Die USA sagen, China habe nicht gehalten, was es beim Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) versprochen habe. Peking widerspricht und erklärt, es wolle die WTO retten. Was ist dran?

«Wir sind der Ansicht, dass die Regeln des multilateralen Handelssystems, mit der Welthandelsorganisation (WTO) im Zentrum, eine unentbehrliche Grundlage für den globalen Handel sind (. . .). Sie stellen sicher, dass dieser transparent, vorhersehbar und ohne zu diskriminieren erfolgt.» Gesagt hat diese bedeutungsschweren Worte nicht ein Vertreter der EU oder der Schweiz, sondern laut der Agentur Xinhua die chinesische Delegation bei der WTO.

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China als Macht des Status quo? Rettet der mittlerweile grösste Exporteur der Welt das internationale Handelssystem, indem er sich trotz den Attacken von Donald Trump daran hält und dies auch von seinen Handelspartnern verlangt?

Ganz anders tönt es im neusten Bericht des amerikanischen Handelsbeauftragten, mit dem Trump seine «reziproken» Zölle begründete. Auf 48 Seiten wird dort aufgelistet, wieso China angeblich unfairen Handel betreibt – der Schweiz sind im selben Report nur drei Seiten gewidmet. «China ist einer staatlich gelenkten, nicht auf Marktprinzipien basierenden Führung von Wirtschaft und Handel verpflichtet, die auf industrielle Dominanz abzielt», schreibt dort das US-Handelsministerium.

Geopolitische Einordnung im Überblick

Kurzgefasst: Die Vorwürfe sind zahlreich, aber teilweise scheinheilig. China ist keine reine Marktwirtschaft und hat manche Regeln überdehnt. Aber es respektiert Entscheide der Welthandelsorganisation (WTO), hat sich geöffnet und ist WTO-konformer geworden.

Geopolitische Einschätzung: Fallen die Regeln und gilt nur noch das Gesetz des Stärkeren, werden alle ärmer.

Blick voraus: Im Wissen, was auf dem Spiel steht, sollte China jetzt demonstrieren, dass es ihm ernst ist mit seinem Bekenntnis zum Multilateralismus. Peking sollte sich auch in seiner Gegenreaktion auf die US-Zölle an die WTO-Regeln halten und aktiv versuchen, das Welthandelssystem zu retten

Auch der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann erklärte kürzlich in einem Interview in der NZZ: «China hat zuerst begonnen, die regelbasierte Welthandelsordnung auszuhöhlen. Nicht die Amerikaner.»

Wie sehr also ist China mitschuldig an der amerikanischen Abwendung von der WTO?

Sieben Vorwürfe

China konnte 2001 der 1995 gegründeten WTO beitreten. Viele Länder verbanden damit die Erwartung, dass sich Chinas Wirtschaft nun weiter öffnen und die chinesische Führung an marktwirtschaftliche Prinzipien halten müsse.

China hat seine Wirtschaft seither weiter geöffnet und seinen Aussenhandel liberalisiert. Der marktwirtschaftliche Wettbewerb zwischen verschiedenen Anbietern und Regionen ist rege und oft hart. Aber China ist keine demokratische Marktwirtschaft geworden. Die chinesische Regierung unter Führung der Kommunistischen Partei erhebt unverändert den Anspruch, die Wirtschaft zu lenken. Sie tut dies über ihre Kontrolle des international ziemlich abgeschotteten inländischen Finanzmarkts, über grosse Staatskonzerne und über wirtschaftspolitische Mehrjahrespläne und Planvorgaben.

Damit ist China allerdings nicht alleine auf der Welt. Auch sonst wirkt die Kritik in manchem etwas doppelzüngig. Betrachten wir deshalb die Vorwürfe im Einzelnen.

Tarifäre Handelsbarrieren

China hat seine inländischen Produzenten lange mit höheren Zöllen geschützt als die EU, die USA und die Schweiz. Während der durchschnittliche Zollsatz nach dem Meistbegünstigungsprinzip in China handelsgewichtet 2007 noch 5,0 Prozent betrug, belief sich dieser laut WTO-Angaben damals in der EU auf 3,0 und in den USA auf 2,1 Prozent. Doch China hat liberalisiert. Per 2024 belief sich der durchschnittliche Zollsatz noch auf 3,0 Prozent. Damit lag er vor der neusten Eskalation des Handelsstreits gleichauf mit der EU und nahe an den USA (2,2). Die Schweiz stand handelsgewichtet mit 1,0 am besten da. Weil ähnlich wie in der Schweiz einige (vor allem landwirtschaftliche) Güter noch relativ stark geschützt sind, beträgt der ungewichtete durchschnittliche Zollsatz für China allerdings noch 7,5 Prozent und für die Schweiz 5,2 Prozent.

China ist in den vergangenen Jahren dem südostasiatisch-pazifischen regionalen Freihandelsabkommen RCEP beigetreten und hat mit 20 Staaten Freihandelsabkommen abgeschlossen; darunter mit der Schweiz. Weitere elf sind in Verhandlung.

Für einige landwirtschaftliche Güter existiert ein staatliches Importmonopol. Für die Einfuhr von Reis, Mais und Weizen hat China unter seinen WTO-Verpflichtungen die Vergabe von Quoten zugesichert. Der US-Handelsbeauftragte moniert, deren Zuteilung erfolge nicht marktkonform und zu langsam.

Nichttarifäre Handelshemmnisse

Nicht nur in China werden Einfuhrstopps oder Behinderungen gerne mit der Nahrungsmittelsicherheit begründet. Importe von Geflügel seien wegen der Vogelgrippe zu lange gestoppt worden und Bedenken wegen Medikamenten im Schweinefleisch und Hormonen im Rindfleisch vorgeschoben, moniert der amerikanische Handelsbeauftragte, während China darin normale Vorsichtsmassnahmen sieht.

Um verkauft werden zu können, brauchen diverse Produkte Lizenzen. China wird von den USA vorgeworfen, die Zulassung von ausländischen Medikamenten, Medtech- und Biotech-Produkten erfolge langsamer als von im Inland produzierten. In manchen Regionen herrsche bei der Vergabe von Lizenzen Willkür. Peking hat darauf mit nationalen Vorgaben reagiert.

Bemerkenswerterweise hat eine Umfrage der American Chamber of Commerce in China unter ihren Mitgliedern noch 2024 ergeben, dass nur 32 Prozent sich gegenüber einheimischen Konkurrenten benachteiligt fühlen. 57 Prozent gaben an, gleich behandelt zu werden, und 11 Prozent sahen sich sogar im Vorteil.

Kritisiert wird auch, dass China in vielen Bereichen eigene Sicherheitsstandards einführt. Die chinesische Führung sagt, sie lade ausländische Produzenten zu den Gesprächen mit den Verbänden ein, in denen diese Standards definiert würden.

Nichttarifäre Handelshemmnisse sind weltweit beliebte Instrumente des Protektionismus. Der Global Trade Alert misst diese akribisch, ohne sie aber zu gewichten. Demnach haben die für den Handel schädlichen, neuen nichttarifären Hemmnisse seit der Corona-Pandemie stark zugenommen. Die USA scheinen diese vor Trump am wenigsten genutzt zu haben, während die EU in der hier gewählten Statistik (ohne Subventionen, Zuwanderungsbestimmungen und Exportkontrollen) schlechter abschneidet als China.

Öffentliches Beschaffungswesen

Da der Staat in China eine relativ grosse Rolle spielt, kommt öffentlichen Beschaffungen eine besondere Bedeutung zu. China verhandelt mit den WTO-Mitgliedern seit zwei Jahrzehnten über die Bedingungen eines Beitritts zum Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen der WTO, hat aber noch keine Einigung erzielt.

Grössere Beschaffungen müssen auch in China ausgeschrieben werden. Die USA werfen China jedoch vor, im Inland hergestellte Produkte zu bevorzugen.

Tatsächlich gibt es im öffentlichen Beschaffungswesen in China eine gesetzlich definierte, explizite Bevorzugung. In manchen Bereichen dürfen Güter bis zu 20 Prozent teurer sein, sofern sie aus dem Inland stammen. Ausländische Handelskammern in China beklagen, dass «im Inland produziert» zu wenig klar definiert sei und ausländische Hersteller, die in China produzierten, diskriminiert würden. Peking streitet dies ab und verspricht, ausländischen Firmen den Zugang zu Ausschreibungen zu erleichtern.

Investitionsrestriktionen

China hat es ursprünglich ausländischen Investoren nur in ausgewählten Sektoren erlaubt, mit eigenen Firmen präsent zu sein. In zahlreichen Schlüsselbranchen wie etwa dem Autobau oder der Finanzbranche mussten ausländische Hersteller Joint Ventures mit einheimischen Partnern eingehen. Diese waren oft instabil; chinesische Partner wurden zu Konkurrenten.

In den vergangenen Jahren hat China die meisten dieser Restriktionen fallengelassen. 2017 wurde die Liste der Sektoren, in denen es Ausländern erlaubt ist, Firmen zu 100 Prozent zu kontrollieren, durch eine Negativliste der noch geschützten Sektoren ersetzt; alle anderen gelten seither als liberalisiert. Die Zahl der Branchen auf der Negativliste wurde kontinuierlich reduziert von ursprünglich laut chinesischen Angaben 93 auf noch 29. Kürzlich wurde mit dem Druckgewerbe der letzte Industriebereich geöffnet.

Aus politischen Gründen noch stark geschützt sind die Telekom- und Medienbranche (inkl. Filmwesen) und das Angebot von Cloud-Services. Im Dienstleistungsbereich wurden Restriktionen für Banken und Versicherer aufgehoben; auch Assetmanagement- und Wertpapierhandelshäuser können nun vollständig ausländisch beherrscht sein (was die UBS genutzt hat). Allerdings gibt es noch Hürden bei der Zulassung von Zweigniederlassungen.

Sogar unter den von der amerikanischen Handelskammer befragten Unternehmen gaben 33 Prozent an, das Investitionsklima habe sich 2024 verbessert. Nur 28 Prozent sahen Verschlechterungen. Fast die Hälfte (48 Prozent) gab auch an, für ihre Unternehmen rangiere China unter den wichtigsten drei Investitionsstandorten weltweit.

Dennoch sollte China sich offensichtlich über weitere Verbesserungen und seine Position im Handelskonflikt mit den USA Gedanken machen. Laut den neusten Daten der OECD haben die Neuzuflüsse an ausländischen Direktinvestitionen in China seit 2021 drastisch abgenommen, während diejenigen in die USA gestiegen sind. Das dürfte allerdings auch stark mit der Politik der USA zusammenhängen.

Industriepolitik und Subventionen

Ein besonderer Dorn im Auge sind den USA und der EU der chinesische Plan «Made in China 2025». Mit ihm setzte sich die chinesische Führung schon 2015 das Ziel, die Produktivität in zehn Zukunftsbranchen wie Robotik, Automatisierung, IT, Luft- und Raumfahrt, Schiffbau, Eisenbahntechnologie, Elektrofahrzeuge sowie Bio- und Medtech auf internationales Niveau zu steigern, um vom Ausland unabhängiger und mit einheimischen Produzenten führend zu werden.

Dazu stellten die chinesischen Zentral- und Regionalregierungen diverse Anreize und Subventionen bereit. Der US-Handelsbeauftragte beklagt grosse Intransparenz, weil etwa günstiges Kapital durch Investitionsgesellschaften zur Verfügung gestellt worden sei, die als privat bezeichnet würden. Tatsächlich seien diese aber von der öffentlichen Hand kontrolliert worden.

Die chinesische Industriepolitik ist insofern erfolgreich, als chinesische Unternehmen in zahlreichen Tech-Sektoren, unter anderem im Bau von Elektrofahrzeugen, tatsächlich zu Innovatoren geworden sind. Nun fürchten sich amerikanische und europäische Hersteller vor sogenannten Überkapazitäten, die ihnen Konkurrenz machen.

Die ausländische Kritik wirkt allerdings etwas gar scheinheilig. Schliesslich hat man die eigenen Meisterwerke lange gerne exportiert. Nun klagt der US-Handelsbeauftragte, China habe wohl ganze 500 Milliarden Dollar an offenen und versteckten Subventionen für seine Industriepolitik aufgewendet. Das wären rund 3 Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung. Allein der Green Deal der EU wollte aber 600 Milliarden an öffentlichen Mitteln oder gut 4 Prozent ausgeben. Und Joe Bidens sogenannte Inflation Reduction Act stellte rund 400 Milliarden zur Förderung der einheimischen Industrie in Aussicht. Die protektionistische Subventionitis ist kein chinesisches Phänomen.

Technologietransfer und Patentschutz

Der chinesische Hochgeschwindigkeitszug ist ein Paradebeispiel. China lud Siemens mit dem ICE, Alstom mit dem TGV, Kawasaki mit Shinkansen und Bombardier ein, sich für Grossaufträge für die riesigen Ausbaupläne des chinesischen Hochgeschwindigkeitsnetzes zu bewerben. Alle konnten daraufhin einige Kompositionen teuer absetzen, mussten dafür aber die wesentlichen Teile ihrer Technologie an einen chinesischen Joint-Venture-Partner verkaufen. Den grössten Auftrag erhielt schliesslich Siemens. Inzwischen sind die chinesischen Hochgeschwindigkeitszüge zu einem Konkurrenten auch in Drittmärkten geworden; von den ausländischen Technologieführern stammen nur noch wenige Komponenten.

Immer wieder beklagen sich in China tätige Firmen, dass ihnen für lukrativen Marktzugang der Transfer von Technologie abverlangt werde. Allerdings gehört auch die Diffusion von Technologie zur Marktwirtschaft, sofern diese ordentlich und gegen Bezahlung erfolgt. Manchmal geschieht dies durch Übernahmen, in der Vergangenheit in China jedoch immer wieder auch durch unerlaubtes Kopieren und Spionage.

Verbreitet war denn auch die Klage über mangelnden Schutz geistigen Eigentums. Doch seit China selber innovativ geworden ist und ein Interesse an einem funktionierenden Patentschutz hat, hat sich viel verbessert. Die europäische und die amerikanische Handelskammer sind übereinstimmend der Ansicht, dass es an den Gesetzen inzwischen nicht mehr viel zu beanstanden gibt. Da und dort hapert es an der Umsetzung. Wobei Fälschungen internationaler Marken inzwischen geahndet werden und sich Patentklagen auch gerichtlich durchsetzen lassen.

Datenschutz, Cyber und Spionage

Nun hat das chinesische Regime den Spiess umgedreht. Ein Regime zum Schutz privater Daten und Regeln, die den unautorisierten grenzüberschreitenden Datentransfer verbieten, sowie ein Gesetz gegen Cybercrime und ein Antispionagegesetz sollen die eigene Wirtschaft schützen, machen aber ausländischen Firmen Kopfzerbrechen. Wenn sie in China generierte Daten wie Resultate von Markt- oder Medikamententests oder gewisse finanzielle Informationen an ihre ausländischen Muttergesellschaften senden oder mit diesen austauschen, könnten sie unter Umständen gesetzesbrüchig werden.

Inzwischen hat auch hier die chinesische Regierung auf die Klagen reagiert. Im Dialog mit ausländisch beherrschten Firmen definierte sie ein stark eingeschränktes Ausmass bewilligungspflichtiger Datentransfers und erlaubte den grossen Freihandelszonen, probeweise ihre eigenen Regimen zu definieren.

Den Ernst demonstrieren

Das Bild ist also weder schwarz noch weiss. Wie andere Länder auch fördert die chinesische Führung ihre eigene Wirtschaft gezielt und greift dazu ins Marktgeschehen in einer Art und Weise ein, die die Regeln der freien Marktwirtschaft und des freien Handels öfters überdehnt und sicher ab und zu auch gebrochen hat. Weil China zu einem so bedeutenden Handelspartner geworden ist, der die Vormachtstellung der Industrieländer herausfordert, stiess es damit auf zunehmenden globalen Widerstand und unterminierte so tatsächlich die Unterstützung der USA für das geltende Welthandelssystem. Dass China für sich beansprucht, halt noch ein unvollkommenes Entwicklungsland zu sein, ist auch nicht hilfreich.

Gleichzeitig ist aber auch zu konzedieren, dass sich die chinesische Führung in den vergangenen Jahren an die Schiedssprüche und Regeln der WTO gehalten und zum Beispiel WTO-widrige Exportkontrollen abgeschafft hat. China hat seine Wirtschaft nicht vom Staatseinfluss befreit, aber Schritt für Schritt weiter geöffnet und WTO-tauglicher gemacht.

Wenn China wirklich zeigen will, dass es zu einem verantwortungsvollen Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft geworden ist, das nicht bloss das Gesetz des Stärkeren, sondern den Multilateralismus schützen will, dann sollte es jetzt demonstrativ:

  • zeigen, dass es gleich lange Spiesse für chinesische und ausländisch beherrschte Firmen schafft.
  • den Einfluss und die Wettbewerbsverzerrungen durch Staatsfirmen reduzieren.
  • dem Abkommen über das öffentliche Beschaffungswesen beitreten und grössere Beschaffungsvorhaben effektiv zugänglich machen.
  • sich selber auch in der Reaktion auf amerikanischen Protektionismus an WTO-Regeln halten, statt etwa den Export von seltenen Erden zu blockieren.
  • von politisch motivierten Schikanen und Vergeltungen absehen.
  • auf den Status eines armen Entwicklungslandes, das in gewissen Bereichen bevorzugten Marktzugang erhält, in der WTO freiwillig verzichten.

Gerade China muss schliesslich wissen, um wie viel es geht. Es gehörte in der Vergangenheit zu den grössten Profiteuren des Welthandelssystems. Bricht dieses mitsamt seinen WTO-Regeln zusammen, werden alle ärmer. Überspitzt gesagt: Jetzt muss China vom Totengräber zum Retter des internationalen Welthandelssystems werden.

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