Dienstag, Oktober 8

Jörg Wuttke, Partner der Beratungsagentur DGA und früherer Präsident der EU-Handelskammer in China, spricht im Interview über die jüngsten Stimulusmassnahmen aus Peking und darüber, wie die US-Wahlen das Verhältnis zwischen den USA und China beeinflussen werden.

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Jörg Wuttke hat mehr als dreissig Jahre seiner Karriere in China verbracht. Als langjähriger Präsident der EU-Handelskammer in Peking und Chefrepräsentant von BASF zählte er zu den am besten vernetzten und klarsichtigsten westlichen Beobachtern der Volksrepublik.

Im August 2024 ist Wuttke nach Washington gezogen und Partner bei der Beratungsagentur DGA Albright Stonebridge geworden. Im Interview spricht er über die jüngsten Stimulusmassnahmen, die Ende September in Peking angekündigt wurden, sowie über die Perspektiven im Verhältnis zwischen den USA und China unter Präsidentin Kamala Harris oder Präsident Donald Trump.

Herr Wuttke, Chinas Staatsführung hat eine Reihe von geld- und fiskalpolitischen Stimulusmassnahmen angekündigt. Reicht das aus, um der lahmenden Wirtschaft Schub zu verleihen?

Es wurde höchste Zeit, dass die Regierung etwas unternimmt. Die Massnahmen sind zu begrüssen, entsprechend erfreut haben die Finanzmärkte reagiert. Erstaunlicherweise hat Zentralbankgouverneur Pan Gongsheng, den ich gut kenne, bereits weitere Lockerungen angekündigt. Das zeigt, wie ernst sie es meinen. Nachdem die US-Notenbank am 18. September die Zinsen gesenkt hatte, hat Peking anstandshalber eine Woche gewartet und nun auch losgelegt. Das ist sehr positiv. Jetzt muss man sehen, inwiefern China es schafft, nicht nur Geld auf seine Probleme zu werfen, sondern auch Reformen durchzuführen. Die Regierung muss den privaten Unternehmen wieder Raum zur Entfaltung geben. Sie muss das Problem der Überkapazitäten angehen, das ja vor allem für die chinesischen Unternehmen selbst desaströs ist. Gesellschaften müssen pleitegehen können. Chinas Unternehmenslandschaft muss konsolidieren, damit die starken Unternehmen wieder Profit schreiben können. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses Umdenken stattgefunden hat.

Aber würden Sie die bislang angekündigten Massnahmen als Game Changer für Chinas dümpelnde Wirtschaft beschreiben?

Ein Game Changer wäre es erst, wenn man erkennen würde, dass sie schwierige Reformen durchführen. Fiskalpolitisch muss noch viel passieren. Private Unternehmer müssen sich wieder sicher fühlen, sie dürfen nicht dauernd mit neuen Politaktionen eingeschüchtert werden. In der Gegend in Peking, wo ich bis vor kurzem gelebt habe, wohnen viele Privatunternehmer. Ein Drittel der Häuser in meiner Nachbarschaft war permanent dunkel. Die Unternehmer haben das Land verlassen. Sie müssen zurückkommen. Positiv stimmt mich, dass nun offenbar auch die Bereitschaft besteht, schwierige Themen anzugehen: Vor kurzem hat die Regierung endlich angesprochen, dass das Rentenalter erhöht werden muss. Das ist ein guter Schritt, aber wahnsinnig schwierig in der Umsetzung. Es bewegt sich etwas in Peking, das ist die gute Nachricht.

Sie sind vor wenigen Wochen nach mehr als dreissig Jahren in China nach Washington gezogen und erleben nun den Wahlkampf in Amerika hautnah mit. Was fällt Ihnen dabei aus Ihrer Aussenperspektive auf?

Die grösste Überraschung für mich ist, dass China im Wahlkampf nirgendwo eine Rolle spielt. Alles dreht sich um das Thema Inflation, um die Krise der Lebenshaltungskosten hier in Amerika. Die Wirtschaft läuft immer noch gut, der Aktienmarkt boomt, aber Kamala Harris kann damit nicht punkten. Das aussen- und sicherheitspolitisch wichtigste Thema für die USA, nämlich China, ist jedoch kaum je Gegenstand der Diskussionen.

Kann das daran liegen, dass zwischen Demokraten und Republikanern weitgehend Einigkeit betreffend China herrscht? Schliesslich hat Joe Biden die Importzölle von Donald Trump übernommen und die Restriktionen im Technologiebereich deutlich verschärft.

Das stimmt, es herrscht zwischen den Parteien grosse Übereinstimmung in Bezug auf China. Dennoch sehe ich erhebliche Unterschiede, die speziell auch Europa betreffen werden.

Gehen wir hypothetisch davon aus, dass Kamala Harris die Wahlen gewinnt. Was würde das für das Verhältnis zwischen den USA und China sowie zwischen den USA und ihren Verbündeten bedeuten?

In gewisser Weise kann in diesem Fall mit einer Fortsetzung der bisherigen Politik von Biden gerechnet werden. Bidens aussenpolitischer Kurs gegenüber China wurde durch die Stichworte «invest, align, compete» charakterisiert. Amerika investiert in seine Sicherheitsstrukturen und seinen Industriestandort. Es baut starke Allianzen und bringt seine Partner – die Europäer, die Japaner, die Koreaner – dazu, in Amerika zu investieren. Und es steht in Konkurrenz zu China, um seine Interessen und Ideale zu verteidigen. Konkurrenz wird so ausgelegt, dass man den Chinesen das Leben so schwer wie möglich macht, zum Beispiel im Halbleiterbereich.

Wird Harris gegenüber China nachgiebiger sein als ihr Vorgänger?

Nein. Harris hat ein robustes Team, das sich mit China befassen wird. Ihr Vize-Kandidat Tim Walz hat in China gelebt und spricht die Sprache. Als Aussenminister in ihrer Regierung wird Bill Burns gehandelt, der heutige Direktor der CIA. Ihr Sicherheitsberater Phil Gordon ist global hervorragend vernetzt. Die heutige Handelsministerin Gina Raimondo könnte in der nächsten Regierung eine Rolle haben; auch sie hat sich als harte, aber rationale Verhandlungspartnerin etabliert. Das wird für Peking nicht leicht. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass eine Harris-Regierung in Aussenhandelsfragen etwas wirtschaftsfreundlicher agiert als Biden.

Wie sieht es aus, wenn Trump gewinnt?

Grundsätzlich müssen wir feststellen, dass wenig über das politische Programm von Trump bekannt ist. Was wir aus seiner ersten Präsidentschaft wissen: Er denkt transaktional, er will Deals schliessen. Und es müssen Deals sein, in denen Amerika gewinnt. Gleichzeitig wissen wir, dass Trump eine Faszination für «starke Männer» hat, er hat sich in seiner ersten Amtszeit gerne mit Kim Jong Un, dem Diktator Nordkoreas, mit Wladimir Putin oder Xi Jinping getroffen. Was konkret seine Handelspolitik betrifft, können wir sie am ehesten abschätzen, wenn wir uns auf Robert Lighthizer fokussieren. Er war in der ersten Trump-Regierung handelspolitischer Berater und hat mit dem Buch «No Trade is Free» im vergangenen Jahr seine Strategie klar beschrieben.

Trump hat davon gesprochen, pauschal 60% Zölle auf Waren aus China und 10% auf alle Importe zu erheben.

Trump wird die Zölle hoch halten, ohne Frage. Er wird mit grosser Wahrscheinlichkeit China auch den Status einer «Most Favored Nation» entziehen, was Handelsschranken zusätzlich erhöhen wird. Allerdings halte ich die 60% Zölle für einen Bluff. Das würde die Inflation in den USA nochmals enorm anheizen. 60% Importzölle auf alle Waren aus China würden die durchschnittliche Mittelklassefamilie in Amerika rund 4000 $ pro Jahr kosten. Trump glaubt zwar immer noch, dass die Zölle von den Chinesen bezahlt werden, aber das stimmt natürlich nicht. Jeder halbwegs vernünftige Ökonom kommt zum Schluss, dass derart hohe Importzölle wie eine Steuer wirken, die von den amerikanischen Konsumenten getragen wird.

Also wird er nur mit Zöllen drohen?

Trump ist erratisch, aber er denkt immer transaktional. Er wird Zölle und Restriktionen erheben, sie aber zur Disposition stellen, wenn er für Amerika etwas herausholen kann. Das gilt nicht nur gegenüber China. Besonders gegenüber den Verbündeten der USA wird er die Drohung von Zöllen einsetzen, um sie zu zwingen, in den USA zu investieren. Er wird konfrontativ sein, das ist sein Markenzeichen. Aber er wird es so darstellen, dass er dafür etwas bekommt.

Wird er die Tür für chinesische Unternehmen öffnen? Ihr dürft chinesische Elektroautos in Amerika verkaufen, aber sie müssen in den USA hergestellt werden?

Das denke ich nicht. Für chinesische Unternehmen wird der amerikanische Markt mehr und mehr geschlossen. Zwar zeigt Trump auch hier einige Inkonsistenzen. Er hat in einem Interview mit Bloomberg zum Beispiel gesagt, er sei gegen ein Verbot der chinesischen App TikTok, weil er in Amerika in diesem Bereich mehr Konkurrenz wolle – was ein Seitenhieb gegen Meta war. Alles in allem gehe ich aber davon aus, dass die Sicherheitsinteressen immer höher gewichtet werden. E-Autos mit chinesischer Software sind ein No Go in Amerika. Selbst Batterien werden als sicherheitskritisch betrachtet. Das kann für Europa eine Chance sein.

Inwiefern?

Wenn die Europäer clever spielen, können sie mehr Investitionen aus China anziehen und chinesische Unternehmen überzeugen, in Europa für den europäischen Markt zu produzieren. Der Batteriehersteller CATL beispielsweise baut je eine Fabrik in Thüringen und in Ungarn, der Autohersteller BYD hat Ungarn als Produktionsstandort bestimmt. Ich befürworte das, zumal es sich um technologisch hochstehende Privatgesellschaften handelt. Bei Staatsunternehmen muss man natürlich genauer hinschauen. Aber Trump wird den Chinesen die Türen nicht öffnen.

Sie haben die Personen um Harris genannt, die in ihrer Regierung eine Rolle spielen dürften. Wie sieht es bei Trump aus?

Gemäss den Informationen meiner Partner bei DGA würde Lighthizer dabei sein, er könnte Handelsminister werden. Trumps Vize J.D. Vance gibt sich als Hardliner gegenüber China, wobei fraglich ist, wie viel Gewicht er überhaupt bekommen würde. Marco Rubio wird ab und an als Aussenminister gehandelt. Er ist ein feuriger Antikommunist und steht in China derzeit auf der Sanktionsliste wegen Aussagen betreffend Hongkong. Auch der vormalige Aussenminister Mike Pompeo könnte eine Rolle erhalten. Pompeo ist ein starker Befürworter der Unabhängigkeit Taiwans.

Trump hat sich im Juli in einem Interview mit Bloomberg abschätzig über Taiwan geäussert. Sie hätten Amerikas Chipindustrie geklaut und würden nichts für ihre Sicherheit bezahlen.

Genau, und derselbe Trump hat nach seinem ersten Wahlsieg im Dezember 2016 ein Glückwunschtelefonat der damaligen Präsidentin Taiwans, Tsai Ing-wen, angenommen und damit einen ersten Eklat mit Peking provoziert. Ich sehe seine heutigen Aussagen zu Taiwan im Licht seiner Herkunft als Immobilienentwickler: Er versetzt seine Geschäftspartner erst einmal in Schrecken und schaut dann, was er aus ihnen herausholen kann. Das macht er auch mit Taiwan. Trump hat ein Interesse daran, dass Taiwans Status quo aufrechterhalten wird, aber er will, dass die Taiwaner mehr dafür bezahlen.

Also das Gleiche, was er schon der Nato angedroht hat?

Ja, wobei die Europäer ja heute schon mehr bezahlen. Dafür hat Putin gesorgt. Trump wird sicher noch mehr fordern. Als Immobilienentwickler sagt er den Europäern: Amerika ist dabei, aber der Preis für Euch hat sich gerade wieder erhöht.

Nehmen Sie die Perspektive von Xi Jinping ein: Wen sähe Peking lieber im Weissen Haus?

Ich höre diesbezüglich sehr unterschiedliche Stimmen aus China. Peking wäre begeistert, wenn Präsident Trump wieder beginnt, die Allianzstrukturen Amerikas zu hinterfragen und zu untergraben. Die Chinesen hoffen, dass er Bündnisse wie Quad – mit Indien, Japan und Australien – oder AUKUS, mit Australien und Grossbritannien, schwächen wird. Diese Bündnisse werden in Peking als Umzingelung Chinas wahrgenommen. Es wird in Peking mit grosser Begeisterung gesehen, dass ein allfälliger Präsident Trump die Nato und die Hilfe für die Ukraine hinterfragen würde. Insofern würde Peking hoffen, dass Amerika unter Trump der Welt den Rücken kehrt und damit den Chinesen mehr Raum überlässt. Gleichzeitig ist Trump im direkten Verhältnis erratisch, er droht mit weiteren Handelsbarrieren, und er ist ein unberechenbarer Gesprächspartner. Harris ist aus Pekings Sicht berechenbarer, man kennt die wichtigsten Player in ihrem Team. Das sind harte Verhandler, aber sie sind rational.

Jörg Wuttke

Jörg Wuttke ist Partner bei DGA Albright Stonebridge Group in Washington. Er ist früherer Präsident der EU-Handelskammer in China und lebte bis zu seinem Umzug in die USA mehr als dreissig Jahre in Peking.
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