Die Tanzaufführung Shen Yun ist das Sprachrohr von Falun Gong. In der Schweiz ist die Gruppierung seit Jahrzehnten aktiv – und die Kritik an ihren Inhalten und Strukturen wächst.

Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt an diesem Samstagnachmittag im Musical Theater Basel. Shen Yun, das chinesische Tanztheater, beginnt. Über 1500 Personen – Schweizer, Deutsche, ältere Frauen, Paare, Familien – sind gekommen, um sich «China vor dem Kommunismus» anzuschauen. So bewirbt Shen Yun seine Show. Acht Aufführungen fanden im Februar in der Schweiz, in Basel und Lausanne, statt. Sie waren ausverkauft, wie jedes Jahr.

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Untergejubelte Propaganda

Shen Yun ist ein Potpourri aus verschiedenen chinesischen Gruppentänzen, begleitet von der Musik eines Sinfonieorchesters. «Shen» heisst Gottheit, und «Yun» bedeutet Rhythmus. Wo chinesische Kunst und Kultur draufsteht, geht es auch um Spiritualität und Politik. Es gibt eine Folterszene. Daneben wird der Weg zur Erlösung aufgezeigt. Legenden aus der chinesischen Mythologie wechseln sich ab mit Stücken, die zeigen, wie Anhänger der Bewegung Falun Gong vom chinesischen Staat brutal unterdrückt werden.

Shen Yun Official 2025 Trailer

Die Lehre wird auch Falun Dafa genannt. Sie bündelt Ansätze von Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus, Bewegungs- und Meditationsübungen aus dem Qigong und stützt sich auf mehrere Schriften des Gründers, Li Hongzhi. Als Grundwerte gelten Wahrhaftigkeit, Barmherzigkeit und Nachsicht.

Das klingt harmlos. Gleichzeitig handelt es sich bei Falun Gong um eine Heilslehre, die wissenschaftliche Erkenntnisse für Teufelswerk hält – und die mit einer Endzeit rechnet, die nur Anhänger von Falun Gong überleben. Das ist auch bei Shen Yun zu spüren.

So singt eine Sängerin zum Beispiel, Atheismus und Evolutionstheorie seien des Satans Spuk. Falun Dafa reiche der Menschheit «im Prozess der Aussortierung» die Hand, denn das sei der Auftrag des Schöpfers.

In den USA gab es Berichte über mögliche Ermittlungen gegen Shen Yun, unter anderem wegen Visa-Betrugs. Die «New York Times» wirft Shen Yun vor, eine Geldmaschine für Falun Gong zu sein und sowohl die Künstler wie auch die lokalen Praktizierenden auszunutzen.

Die Vorwürfe, die Angehörige einer verstorbenen Praktizierenden gegen Falun Gong erheben, sind heftig: Der Gründer der Bewegung, Li Hongzhi, und seine Frau bereicherten sich am Privatvermögen ihrer Anhänger. Ein ehemaliger Tänzer klagt gegen Shen Yun wegen Zwangsarbeit und Menschenschmuggel. Bisher wurden noch keine der Vorwürfe rechtskräftig nachgewiesen, und Shen Yun weist sie zurück.

Wie problematisch ist Shen Yun?

Schweizer demonstrieren in Peking

Li Hongzhi gründete Falun Gong Anfang der neunziger Jahre in China. Die Bewegung gewann innert Kürze Millionen von Anhängern. In der Schweiz ist Falun Gong seit Mitte der neunziger Jahre präsent und politisch immer noch erstaunlich aktiv, wenn auch zahlenmässig klein – ungefähr 300 Praktizierende zählt sie laut Schätzungen der Informationsstelle Inforel. Viele sind schon seit über einem Vierteljahrhundert dabei.

Einer von ihnen ist der 55-jährige Kampfsportlehrer Richard Kleinert. Er ist an diesem Samstagnachmittag als Securitas im Einsatz im Musical Theater Basel, wie bei allen vier Vorstellungen. Geld verlangt er dafür keines, er unterstützt Shen Yun gerne. Kampfsport hat Kleinert schon seit seiner Jugendzeit interessiert – und dieses Interesse führte ihn 1997 zu Falun Gong.

Die Schweizer Medien begannen sich erst für Falun Gong zu interessieren, als Chinas Staat die populäre Bewegung verbot, als «Sekte des Bösen» bezeichnete und mit Gewalt gegen sie vorging. Bücher von Li Hongzhi wurden medienwirksam zerstört, Praktizierende verhaftet, in Umerziehungslager gesteckt, gefoltert. Auch die Nachrichtensendung «10 vor 10» des Schweizer Fernsehens berichtete darüber. Damals sagte Kleinert über die Qigong-Übungen: «Ich fühle mich ausgeglichener, ruhiger und stärker.»

Kleinert hat jahrelang auf die Verfolgung von Falun Gong aufmerksam gemacht, weltweit ging er an Demonstrationen, 2001 gar auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Nach dreissig Sekunden wurden er und seine Mitstreiter damals verhaftet, in Untersuchungshaft gesteckt und des Landes verwiesen. «Ich wollte selbst erfahren, ob es stimmt, dass in China die freie Meinungsäusserung und die Religionsfreiheit nicht gewährleistet sind», sagt er. Es sei eine der prägendsten Erfahrungen seines Lebens gewesen.

2005 interpellierte ein grüner Parlamentarier beim Bundesrat wegen der chinesischen Repression gegen Falun Gong. Was der Bundesrat gedenke zu tun? Danach wurde es ruhig, sowohl in den Medien wie auch in der Politik. Die Bewegung suchte nach Wegen, das Schicksal der Verfolgten in Erinnerung zu halten. Hier kommt Shen Yun ins Spiel. Die Show wurde 2006 gegründet, und sie hatte von Anfang an zum Zweck, die Botschaften von Falun Gong in Kultur verpackt zu vermitteln.

Absage an Shen Yun führt zum Rechtsstreit

Der Sitz von Falun Gong liegt in den USA, dorthin ist der Gründer, Li Hongzhi, 1996 ausgewandert. Mittlerweile lebt er auf Dragon Springs, knapp hundert Kilometer nordwestlich von New York. Das Anwesen misst über eineinhalb Quadratkilometer. Bauten chinesischer Architektur und Gärten zieren den Ort.

Auch ein Internat, die Kunsthochschule für die Tänzer und Musiker von Shen Yun, befindet sich in Dragon Springs. Mittlerweile gehören eine ganze Reihe von Organisationen und Vereinen zum Universum von Falun Gong: die Zeitung «Epoch Times», der Fernsehsender New Tang Dynasty Television, Youtube-Kanäle, Menschenrechtsorganisationen, Kulturvereine, Mode- und Schmuckmarken. Falun Gong betreibt auch ein eigenes soziales Netzwerk, Gan Jing World. An der Shen-Yun-Show in Basel wird für die Videoplattform Gan Jing World geworben.

Die «Epoch Times» hat gemäss einer Auswertung der «New York Times» seit 2009 über 17 000 Artikel über Shen Yun publiziert. Auf der «Epoch Times»-Website für Deutschland veröffentlicht der Falun-Gong-Gründer Li Hongzhi seine Botschaften. Auch Schweizer Praktizierende haben dort Artikel über Shen Yun veröffentlicht. Der inzwischen suspendierte Finanzchef von «Epoch Times» in den USA wurde im Juni vergangenen Jahres verhaftet. Die Behörden werfen ihm vor, an einem internationalen Geldwäschereinetzwerk beteiligt gewesen zu sein, das 67 Millionen Dollar verschoben haben soll.

Falun Gongs Propaganda ist gut organisiert. Auch in der Schweiz. In Bern, Basel oder Zürich sind sie immer wieder mit Informationsständen präsent, demonstrieren vor dem chinesischen Konsulat oder der chinesischen Botschaft. Auch Shen Yun trat spätestens ab 2012 regelmässig in der Schweiz auf.

Shen Yun hat nicht auf Anhieb eine Schweizer Plattform gefunden. Das Grand Théâtre in Genf verwehrte dem organisierenden Verein die Bühne im Jahr 2010. Dieser zog vor Gericht. 2017 gab das Bundesgericht dem Grand Théâtre recht: Es darf eine Show ablehnen, die nicht ins künstlerische Konzept passt.

Manchmal kam es auch zu Konflikten, so wie 2017 im Theater Winterthur. Vertreter von Chinas Regierung wollten eine Aufführung verhindern und wandten sich direkt an den Stadtpräsidenten Michael Künzle. Der damalige Theaterdirektor René Munz sei jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits selber zu dem Schluss gekommen, den Vertrag nicht zu verlängern, erzählt er am Telefon.

«Ich habe mich hintergangen gefühlt», sagt Munz. Er habe eine Show mit chinesischen Tänzen und chinesischer Kultur erwartet, doch als er im Publikum gesessen sei, habe er etwas anderes gesehen. «Ich war sehr verärgert über die penetrante Propaganda», sagte er. Dies sei nicht mit den Leitlinien für die Vermietung vereinbar, die keine politischen Aufführungen duldeten. Auch aus dem Publikum habe es Beschwerden gegeben.

Im Musical Theater Basel ist das Freddy-Burger-Management zuständig, verweist jedoch auf den externen Veranstalter, den Verein für chinesische Kunst. Man wolle sich nicht zu Shen Yun oder Falun Gong äussern. Auch in Lausanne gibt das Théâtre de Beaulieu, das grösste Theater der Schweiz, keine Auskunft auf die Anfrage der NZZ. Die Verbindungen der Show zur neureligiösen Bewegung scheinen für sie kein Thema zu sein. Und Shen Yun deklariert sie nicht auf ihren Werbeplakaten.

In der Deutschschweiz organisiert der Verein für chinesische Kunst die Shen-Yun-Aufführungen. Auf der Website des Vereins wird Shen Yun als «unabhängiges» Ensemble aus New York beschrieben, zu Falun Gong fehlen Hinweise. Auf Anfrage schreibt der Vereinspräsident Quoc Lam, im Gegensatz zu Aufführungen aus China werde Shen Yun weder von der chinesischen Regierung entsandt noch von ihr beeinflusst. «Wir handeln völlig eigenständig.» Zudem werde auf der Website von Shen Yun, im Bereich der häufig gestellten Fragen, auf Falun Gong Bezug genommen.

Ist Falun Gong eine Sekte?

Der kanadische Historiker und Religionswissenschafter David Ownby hat die Bewegung jahrzehntelang studiert. Er sagt, dass Falun Gong keine typischen Merkmale einer Sekte aufweise. Es gebe keine finanziellen Verpflichtungen, keine Isolation der Praktizierenden und keine Sanktionen beim Verlassen der Gruppe. «Die Mitglieder bleiben in der Gesellschaft integriert, leben in ihren Familien, gehen ihrer Arbeit nach und schicken ihre Kinder zur Schule.»

Aleardo Manieri ist einer der ersten Schweizer Praktizierenden. 1996 stiess er nach einer langen spirituellen Suche, die ihn bis nach Indien führte, über einen Artikel im Magazin «Esotera» auf Falun Gong. Seither macht er die Übungen und liest die Schriften von Li Hongzhi. «Ich zweifle nicht einen Millimeter an der Lehre von Falun Gong», sagt Manieri. «Ich habe alles gefunden in dem System: eine spirituelle Praxis, den Weg der Erleuchtung, den Weg zum Schöpfer.»

Hinter der jüngsten Kritik an Shen Yun vermutet er Diffamierung der chinesischen Regierung. Shen Yun, glaubt er, löse bei manchen Zuschauern positive Veränderungen im Leben aus. Er selbst besuche die Show bis zu dreimal im Jahr. So wolle er der Bewegung etwas zurückgeben.

Seit zehn Jahren sei er nicht mehr beim Arzt gewesen, sagt der 60-jährige Manieri, er sei noch voll berufstätig, obwohl ihm aufgrund eines Unfalls in der Kindheit gesagt worden sei, er werde ein Fall für die Invalidenrente. Medizinische Behandlungen lehnt er nicht grundsätzlich ab. Li Hongzhi sei der aussergewöhnlichste Mensch, der ihm je begegnet sei. Aber er werde nicht, wie indische Gurus, verehrt. Im Zentrum stünden seine Inhalte.

Anfragen zu Falun Gong erhalte sie kaum, sagt die Geschäftsleiterin der Beratungsstelle Infosekta, Susanne Schaaf. Allenfalls von besorgten Angehörigen, die sich informieren wollten. Aussteiger seien keine bekannt.

Problematische Aspekte bei Falun Gong gebe es aber durchaus. Schaaf weist auf die Autorität des Meisters, Li Hongzhi, hin. Praktizierende fühlten sich Nichtpraktizierenden überlegen. Kritik von aussen werde oft nicht verstanden und als Verleumdung wahrgenommen.

Der Ostasienwissenschafter Thomas Heberer hat die Schriften des «Meisters», Li Hongzhi, analysiert. In seinem Forschungspapier von 2001 schreibt er: «Es wird Befreiung von den Leiden des menschlichen Lebens (Krankheit, Alterung, Sorgen und Tod) suggeriert.» Den Anhängern würden Unverletzlichkeit und Unsterblichkeit versprochen. Heberers Fazit: Die Lehre Li Hongzhis fördere Aberglaube, Abhängigkeit und Weltentzug.

Zum Ende die Apokalypse

In Basel neigt sich die Shen-Yun-Vorstellung dem Ende zu. Die Schlussszene ist fulminant, sie spielt in Schanghai. Sie zeigt den moralischen Zerfall der Chinesen, korrupte und brutale Beamte, ein Kommunist, der sein rotes Buch gegen ein gelbes eintauscht, Li Hongzhis Hauptwerk. Schliesslich wird der Himmel dunkel, es blitzt und donnert, eine Welle bricht über Schanghai, und alles versinkt. Dann erscheint ein weiss gekleideter Mann, der Erlöser. Er rettet die Falun-Gong-Praktizierenden. Applaus.

Shen Yun ist keine China-Show, sondern eine Falun-Gong-Show. Dass das nicht offen deklariert wird, wirft die Frage auf: Was hat die Bewegung zu verbergen? Dass Falun Gong in China unterdrückt wird, ist eine Tatsache. Gefährlich ist die Bewegung für die Mehrheit der Praktizierenden kaum. Gleichzeitig hat sie problematische Züge: die Heilslehre, die Wissenschaftsfeindlichkeit, die undurchsichtigen Finanzströme am Sitz in New York. Wer eine Eintrittskarte zu Shen Yun kauft, soll das wohl alles nicht erfahren, sondern sich einfach berieseln lassen – und ganz nebenbei überzeugt werden.

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