China hat ein Zweiklassensystem aus Land- und Stadtbevölkerung. Es ist eine Politik, die das Land einfach nicht loswird. Dafür gibt es gute Gründe.
Indien kennt das Kastenwesen, China hat das Hukou – eine Art Familienbüchlein, das den Wohnsitz festlegt. Steht da als Wohnsitz Peking, Schanghai, Guangzhou oder Shenzhen, hat man als Chinese gewonnen im Leben. Ein Wohnsitz in einer dieser Metropolen kommt mit Privilegien einher: Zugang zu guten Schulen, Krankenhäusern, dem Recht, eine Wohnung zu kaufen in der Stadt.
Steht im Hukou ein ländlicher Ort, ist man für Chinas Staat ein Bauer, auch wenn man einen Uni-Abschluss in der Tasche hat und noch nie auf dem Feld gearbeitet hat. Entscheidet sich dieser «Bauer», in der Stadt Arbeit zu suchen und dort zu wohnen, wird er bloss geduldet, solange er etwas leistet. Dienstleistungen hat er keine zu erwarten. Seine Kinder müssen im Heimatort zur Schule, und sollte er die Arbeit verlieren, muss er zurück – Arbeitslosengeld gibt es für ihn in der Stadt keines. Selbst für Lappalien wie einen neuen Personalausweis oder einen Führerschein muss er zurück in die Heimatprovinz.
Ein System der Bevölkerungskontrolle
Vor einer Woche hat das Zentralkomitee nun eine Reform des Hukou-Systems vorgeschlagen. Chinesen, egal, welcher Herkunft, sollen an ihrem Wohnort in Zukunft das Recht auf grundlegende öffentliche Dienstleistungen haben. Zudem sollen qualifizierte Wanderarbeiter dieselben Rechte wie die gebürtigen Städter erhalten, eine Wohnung kaufen dürfen und ein permanentes Aufenthaltsrecht erhalten. Mit qualifiziert ist wohl gemeint: wohlhabend und gut gebildet.
Das klingt weitreichend – doch radikal ist das nicht. «Das dritte Plenum hat bezüglich einer Hukou-Reform keinen entscheidenden Durchbruch erzielt», sagt Kam Wing Chan. Der Geograf von der University of Washington hat sich auf Bevölkerung spezialisiert und das Hukou-System jahrzehntelang studiert. Das Hukou-System wurde immer wieder gelockert, insbesondere in kleineren Städten, jedoch nie ganz abgeschafft, so wie es das Kastensystem in Indien wurde. Dort ist das System zwar noch gesellschaftliche Realität, doch laut Gesetz darf niemand mehr aufgrund seiner Kaste diskriminiert werden.
Kam Wing Chans Untersuchungen haben gezeigt, dass sich trotz Reformen die Anzahl der Personen mit einem ländlichen Hukou in den Städten nicht verringert hat – sie liegt heute bei knapp 300 Millionen. Die Zahl der Kinder, die ohne ihre Eltern auf dem Land zurückgelassen wurden, ist von 2010 bis 2020 sogar um 30 Prozent angestiegen, auf 89 Millionen Kinder.
Kritiker in China fordern schon lange, dass auch das Hukou per Gesetz abgeschafft wird: Es sei nichts anderes als institutionalisierte Diskriminierung. Chinesische Ökonomen fordern dasselbe. Sie erhoffen sich davon eine neue Urbanisierungswelle und mehr Wachstum. Doch China hält an der Politik des Zweiklassensystems fest. Weshalb?
Das Hukou-System ist Teil der DNA des neuen China und sagt viel über das Menschenbild der kommunistischen Herrscher: Die Bevölkerung muss kontrolliert werden – und ist grundsätzlich eine Bürde und erst dann eine Ressource. Die Regel, die Menschen in Land- und Stadtbevölkerung einzuteilen und ihnen unterschiedliche Rechte zu geben, geht nämlich auf den Staatsgründer Mao Zedong in den fünfziger Jahren zurück. Mao wollte die Menschen an ihrem Ort wissen. Kam jemand im hinterletzten Winkel auf die Welt, sollte er bitte dort leben und sterben.
Erhofft sich die Regierung zu viel?
Dann starb Mao 1976 – und Reformer übernahmen allmählich das Zepter. Plötzlich wurde Binnenmigration unabdingbar für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Bauern zogen in Scharen in die Städte für Arbeit in den neuen Fabriken, ihre Kinder wurden Bürokräfte, Bankangestellte, Beamte, behielten aber ihr ländliches Hukou. Und China wurde zur zweitgrössten Wirtschaftsmacht der Welt.
Diese Wanderarbeiter lebten und arbeiteten jahrelang in den Städten, zum Teil ihr ganzes Leben lang, ohne dass sich ihre prekäre rechtliche Situation massgeblich änderte. Die Hukou-Politik wurde je länger, je mehr zur Zwangsjacke für sie. So stark, dass es immer wieder Wellen der Rückwanderung gibt. Aber aus Sicht der Stadtregierungen hat das Hukou-System Vorteile.
Denn die Politik schont die Kassen und Ressourcen der Städte. Nicht der Wohnort ist administrativ für die Binnenmigranten zuständig, sondern der Heimatort. Das ermöglicht eine flexible Bevölkerungspolitik: Will man die auswärtigen Arbeitskräfte nicht mehr, kann man sie aufs Land zurückschieben.
Der Ökonom Loren Brandt von der Universität von Toronto ist skeptisch, was den wirtschaftlichen Nutzen der geplanten Hukou-Reformen angeht. Da seien zum Beispiel die hohen Wohnungspreise, die viele Arbeiter, selbst qualifizierte, daran hinderten, in die Städte zu ziehen. Brandt sagt: «Chinas wirtschaftliche Probleme reichen viel tiefer als die Hukou-Beschränkungen.»
So wie die tiefe Produktivität, ein Problem, das sich nicht durch Urbanisierung lösen lasse. Das sehe man am Beispiel von kleineren Städten, die bereits Hukou-Beschränkungen gelockert haben und schneller wachsen als Peking oder Schanghai. «Mehr Migration führt nicht zu höherer Produktivität, wie es eine verbreitete Ansicht zu sein scheint in Peking – es ist umgekehrt. Die Städte haben eine höhere Produktivität und locken deshalb mehr Menschen an.»
Die Stadtbewohner wollen ihre Privilegien behalten
Es gibt jedoch einen weiteren Grund, warum am Hukou-System nicht gerüttelt wird. Die gebürtigen Menschen aus Peking oder Schanghai wollen ihre Privilegien nicht so einfach aufgeben. Obwohl die Städte ohne Wanderarbeiter gar nicht funktionieren würden, die Essen ausliefern, Bürokräfte und Banker sind, längst nicht nur Hilfskräfte, schauen die Menschen aus Peking und Schanghai auf sie herab. Man nennt sie etwas geringschätzig «Waidi Ren», Auswärtige. Wenn am chinesischen Neujahr die «Auswärtigen» in ihre Heimatprovinzen zurückfahren für die Festtage, atmen die Städter auf. «Jetzt haben wir die Stadt endlich einmal für uns!», hört man dann oft.
Peking und Schanghai haben tatsächlich unter Überbevölkerung zu leiden, beide haben über 20 Millionen Einwohner. Wenn man krankheitshalber ins Spital fährt, muss man meist einen ganzen Tag einrechnen, nur um Schlange zu stehen für eine Erstuntersuchung. Der Konkurrenzdruck am Arbeits-, Wohnungs- und Bildungsmarkt ist enorm. Verkehrsstaus sind notorisch und machen das Aus-dem-Haus-Gehen zur Geduldsprobe. Die U-Bahnen sind effizient, aber oft überfüllt. Die Stadtbewohner fragen sich also zu Recht: Noch mehr Menschen? Wo sollen die denn alle hin?
Der Partei- und Staatschef Xi Jinping wird sich hüten, das Hukou-System ganz abzuschaffen. Es könnte zu grossem Unmut führen bei den politischen und wirtschaftlichen Eliten, deren Unterstützung er braucht. Ausserdem will Xi selbst nicht, dass Peking noch grösser wird – aus Sicht der sozialen Stabilität ist unkontrolliertes Wachstum ein Risiko. Er hat, eigens um Peking zu entlasten, im Süden eine neue Stadt bauen lassen: Xiong An – der Name ist eine Kombination der Schriftzeichen für «Macht» und «Frieden». Dorthin sollen künftig ein Grossteil der Verwaltung ziehen sowie Universitäten und Staatsfirmen.
Bis sich die Situation der Wanderarbeiter und ihrer Kinder in Peking und Schanghai substanziell bessert, dürfte es jedoch noch lange gehen. Daran ändern auch die neusten Reformvorschläge nichts.

