Mit der Ankündigung der beiden neuen Konzernmarken Onvo und Firefly will Nio seine Expansionsziele weiterverfolgen und den europäischen Markt erobern. Doch die Herausforderungen sind gross, wie ein Blick auf die bisherigen Verkaufszahlen zeigt.

Etwas ungeduldig rutscht der Nio-Chef William Li auf dem Hocker hin und her. Und doch verbreitet er Optimismus: «Wir bleiben unseren Expansionszielen treu.» Er kontert zwei im Raum stehende Spekulationen. Erstens, dass Nio gar nicht erst in den amerikanischen Markt eintreten könne angesichts der ab August greifenden hohen Importzölle auf Elektroautos. Zweitens, dass Nio nun in Europa kürzertreten müsse. Dort drohen derzeit 30 Prozent Importsteuer.

Diese politisch motivierten Störungen des freien Welthandels, sagt Li, träfen nicht allein chinesische Unternehmen, sondern die exportorientierte Automobilindustrie weltweit. «Wir alle werden damit umgehen», prophezeit er und kündigt die Erweiterung der Nio-Welt um gleich zwei neue Konzernmarken an.

Nio wurde vor zehn Jahren gegründet und als internationales Startup für batterieelektrische Personenwagen von Branchenexperten mit kräftigen Vorschusslorbeeren dekoriert. Anleger trauten der in China gegründeten Marke damals zu, Tesla die Stirn zu bieten. Mit 100 Milliarden Dollar Marktwert war sie seinerzeit wertvoller als Volkswagen.

Zehn Jahre später fahren Nio-Modelle aus acht verschiedenen Baureihen auf den Strassen. Bis Ende April 2024 sind weltweit 500 000 Einheiten ausgeliefert worden – überwiegend an einheimische Kunden. Ausserhalb Chinas lahmt der Absatz, verschlingen der Markenaufbau und die Installation von automatischen Batterie-Tauschstationen viel Geld.

Ernüchterung nach anfänglicher Euphorie

Die Erwartungen mit Blick auf den europäischen Markt wurden bisher enttäuscht. Nachdem 2020 der chinesische Staat und 2023 das Konsortium CYVN aus Abu Dhabi mit kräftigen Finanzspritzen den Konkurs verhindert haben, beträgt der Nio-Börsenwert heute nur noch 10 Milliarden Dollar. Wie konnte das passieren?

Mit Entwicklungszentren in China, den USA und Europa feierte Nio seine internationale Orientierung zunächst überzeugender als andere Marken aus dem Reich der Mitte. Von Asien sollte rasch nach Übersee expandiert werden. Doch nach Europa wurden 2023 nur 2316 Autos verkauft, davon 1263 in Deutschland. Allein hier hatte man mit mittleren fünfstelligen Verkaufszahlen gerechnet. Zum Vergleich: Tesla kommt im selben Jahr auf 366 000 Einheiten europaweit.

An mangelhafter Qualität der Nio-Fahrzeuge liegt die schleppende Nachfrage nicht: Die komfortablen Elektroautos sind gut verarbeitet, technisch und funktionell hochwertig ausgestattet, und ihr Auftritt folgt dem Mainstream. Allerdings bringt ihre preisliche Positionierung neben Fahrzeugen von Audi, BMW und Mercedes potenzielle Kunden ins Grübeln.

Nio scheint die Markentreue europäischer Kunden in diesem Segment zu unter- und sein unentwegt beworbenes Alleinstellungsmerkmal zu überschätzen: Nio-Batteriepakete können nicht nur an Ladesäulen aufgefrischt, sondern alternativ an markeneigenen Wechselstationen innerhalb von drei Minuten gegen volle getauscht werden. In China hat Nio durch Kooperationen mit Chery, Changan, Geely und JAC deren Nutzergruppe erweitert.

In Europa scheint das nicht zu gelingen. So stehen in Deutschland bis jetzt nur 9 von über 40 geplanten Power-Swap-Stations. Nio-Fahrer beklagen zudem deren witterungsbedingte Anfälligkeit. Es gebe Ausfälle.

Ein weiteres Problem birgt die Strategie der Direktvermarktung. Mit ihr spart Nio Händlermargen. Doch für eventuelle Reparaturen gibt es deutschlandweit bislang nur 14 autorisierte Werkstätten. Andererseits wird viel Geld für teure Markenpaläste ausgegeben. Die sogenannten Nio Houses mit Cafeteria, Arbeitsbereichen und Fan-Shop sollen die in China erfolgreiche Community-Bildung auch international etablieren.

Doch die schicken gläsernen Räume ziehen Europäer ebenso wenig an wie die zahlreichen exklusiven Dienstleistungen, die über die Nio-App genutzt werden können. Etwa Lifestyle-Angebote oder das Nio-Radioprogramm. Dem Hersteller mangelt es in Europa bis jetzt an Verständnis für hiesige Kundenbedürfnisse.

Das ist auch bei den meisten anderen chinesischen Marken so. Derzeit schliesst etwa Great Wall Motor (GWM) gerade seine Europazentrale in München, wird fortan alle Aktivitäten von China aus steuern, was die Lernkurve fürs nötige Marktverständnis abwürgt.

Neue Marken sollen im tieferen Preissegment reüssieren

Nio setzt derweil auf die Expansion seiner Markenwelt. Die neue Untermarke Onvo soll noch 2024 und Firefly ab 2025 die Nio-Wahrnehmung mit preiswerteren Stromern steigern und Marktanteile gewinnen. Und auch hier gilt: An der Qualität der Fahrzeuge dürfte die Vision nicht scheitern. Eher an fehlerhafter Einschätzung der jeweiligen Kundenbedürfnisse und an mangelndem Kundenservice.

Der Markenname Onvo ist ein Kürzel, abgeleitet von «On Voyage». Das erste Modell L60 verweist auf «Le Dao», womit im Chinesischen der Weg zum Glück gemeint ist. Die Deutung gilt einem Mittelklasse-SUV-Coupé mit besonders wandlungsfähigem Interieur für junge Familien. Der L60 zielt auf die Konkurrenz des erfolgreichen Tesla Y, misst wenige Zentimeter mehr und inszeniert seine überlegene Raumausnutzung unter anderem mit einer Liegewiese für zwei Erwachsene mit Kind.

Damit interpretiert der Stromer die gegenwärtige Wandlung vieler chinesischer Autos zum dritten, mobilen Lebensraum – neben Arbeitsplatz und Wohnung. Seine Flexibilität rückt den L60 in die Nähe eines Camping-Fahrzeugs.

Mit einem geschätzten Leergewicht von knapp unter zwei Tonnen und der bei Serien-SUV weltbesten Windschlüpfigkeit (cw 0,23) legt der L60 die Grundlage für seinen sparsamen Stromverbrauch von 12,1 kWh pro 100 km. Die Reichweite soll mit der leistungsstärksten Batterie (Nio macht keine konkrete Angabe) und Heckantrieb nach chinesischem Messstandard über 1000 km betragen, was beeindruckende 880 km nach dem in Europa gängigen WLTP-Standard bedeuten kann und auf eine Batteriekapazität von rund 100 kWh hinweist.

Für 50 bis 75 Prozent dieser Reichweitenanforderung werden leistungsschwächere und preiswertere Akkus – etwa mit Lithium-Eisenphosphat – verbaut, auch eine Allradvariante soll es geben. Der Einstiegspreis des L60 liegt in China bei 219 000 Yuan (28 000 Euro oder 27 600 Franken). Dafür seien neben dem Kulleraugen-Sprachroboter Nomi alle aus dem Nio-Baukasten verfügbaren Assistenz- und Kommunikationssysteme an Bord.

Die Voraussetzung für schnelles Nachladen bietet die 900-Volt-Architektur inklusive Wärmepumpentechnik. Dem Nio-Baukasten folgend dürften die Antriebsleistungen zwischen 210 kW (286 PS) für den Einstiegs-Hecktriebler und 360 kW (482 PS) für den Allradler liegen. Natürlich sei auch der Akkutausch an Nio-Swap-Stations in 3 Minuten möglich. Wenn man denn eine in Reichweite findet.

Die glatte, strömungsgünstige Karosserie des neuen Onvo L60 folgt der Nio-Philosophie, keine Gestaltungsexperimente zu wagen. Deshalb gehören Lidar- und Kamerasensorik im charakteristischen «Watchtower» (Wachturm) über der Windschutzscheibe, Haifischnase und doppelstöckige LED-Leuchten zum Paket. Statt zu polarisieren, setzt Onvo auf die Allgemeinverträglichkeit fürs breite Publikum. Die inneren Werte machen den Unterschied zur Konkurrenz.

Für Europäer könnte der Onvo L60 ab 2025 eine Alternative zu Angeboten der etablierten Hersteller in der Stromer-Mittelklasse werden, deren Innenraum-Flexibilität sich auf mässigen Luxus wie umklappbare Rücksitzlehnen beschränkt. Massagesitze? Fussstützen? Liegebett und ein für den Videonachmittag angemessen dimensionierter Zentralbildschirm? Ganz zu schweigen von der 900-Volt-Hochspannungs-Architektur. Das alles ist im Onvo L60 enthalten, im Unterschied etwa zum aktuellen Angebot der Volkswagen- und Stellantis-Konzernmarken.

Nur das Marketing muss aufwachen, lernwillig sein und sich mit europäischen Gepflogenheiten befassen. Laut Kundenbefragung kennen beispielsweise im wichtigen deutschen Markt derzeit nur 8 Prozent die Marke Nio. Und nun sollen Zielgruppen auch auf Onvo aufmerksam werden. Seine hochgesteckten Expansionsziele im Auge, dürfte William Li noch eine Weile auf seinem Hocker hin und her rutschen.

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