Freitag, November 29

Die China-Expertin Anne Stevenson-Yang argumentiert in ihrem neuen Buch «Wild Ride», dass Chinas Experiment mit dem Kapitalismus gescheitert ist. Im Interview sagt sie, weshalb Peking die Wirtschaft nun wieder schliesst – und was sich daraus für Konsequenzen für die Märkte ergeben.

China hält die Finanzmärkte in Atem. Nachdem der Wachstumsschub der Wirtschaft die Fantasie an den Börsen in den vergangenen Jahrzehnten angeregt hat, dämpfen heute der Kollaps des Immobilienmarkts und die konjunkturelle Flaute die Stimmung.

Hinzu kommen die Spannungen mit dem Westen. Im Brennpunkt des geopolitischen Konflikts steht der Tech-Sektor. Westliche IT-Konzerne wie Apple diversifizieren ihre Lieferketten, um die Abhängigkeit vom Produktionsstandort China zu reduzieren. Derweil werden die US-Exporteinschränkungen für führende Unternehmen aus der Halbleiterindustrie wie Nvidia und ASML immer schärfer. Mit dem verordneten Zwangsverkauf der Social-Media-App TikTok geht Washington jetzt auch gegen chinesische Internetkonzerne mit Präsenz in den USA vor.

Wie geht es mit China weiter? Hilfreiche Anhaltspunkte dazu gibt das neue Buch «Wild Ride: A short history of the opening and closing of the Chinese economy» von Anne Stevenson-Yang (hier ein Beschrieb dazu). Wenige Beobachterinnen kennen sich mit der Materie so gut aus wie die Amerikanerin, die mehr als 25 Jahre in der Volksrepublik gelebt hat und die auf Short-Ideen spezialisierte Firma J Capital Research leitet.

Im ausführlichen Interview erklärt Stevenson-Yang, wie sie persönlich den Aufstieg Chinas von einem rückständigen Agrarstaat zur globalen Wirtschaftsmacht erlebt hat, warum der präzedenzlose Expansionsschub in der heutigen Krise endete und weshalb sie glaubt, dass der Trend in Zukunft noch stärker in Richtung Isolation geht.

Viel Vergnügen bei der Lektüre. Wenn Sie lieber die englische Originalversion lesen möchten, finden Sie sie hier.

Frau Stevenson-Yang, in Ihrem neuen Buch «Wild Ride» stellen Sie die These auf, dass Chinas Experiment mit dem Kapitalismus gescheitert ist. Was lief schief?

Im Prinzip konnte es gar nie gut gehen. Im Westen löste Chinas rasantes Wachstum in den letzten vier Jahrzehnten Begeisterung aus, während zugleich auch Konkurrenzängste aufkamen. Ich fand das immer übertrieben, zumal Japan in den Achtzigerjahren in ähnlichem Licht betrachtet wurde. Damals waren alle besorgt über Japans rasanten Aufstieg und befürchteten, dass Amerika bald als grösste Wirtschaft abgelöst werde. Japanische Investoren kauften prestigeträchtige US-Vermögenswerte wie Filmstudios und das Rockefeller Center in New York auf. Doch schliesslich brach Japans investitionsgetriebene Wirtschaft zwangsläufig zusammen. Ich glaube, dass die Situation in China heute ähnlich ist, aber auf Steroiden.

Der Aufstieg Chinas zur globalen Wirtschaftsmacht ist eine der wichtigsten Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit. Hatte ein marktwirtschaftliches System überhaupt jemals eine Chance, sich dauerhaft zu etablieren?

Ich glaube, solche Hoffnungen beruhten auf einem Missverständnis. Als das Land in den Achtziger- und Neunzigerjahren eine rasche Liberalisierung erlebte, war die Zuversicht gross. Das Leben in China wurde viel freier, es gab eine Fülle von Arbeitsmöglichkeiten, die Einkommen stiegen, und das Angebot an Waren und Produkten nahm explosionsartig zu. Als ich Anfang der Achtzigerjahre erstmals nach China kam, war das Land im Vergleich dazu eine öde kommunistische Gesellschaft, in der sich die Menschen gegenseitig mit «Genosse» ansprachen. Es gab bloss blaue, weisse oder graue Kleidung, und die Auswahl an Lebensmitteln war stark eingeschränkt.

Und dann?

Bereits Ende der Achtzigerjahre hatten sich die Dinge drastisch verändert. Es war berauschend, wie die Kunst aufblühte, mit Rockmusik und klassischen Konzerten, expressionistischen Gemälden und Ausstellungen, die ein wenig gewagt waren. Wir hatten damals sogar ein Improvisationstheater in Peking. Aber dies als Fortschritt auf dem Weg zu einer liberalen Demokratie zu verstehen, erwies sich als Trugschluss. China ist eine Gesellschaft, die sich am leninistischen Russland orientiert, nicht an freiheitlichen Prinzipien, wie sie mit der Unabhängigkeit der USA in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufkamen. In Wirklichkeit war Chinas wirtschaftliche Öffnung nur ein strategischer Versuch der Kommunistischen Partei, Kapital anzuziehen; wohl wissend, dass sich die Türen irgendwann wieder schliessen werden – und genau das geschieht jetzt.

Was gab den Anstoss, die Wirtschaft zu öffnen, um internationales Kapital anzuziehen?

Nach der von Armut und strikten Kontrollen geprägten maoistischen Ära wollte Chinas Führung unter Deng Xiaoping die Macht in den frühen Achtzigerjahren konsolidieren und Zuspruch der Bevölkerung gewinnen. Der Fokus richtete sich deshalb auf Wachstum, wozu die Kontrollen gelockert wurden. Bauern beispielsweise durften ihre eigenen Feldfrüchte entsprechend den örtlichen Gegebenheiten anbauen und verkaufen, solange sie bestimmte Quoten erfüllten; zum Beispiel Kaffee auf saurem Boden in hügeligen Regionen. Man kann sich heute kaum vorstellen, welcher Wohlstand dank solcher Veränderungen geschaffen wurde und wie viel glücklicher die Menschen waren.

Was war der Wendepunkt, an dem das kapitalistische Experiment zu scheitern begann?

Es gab zwei Schlüsselmomente. Beide drehten sich darum, dass die Kommunistische Partei die Kontrolle behalten wollte, obwohl Wirtschaft und Gesellschaft immer komplexer und vielfältiger wurden. Der erste Schlüsselmoment waren die Proteste und das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989. In China entstanden zu dieser Zeit überall neue Unternehmen und Geschäfte. Die Bürokratie hatte Mühe, mit diesem Tempo Schritt zu halten, was zwangsläufig zu einer regulatorischen Lockerung führte. Infolgedessen begannen Einzelpersonen und Gruppen, ihre neu gewonnene Autonomie und Rechte vermehrt geltend zu machen.

Und das wurde zu einem Problem für das Regime in Peking?

Ja. Die Leute forderten einen grösseren Anteil am wirtschaftlichen Wohlstand. Proteste weiteten sich zu grossen öffentlichen Demonstrationen aus, was die Partei als Bedrohung empfand. Die Proteste wurden gewaltsam unterdrückt, Menschen erschossen und mit Panzern überrollt. Die Zentralregierung reorganisierte daraufhin die Bürokratie und die Wirtschaft, um ihre Macht zu festigen. Ziel war es, eine stärkere Kontrolle über wichtige Aspekte wie die Ernennung von Personal in lokalen Verwaltungen sicherzustellen. Dies markierte eine entscheidende Wende hin zu einem autoritäreren Ansatz, um ähnliche Angriffe auf die Machtstellung der Partei in Zukunft zu verhindern.

Was war der zweite Wendepunkt?

Die Olympischen Spiele, rasch gefolgt von der globalen Finanzkrise. Die Olympischen Spiele waren ein Versuch Chinas, sich international in ein gutes Licht zu rücken. Man hätte denken können, dass es eine Art grosse Party im eigenen Land werden sollte; eine gute Zeit für alle. Doch das war nicht der Fall. Vielmehr ging es der Regierung darum, nach aussen Stärke zu demonstrieren, und die Repression wurde noch intensiver. Dann wurde Chinas Führung von der Finanzkrise erschüttert. Sie befürchtete, dass der finanzielle Druck zum Zusammenbruch ihrer Macht führen könnte. Als Reaktion darauf lancierte sie ein gigantisches Stimulusprogramm. Doch auch wenn sich der Boom damals gut anfühlte, weil so viel Geld im Umlauf war, entstanden dadurch letztlich viel mehr Probleme.

Die Folgen sind heute deutlich ersichtlich. Die Monsterblase im Immobiliensektor ist geplatzt, und Chinas Wirtschaft steckt in der Krise. Wie schlimm ist die Lage?

Ziemlich schlimm. Die Menschen sind deprimiert, wozu der jahrelange Lockdown während der Pandemie beigetragen hat. In dieser Zeit wurden die Leute unruhig und unzufrieden mit der Regierung. Als der Lockdown dann abrupt endete, erwarteten alle, die Wirtschaft würde sofort wieder in Gang kommen. Doch diese Hoffnungen sind verblasst. Der Arbeitsmarkt bleibt schwach. Leute, die früher von Headhuntern für eine Anstellung zu einem Jahresgehalt von 100’000 $ angeworben wurden, können jetzt nicht einmal mehr eine Stelle mit einem Monatslohn von 500 $ finden. Weil die Menschen tief verunsichert sind, zögern sie, ihre Ersparnisse auszugeben, was den Abschwung weiter verschärft.

Wie steht es um die Perspektiven im Immobilienmarkt?

Während Chinas Immobilienboom befanden sich viele Menschen in einem tranceähnlichen Zustand, hypnotisiert von der schnellen Transformation. Sie spazierten durch die riesigen Immobilienprojekte im ganzen Land, von denen viele völlig leer standen, und redeten sich und anderen ein, diese Geisterstädte würden bald einem Ort wie der Schweiz gleichen. Doch nun fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen, wenn sie auf die dunklen Wohntürme blicken und die harte Realität erkennen: Sie verstehen, dass sie mitten in einem gescheiterten Bauprojekt feststecken, das nie fertig wird.

Wie lange, glauben Sie, wird es dauern, bis die Krise überwunden ist?

Die eigentliche Frage ist: Wie lange wird es dauern, bis die Schulden abgebaut sind? China ist nicht in einer Situation, in der man das Schuldenproblem einfach durch Wachstum lösen kann, denn das Wachstum wurde künstlich durch Schulden erzeugt. Organisches Wachstum existiert in der chinesischen Wirtschaft gegenwärtig nicht.

Was bedeutet das für die Konjunkturaussichten in den kommenden Jahren?

Der Zentralregierung, wenn sie die Kontrolle behalten sollte, stellen sich im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: erstens, Geld drucken und Schulden zurückzahlen. Aber das würde zu enormer Inflation führen und den Wert des Renminbis zum Dollar von heute 1:7 auf mindestens 1:10 abschwächen. Die Regierung zögert bislang aus verschiedenen Gründen mit einer Abwertung. Zum Beispiel müsste das Kader der Partei selbst empfindliche Einbussen in Kauf nehmen, weil ein Grossteil seines Vermögens in Renminbi angelegt ist, unter anderem in Aktien und Immobilien. Auch würden sich Importe nach China extrem verteuern. Ebenso würde es die Bevölkerung mental schwer erschüttern, zumal sich die Menschen, daran gewöhnt haben, die Welt zu bereisen und stolz auf die wirtschaftliche Stärke sowie den Status ihres Landes zu sein.

Was wäre die zweite Möglichkeit?

China würde für einen längeren Zeitraum in eine Rezession fallen. Keine der beiden Möglichkeiten ist also wirklich akzeptabel. Ich glaube, die Regierung wird sich dafür entscheiden, Geld in die Wirtschaft zu pumpen, weil das letztlich die einzige Option ist. Und dann wird China keine andere Wahl haben, als noch repressiver, verschlossener und kälter zu werden, als es bereits der Fall ist.

Warum würde eine grössere Infusion von Liquidität mit einer strengeren Abschottung einhergehen?

Wenn China die Wirtschaft mit Geld überschwemmt und den Renminbi abwertet, werden ausländische Direktinvestitionen, Finanzinvestitionen und generell das Interesse am Land an den Märkten abnehmen. Ausserdem wird das Vertrauen der chinesischen Verbraucher empfindlich geschwächt. Vermögenswerte wie Immobilien werden drastisch an Wert verlieren, was zu grosser Unzufriedenheit führt. Um sich an der Macht zu halten, muss das Regime deshalb in der Bevölkerung mehr Misstrauen bezüglich der nationalen Sicherheit wecken, die Grenzen schliessen und repressive Massnahmen verstärken.

Wie stark ist die Position von Xi Jinping und dem Top-Kader der Kommunistischen Partei?

Wie ich in unserem letzten Gespräch vermutete, kam es möglicherweise nach dem grossen Parteitag vom Oktober 2022 zu einer Art sanftem internen Coup. Doch wer weiss schon, was an der Parteispitze wirklich vor sich geht? Nach aussen hin sieht es so aus, als seien Xi Jinping und seine Entourage enorm mächtig. Ob das aber tatsächlich stimmt, ist schwer zu sagen, denn die Politik in China ist extrem intransparent. Interessant ist, dass sich die Zentralregierung äusserst besorgt über eine mögliche Finanzkrise zeigt. Das lässt sich unter anderem daran erkennen, dass sie vor kurzem eine Direktive erlassen hat, wonach Kommunalverwaltungen nur noch Kredite zur Rückzahlung bestehender Schulden erhalten, nicht aber zur Finanzierung neuer Projekte.

Wie stehen demnach die Chancen, dass die Regierung ähnlich wie während der letzten Finanzkrise von 2008/09 erneut umfangreiche Stimulusmassnahmen ergreift?

Ich bin skeptisch, dass ein Konjunkturpaket zum jetzigen Zeitpunkt wirksam wäre, da es dermassen viel Geld erfordern würde. Die faulen Kredite im Bankensystem, die China offiziell anerkennt, belaufen sich auf 40% des Bruttoinlandprodukts. Tatsächlich sind es wahrscheinlich aber eher 60% – eine unüberwindbare Last. Jeder Versuch, das Schuldenproblem anzugehen und gleichzeitig mehr Geld für das Wachstum bereitzustellen, würde deshalb eine Inflationskrise auslösen und die Wirtschaft dadurch zum Erliegen bringen.

Autoritäre Regimes neigen oft dazu, externe Konflikte anzuheizen, um von internen Problemen abzulenken. Wie wahrscheinlich ist es in diesem Zusammenhang, dass die Spannungen zwischen China und Taiwan eskalieren?

Das weiss ich nicht. Es stimmt, die Theorie innenpolitischer Ablenkungsversuche durch militärische Gewalt, existiert zwar. Wie sie in einem bürokratischen System mechanisch funktionieren würde, entzieht sich aber meiner Kenntnis. Dass China einen Militärschlag unternimmt, lässt sich sicherlich nicht ausschliessen, denn Menschen begehen alle möglichen Dummheiten. Die Lektion der russischen Invasion in der Ukraine sollte aber als Abschreckung dienen. Jeder rationale Mensch würde angesichts von Russlands heutiger Situation denken, dass der Angriff weder für Russland noch für Putin gut ausgegangen ist. Ebenso lässt der Krieg in der Ukraine erahnen, dass das Resultat in einem komplexeren Fall wie Taiwan noch verheerender wäre. Aber eben, es ist schwer zu sagen.

Welche Rolle spielen Chinas angespanntes Verhältnis zu Amerika und die US-Präsidentschaftswahlen in dieser Hinsicht?

China würde sich – ebenso wie Russland – über eine Wiederwahl von Donald Trump freuen. Aus Sicht von Peking wäre es vorteilhaft, wenn die Vereinigten Staaten durch eine chaotische Regierung geschwächt würde. Ich halte es aber für ziemlich unwahrscheinlich, dass Trump gewinnt. Ausserdem sehe ich bislang keinen Beleg dafür, dass sich China in nennenswerter Weise in die US-Wahlen einmischt, im Gegensatz zu Russland.

Derweil wird in Europa gegen chinesische Exporte von Elektrofahrzeugen wegen Verdachts auf wettbewerbsverzerrende Subventionen ermittelt. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

China hat eine lange Tradition in der Kommerzialisierung und Verbilligung von Technologien. Elektroautos sind in dieser Hinsicht nichts Neues. Es verhält sich ähnlich wie bei Solarzellen: China reitet die neueste Welle der Massenproduktion. Es hat zu viel in Produktionskapazitäten für Lithiumbatterien und Elektroautos investiert, weshalb jetzt Exporte nach Europa forciert werden. Finanziell profitieren chinesische Unternehmen nicht sonderlich davon, und ausländische Konzerne verlieren etwas an Wert. Ich finde Chinas Stärke im Bereich Lithiumbatterien und Elektrofahrzeuge daher aber nicht besonders interessant.

Aber ist es nicht bemerkenswert, wie schnell China diese Technologien adaptiert und die Marktführung übernommen hat?

Hier ist das Problem: Einzelpersonen und Unternehmen in China sind zwar zweifellos zu brillanten Ideen fähig, die Anreizstruktur der chinesischen Wirtschaft fördert jedoch keine Innovationskultur. Es ist ähnlich wie mit Chinas Ambitionen bei der Produktion von Halbleitern oder LCD-Bildschirmen: Chinesische Konzerne erwerben Technologien der zweiten Generation und sind hervorragend in der Massenfertigung, treiben den Fortschritt aber nicht voran. Das Land bleibt deshalb in seiner Rolle als Auftragsproduzent für ausländische Unternehmen stecken, die über die neusten Technologien verfügen. Für China als Nation ist das nicht erbaulich. Meiner Meinung nach geht davon aber auch keine technologische Bedrohung für den Westen aus.

Wie interpretieren Sie vor diesem Hintergrund die regulatorischen Eingriffe Pekings gegen heimische Technologieunternehmen?

Das hängt davon ab, um welche Art von Tech-Konzernen es sich handelt. Generell stehen die regulatorischen Eingriffe, die wir in den letzten drei Jahren gesehen haben, naturgemäss mit der zunehmenden Repression in China und der Schliessung des Landes in Zusammenhang. Das heisst, Fragen der nationalen Sicherheit und des Datenschutzes rücken stärker in den Fokus. Tech-Konzerne sammeln oft grosse Mengen an Daten. Da die Regierung aber immer mehr Einblick verlangt, wird es für sie immer schwieriger, sich Zugang zum Markt zu erschliessen und den Betrieb aufrechtzuerhalten. De facto versuchen die Behörden, den Abfluss von Daten ins Ausland zu unterbinden; besonders, wenn eine Firma Pläne für einen internationalen Börsengang hat.

Was bedeutet das für Anleger? Aktien chinesischer Internetunternehmen sind nach dem Höchststand Anfang 2021 eingebrochen und kämpfen seither mit einer hartnäckigen Kursflaute. Kann es überhaupt noch schlimmer werden?

Wie Chinas Aufstieg hat auch sein Niedergang viel mit strukturellen Geldströmen zu tun. Während der Zeit, in der die Zinsen im Westen auf fast null sanken, flossen Unmengen von Investorengeldern auf der Suche nach höheren Renditen um die Welt. China zog dank des Investitionsbooms und Zinsen von rund 8% enorme Mengen Kapital an, das auf der Suche nach Rendite war. Dazu zählten Investitionen in chinesische Aktien, sowohl im Fall der heimischen Börsen als auch bei Kotierungen in den USA. Dank dieser Entwicklung verfügten chinesische Unternehmen über eine Fülle von Mitteln.

Und wie sieht es heute aus?

Während des Booms wies ich auf diverse betrügerische Unternehmen hin. Doch der Markt sagte zu Recht: «Das ist uns egal. China zeigt Wachstum, wir brauchen Wachstum, also investieren wir in diese Aktien.» Der Börsenwert aller möglichen Gesellschaften stieg dadurch rasant an. Doch nun hat der strukturelle Trend gedreht. Um die Leute zur Aufnahme von Krediten zu animieren, senkt China die Zinsen, während sie im Westen steigen. Auch werden Investitionen in Schwellenländer als riskanter erachtet, was zu einem erheblichen Kapitalabfluss aus China zurück in die USA und Europa führt. Ungeachtet Chinas Bemühungen, die Qualität der heimischen Unternehmen zu verbessern, ist es daher wenig wahrscheinlich, dass internationale Investoren zurückkehren.

Dennoch ergreift Peking verschiedene Massnahmen zur Stützung des Aktienmarkts. So wurde beispielsweise der Leiter der chinesischen Handelsaufsicht kürzlich überraschend ersetzt.

Das ist insofern interessant, als die chinesische Führung früher traditionell ungefähr wie folgt dachte: «Wenn etwas schief geht, wäre das kein grosses Problem. Jeder kann wieder auf den Bauernhof zurückkehren. Die Menschen in China sind an Entbehrung und niedrige Einkommen gewöhnt.» Die heutige Parteispitze hingegen macht sich viel mehr Sorgen um Vermögenswerte, seien es Immobilen, Aktien oder der Renminbi. Als Resultat davon wird über einen Stabilisierungsfonds für die Börsen diskutiert und es werden verschiedene Strategien zur Stützung der Immobilienpreise evaluiert. Keine dieser Ideen ist umgesetzt worden, aber es ist bemerkenswert, dass sich die Partei nun plötzlich Gedanken darüber macht.

Ihre Firma, J Capital Research, ist auf Short-Strategien spezialisiert. Wie gehen Sie im heutigen Marktumfeld bei der Suche nach Möglichkeiten vor, um auf sinkende Aktienkurse zu setzen?

Was Leerverkäufe angeht, halte ich stets Ausschau nach Betrügereien. In dieser Hinsicht gibt es heute viele Unternehmen, die «AI Washing» betreiben; also Firmen, die Kompetenz im Bereich künstliche Intelligenz vortäuschen. Es gibt auch diverse Firmen, die sich fälschlicherweise als Hersteller des nächsten grossen Abnehmpräparats präsentieren, oder die behaupten, über grosse Uran- oder Goldvorkommen zu verfügen. Im Prinzip verhält es sich damit, wie es, glaub ich, Mark Twain einmal gesagt hat: Eine Goldmine ist ein Loch im Boden mit einem Lügner obendrauf. Das trifft auch auf viele Firmen in Sektoren wie Biotech, Elektrofahrzeuge und Umwelttechnologie zu. Dies sind derzeit die Bereiche mit den grössten Übertreibungen.

Anne Stevenson-Yang


¨Deep Diving

An dieser Stelle präsentieren wir wie immer einige Links, die einen vertieften Einblick in ein aktuelles Thema geben. In Abstimmung mit dem obigen Interview geht es heute um verschiedene Hintergründe zum Spannungsverhältnis zwischen den USA und China.

  • Ex-Präsident Donald Trump verkaufte es seinerzeit als grossen Coup im Handelskrieg gegen China: Im Mai 2020 kündigte TSMC den Bau einer neuen Halbleiterfabrik in Phoenix an. Vier Jahre später sind die Schlagzeilen weniger optimistisch: Verzögerungen, technologisches Misstrauen und kulturelle Divergenzen belasten das Milliardenprojekt der taiwanischen Chipschmiede in der Wüste Arizonas. Das Tech-Magazin «Rest of the World» geht den Problemen in dieser Reportage auf den Grund.
  • Der Technologiekonflikt zwischen Amerika und China eskaliert weiter. Vor wenigen Tagen hat US-Präsident Biden ein Gesetz ratifiziert, wonach der chinesische Internetkonzern ByteDance seine Social-Media-App TikTok in den USA entweder innerhalb eines Jahres verkaufen oder sonst einstellen muss. Die Online-Publikation «The Verge» befasst sich mit den juristischen Herausforderungen, mit denen sich ByteDance nun in den USA und auch in China konfrontiert sieht.
  • Noch ein kurzer historischer Seitenblick: In den Fünfzigerjahren wurde die Hysterie in den USA um die kommunistische Bedrohung aus China und der Sowjetunion durch Meldungen aus der psychologischen Forschung zusätzlich aufgeheizt. Chinesische Wissenschafter hatten angeblich ein System entwickelt, mit dem man die Meinung von Menschen ändern und sie sogar dazu bringen konnte, Dinge zu mögen, die sie zuvor gehasst hatten. Heute ist psychologische Manipulation erneut ein brisantes Thema. Die «MIT Technology Review» hat dazu einen Abriss über die Geschichte der Gehirnwäsche als bizarre Praktik auf dem Gebiet der Scheinwissenschaften verfasst.

Und zum Schluss noch dies: Panda Diplomacy

Die amerikanischen Präsidentschaftswahlen vom 5. November rücken näher. Eines der wenigen Themen, zu denen in Washington ein breiter Konsens herrscht, ist eine strenge Haltung gegenüber dem wirtschaftlichen und ideologischen Rivalen China.

Eine grosse Ausnahme ist in dieser Hinsicht Kalifornien. Im bevölkerungsreichsten Bundesstaat Amerikas ist man China politisch weit weniger feindlich gesinnt als in anderen Teilen des Landes. Die Volksrepublik wird als wichtiger Wirtschaftspartner erachtet; von Tourismus und Bildung über Immobilien und Handel bis zur Hightech-Industrie.

Davon zeugt, dass Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom letzten Herbst nach China reiste, wo ihn Staatschef Xi Jinping persönlich empfing. Diskutiert wurde unter anderem eine Kooperation in Sachen Umweltpolitik. Dies vor dem Hintergrund, dass das Riesenreich zwar der weltgrösste Verursacher von CO2-Emissionen ist, aber auch führend bei Cleantech-Equipment.

Dass kalifornische Politiker wie Newsom China freundlicher gesinnt sind als viele ihrer Kollegen in Washington hat auch mit demografischen Aspekten zu tun. Aus geografischen und historischen Gründen ist der Golden State mit dem Land seit langer Zeit verbunden.

Von den rund 40 Mio. Menschen, die in Kalifornien leben, sind mehr als 15% asiatischer Herkunft, viele davon sind Chinesen. Die älteste China Town Amerikas befindet sich in San Francisco, wobei ihr Ursprung zum grossen Goldrausch Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht.

Nicht zufällig ist London Breed, die Bürgermeisterin von San Francisco, soeben von einer Reise aus China zurück. Während einer guten Woche hat sie die Ballungszentren Hongkong, Shenzhen, Guangzhou, Peking und Schanghai besucht.

Breed bestreitet zwar, dass ihre Reise nach Fernost mit Blick auf die Bürgermeisterwahlen im Herbst motiviert war. Fakt ist aber auch, dass rund ein Fünftel der gut 800’000 Einwohner in der Stadt San Francisco chinesischer Abstammung sind. In keiner anderen US-Metropole ist der Anteil grösser.

Gemäss Breed waren die Treffen mit chinesischen Regierungsbeamten, Chefs von Fluggesellschaften und anderen Unternehmen ein wirtschaftlicher Erfolg. Das grösste Highlight ist jedoch ein Abkommen, wonach die chinesische Tierschutzbehörde CWCA dem Zoo von San Francisco ab Anfang nächsten Jahres zwei Pandabären ausleihen soll – ein «big, big deal», wie es die Bürgermeisterin ausdrückt.

Besonders bemerkenswert ist daran, dass Peking in den letzten Jahren sonst praktisch alle Pandabären aus den Vereinigten Staaten zurückbeordert hat. Darunter auch die drei Exemplare im Smithsonian National Zoo in Washington.

Pandas hatten schon seit Präsident Nixons Effort zur Verbesserung der bilateralen Beziehungen in den frühen Siebzigerjahren zur Attraktion des Tiergartens in der US-Hauptstadt gezählt. Ihr Rückruf nach China ist damit ein weiterer Ausdruck dafür, dass die Spannungen zwischen Ost und West zunehmen – ausser in Kalifornien.

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