kann sich wieder alles ändern.

China baut auch sein Atomarsenal aus. Wie besorgniserregend ist das für Indien?

Das wird in Indien leider viel zu wenig diskutiert. Wenn China die Zahl seiner Atomsprengköpfe erhöht und auch die Einsatzdoktrin ändert, dann muss uns das beschäftigen.

Soll Indien als Antwort darauf auch sein Atomwaffenarsenal erweitern?

Irgendwann wahrscheinlich schon. Aber das ist nicht dringend, und die Kosten setzen uns Grenzen.

Indien ist Mitglied der Brics, wo China eine führende Rolle spielt. Warum arbeitet Indien in dieser Gruppierung mit?

Die Brics ist eine Schwatzbude. China und Russland versuchen, die Brics in eine antiwestliche Plattform zu verwandeln. Man kann sich schon fragen, was Indien da macht, wenn China unser Rivale und die USA unser Freund sind. Wir bleiben dabei, um zu verhindern, dass die Brics komplett von China dominiert wird.

Im Gegenzug könnte man argumentieren, dass Delhi dafür sorgt, dass die Quad – wo Indien mit den USA, Australien und Japan zusammenarbeitet – nicht zu einer antichinesischen Front wird . . .

Wir haben eine 4000 Kilometer lange Grenze mit China – kein anders Quad-Land hat das. Wir müssen eine Balance finden mit China. Wir sind das einzige traditionell blockfreie Land in der Quad. Allein das ist ein Gewinn für die USA.

Für Indiens Partner in der Quad, aber auch viele Europäer ist es schwierig zu verstehen, dass Delhi auch nach dem russischen Überfall auf die Ukraine noch enge Beziehungen zu Moskau pflegt.

Europa ist verärgert, dass wir die Beziehungen mit Russland nicht abbrechen – doch Europa tanzt weiterhin mit Xi Jinping, wenn es ihm passt. Frankreichs Präsident Macron sagt: «Ich will strategische Autonomie von den USA, ich will mit China handeln.» Was sagt uns das? Europa verfolgt ganz einfach seine Eigeninteressen. Und so ist es in unserem Eigeninteresse, eine funktionierende Beziehung mit Russland zu haben.

Warum denn?

Ehrlich gesagt, das ist eine Beziehung auf dem absteigenden Ast, etwa bei den Waffenlieferungen. Aber Russland ist auch wichtig für die Kräftebalance in Asien. Diese Option wollen wir nicht verschenken. Während wir uns dem Westen annähern, müssen wir das Problem Russland handhaben. Wir sind sicher nicht mehr so eng mit Russland verbunden, wie wir es während des Kalten Kriegs waren.

Hat Indien bei den Waffen überhaupt eine Wahl? In den nächsten Jahren wird die russische Rüstungsindustrie vor allem damit beschäftigt sein, die Löcher zu stopfen, die der Krieg in der Ukraine in die eigenen Arsenale gerissen hat.

Wir kaufen ja immer häufiger amerikanische, europäische oder israelische Waffen. Und wir wollen unsere eigene Produktion ausbauen. Wir sagen jedem westlichen Kapitalisten: «Bitte investiert in die indische Rüstungsindustrie.» Aber die Neuausrichtung braucht Zeit.

Russland hat eine «Freundschaft ohne Grenzen» mit China deklariert – dem Land, das die grösste strategische Bedrohung für Indien ist. Wie kann Delhi unter diesen Vorzeichen Moskau als zuverlässigen Partner sehen?

Dazu gibt es in Indien eine grosse Debatte. Die einen sagen, Russland werde nie ein Vasall Chinas werden und dass wir darum unsere Optionen offenhalten sollten. Andere argumentieren, dass Russland bereits Chinas Juniorpartner sei und dass wir uns daher enger an die Amerikaner anlehnen sollten. Aber überlegen Sie sich einmal: Was machen wir, wenn morgen Trump einen Deal mit Russland macht? Wo steht Indien dann?

Wie solide ist denn die Partnerschaft Indiens mit den USA?

Das Handelsvolumen beträgt bereits 200 Milliarden Dollar. Die Rüstungsgeschäfte nehmen zu, auch die Zusammenarbeit im Technologiebereich. Und fünf Millionen Amerikaner haben indische Wurzeln – so etwa Kamala Harris. Natürlich vertreten diese Menschen nicht indische Interessen. Aber sie sind mit der indischen Kultur und Sprache vertraut. Das macht es einfacher, die Beziehung zu vertiefen.

Kritiker sagen, dass die Demokratie in Indien unter Druck sei. Westliche Länder schreckten aber davor zurück, die Regierung von Premierminister Modi dafür zu kritisieren, weil sie ihn im Kampf gegen China brauchten. Ist da etwas dran?

Der Westen hat während vierzig Jahren mit China geschäftet. Solange sich da gut Geld verdienen liess, hat kaum jemand nach Demokratie gefragt. Das Gleiche gilt für Saudiarabien. Ich glaube nicht an diese westliche Phrasendrescherei in Sachen Demokratie. Der Westen hat ja nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan dort auch den Jihad unterstützt. Es soll uns also niemand predigen. Die gleichen Typen, die für den Kolonialismus verantwortlich waren, wollen uns nun sagen, was richtig und was falsch ist?

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