Der pensionierte amerikanische Diplomat Raymond Burghardt kennt China seit 55 Jahren. Die Beziehungen seien heute zwar schwierig, doch die Situation sei nicht so gefährlich wie im Kalten Krieg.
Herr Burghardt, 1979 haben die USA diplomatische Beziehungen mit Taipeh beendet und mit Peking aufgenommen. Heute bezeichnet das amerikanische Verteidigungsministerium China als «massgebliche Herausforderung», als grösste Gefahr. Im Rückblick: War es ein Fehler, Peking anzuerkennen?
Nein. Das war purer Realismus. Man musste akzeptieren, dass fast das gesamte Riesenland China von Peking regiert wurde. Es ergab keinen Sinn mehr, jene Regierung anzuerkennen, die in Taiwan im Exil war. Und es war eine Weiterführung des Prozesses, der mit der Chinareise von Henry Kissinger, dem Berater für nationale Sicherheit, 1971 begonnen hatte und dem Besuch von Präsident Nixon in Peking 1972 weitergeführt worden war: China wurde als Gegengewicht zur Sowjetunion gesehen. Das war Teil der Realität des Kalten Krieges. Der Schritt war damals taktisch und strategisch sinnvoll.
Die damalige Regierung in Taipeh wurde erst kurz vor dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen informiert. In Taiwan heisst es noch heute manchmal, dass man den Amerikanern deswegen nicht trauen könne.
Die Sache wurde nicht sehr gut gehandhabt. Als kurz darauf Vizeaussenminister Warren Christopher nach Taipeh reiste, um den Entscheid der Regierung zu erklären, gab es gewaltsame Proteste. Das war ziemlich hässlich. Ich glaube, es gibt immer noch einige Ressentiments in Taiwan, insbesondere in der Kuomintang, die damals an der Macht war.
Zur Person
Raymond Burghardt, ehemaliger Diplomat
Burghardt trat 1969 in den diplomatischen Dienst der USA ein. Er war unter anderem Generalkonsul in Schanghai, Botschafter in Vietnam und Direktor des American Institute in Taiwan, jener Organisation, die seit Abbruch der diplomatischen Beziehungen für die inoffiziellen Kontakte zu Taiwan zuständig ist. Heute ist Burghardt Präsident des Pacific Century Institute, das sich für den Austausch zwischen Ländern des Pazifiks einsetzt.
Was hätte besser gemacht werden können?
Es war fast nicht möglich, die diplomatische Anerkennung zu wechseln, ohne dass es in Taipeh zu Ressentiments geführt hätte. Was wir taten, musste von der taiwanischen Regierung unweigerlich als Verrat angesehen werden.
Sie besuchten das Festland zum ersten Mal Anfang 1978. Was sind für Sie die grössten Unterschiede zwischen dem China von damals und dem heutigen China?
Es war ein sehr armes Land. Alle waren in Blau, Grau oder Grün gekleidet. Es fuhren nur sehr wenige Autos. Doch bereits ein Jahr später, 1979, war die Politik der Öffnung und Modernisierung von Deng Xiaoping voll im Gange. Grosse Begeisterung war spürbar. Heute unter der Führung von Xi Jinping herrscht hingegen ein Klima der Abschottung, des Misstrauens gegenüber privaten Unternehmen und ausländischen Investitionen und eine erneute Hinwendung zu Staatsbetrieben. Die Ironie der Geschichte ist, dass China unter Deng mehr im Einklang mit dem Denken des Westens stand als heute.
Hätten Sie sich bei Ihrem ersten Besuch vorstellen können, dass China einmal so wohlhabend und mächtig sein würde, wie es heute ist?
Wenn mich das damals jemand gefragt hätte, hätte ich kaum mit «Ja» geantwortet. Aber die Chinesen sind sehr fähige Menschen. Die chinesische Gesellschaft belohnt Bildung, harte Arbeit und Fleiss. Es waren also die nötigen Qualitäten für eine solche Entwicklung vorhanden. So gesehen war es keine Überraschung.
Gab es in diesen 55 Jahren, in denen Sie sich mit China befassen, einen Moment, in dem Sie sich sagten: «China wird eine Herausforderung für die USA»?
Ich denke, das zeigte sich deutlich mit der Finanzkrise von 2008/09 – wir nennen das manchmal «Chinas Jahr der Arroganz». China war sehr stolz darauf, dass es gut dastand, während der Westen unter der Finanzkrise litt. Zur gleichen Zeit begann Peking auch, seinen Einfluss gegenüber seinen Nachbarn und insbesondere in Südostasien geltend zu machen. Das war also, noch bevor Xi Jinping an die Macht kam.
Hat Sie das überrascht?
Anzeichen gab es schon früher: Ich erinnere mich, dass uns 2003 – als ich Botschafter der USA in Hanoi war – die Vietnamesen sagten, dass sie die Beziehungen zu Amerika vertiefen wollten. Sie waren sehr verärgert über den Druck, den China schon damals im Südchinesischen Meer ausübte. Und darüber, dass China begann, Laos und Kambodscha zu vereinnahmen – Länder, welche die Vietnamesen als ihren Einflussbereich ansahen. Als später Xi Jinping die Macht übernahm, wurden der Druck und die Arroganz Chinas noch schlimmer.
Im Sommer 1989, als die Volksbefreiungsarmee die Proteste rund um den Tiananmen-Platz blutig niederschlug, arbeiteten Sie auf der amerikanischen Botschaft in Peking. Wie haben Sie das erlebt?
Das hat bei mir einen bleibenden, tiefgehenden Eindruck hinterlassen. Ich konnte vom Balkon meines Zimmers im Beijing-Hotel aus zusehen, wie Personen erschossen wurden. Vor dem Hotel liegt die breite Changan Avenue, dort marschierten die Truppen auf, dort rollten die Panzer. Dann eröffneten die Truppen das Feuer. Natürlich hatte ich in den Wochen davor, während deren die Demonstrationen andauerten, mit den Menschen auf der Strasse gesprochen . . .
. . . Sie konnten sich als ausländischer Diplomat da frei bewegen?
Ja, jeder konnte auf den Tiananmen-Platz gehen und mit den Demonstranten sprechen. Heute wissen wir, dass die Regierung gar keine Gewalt hätte anwenden müssen, um die Demonstrationen aufzulösen. Die Demonstrationen begannen sich bereits aufzulösen, jeden Tag kamen weniger Menschen: Studenten gingen zurück an die Unis, Arbeiter an die Arbeit. Doch die chinesische Führung wollte eine Botschaft senden.
Was war die Botschaft?
Dass solche Demonstrationen inakzeptabel sind.
Hatten Sie einen blutigen Ausgang erwartet?
Ja, Geheimdienstinformationen wiesen darauf hin, dass das Militär einschreiten würde. Und wir wurden auch davor gewarnt, dass das diplomatische Viertel beschossen würde – was ein paar Tage später dann auch geschah.
Warum kamen Diplomaten ins Visier?
Die Parteiführung hatte gar keine Freude daran, dass Ausländer Fotos von der Niederschlagung und den Verhaftungen gemacht hatten. Sie hatte wohl gedacht, dass die Botschaften nach einem Beschuss evakuiert würden. Im Chinesischen gibt es ein Sprichwort: «guan men, da gou», was so viel heisst wie: «Mach die Tür zu, bevor du den Hund schlägst.» Das bedeutet, dass man sich nicht erwischen lassen soll, wenn man etwas Hässliches tut. Doch wir schauten hin.
Was hat das alles bei Ihnen ausgelöst?
Gelinde gesagt, hat das einen sehr negativen Eindruck hinterlassen. Es zeigte klar, mit was für einer Regierung wir es zu tun hatten. Viele von uns, die damals in China gearbeitet haben, haben nicht daran geglaubt, dass das Land durch die wirtschaftliche Liberalisierung und Öffnung irgendwann auch politisch liberaler werden würde.
Nach dem Tiananmen-Massaker reagierten westliche Länder mit Sanktionen, reduzierten den Kontakt mit dem Regime. Doch Chinas Isolation dauerte nicht lange. Schon bald nahm der Handel wieder Fahrt auf . . .
Das westliche Waffenembargo gegen China gilt allerdings bis heute. Zuvor verkaufte man militärische Radaranlagen, Helikopter, Schiffsmotoren, Anti-Schiff-Raketen – alles, was man sich vorstellen kann. Aber sonst wollte man sehr schnell wieder mit China ins Geschäft kommen. Mit seiner berühmten Tour durch den Süden des Landes signalisierte Deng Xiaoping 1992, dass die Öffnung weitergehen würde. Und schon einen Monat nach dem Massaker schickte Präsident George H. W. Bush eine geheime Mission nach Peking, damit die Kontakte nicht komplett abbrachen. Es ging darum, das «Projekt» und das «Programm» zu retten.
Das müssen Sie erklären.
Das «Projekt» war Code für geheime Beobachtungsstationen, die wir damals im Westen Chinas betrieben hatten, um über militärische Aktivitäten der Sowjetunion auf dem Laufenden zu sein. Das «Programm» stand intern für die Unterstützung des afghanischen Widerstands gegen die sowjetische Besetzung, die über China lief.
Es gibt Leute, die sagen, die heutige Situation zwischen China und den USA sei gefährlicher als jene zwischen der Sowjetunion und den USA während des Kalten Krieges. Sie haben den Kalten Krieg erlebt: Was sagen Sie dazu?
Nein, das glaube ich nicht. Die Kubakrise war ziemlich beängstigend. So nah an der Katastrophe wie damals sind wir nicht und waren wir auch in den letzten Jahren nicht. Was aber nicht heissen soll, dass die Situation jetzt gut ist. Ganz im Gegenteil.