Chinas Führung fördert die Abwanderung in die Provinz. Die Rückkehrer romantisieren ihr neues Landleben. Doch die Realität hinter der Deurbanisierung ist knallhart.
Huang Yiran hatte es in jeglicher Hinsicht geschafft im Leben. Obwohl sie aus der Kleinstadt Langfang im Süden von Peking stammt, hat sie dank ihrem Fleiss und ihrem Sprachtalent an Top-Universitäten im Land Englisch studieren können. Direkt nach ihrem Masterabschluss ergatterte sie eine Stelle als Redaktorin bei einer renommierten staatlichen Zeitung im Herzen der Hauptstadt. Manchmal fuhr sie am Wochenende nach Hause, im Wissen darum, dass sie sonntags wieder aufbrechen konnte, dorthin, wo das Leben in ihren Augen aufregend war.
«Langfang hat null Attraktionen», sagt die 31-jährige Huang über ihre Heimatstadt per Video-Gespräch. Und doch zog es sie nach wenigen Jahren wieder dorthin zurück. Eine Universität hatte ihr eine Stelle im Büro für Auslandsemester angeboten. Der Lohn war tiefer als bei der Zeitung. Sie war eigentlich überqualifiziert. Doch Huang willigte ein.
Wanderarbeiter sind Bürger zweiter Klasse
Zahlreiche junge Wanderarbeiter in China haben in den letzten Jahren den Schritt zurück gemacht. Genaue und aktuelle Zahlen dazu gibt es keine. Laut dem Statistikbüro hat China knapp 300 Millionen Wanderarbeiter. Über die Hälfte von ihnen arbeiten so weit von ihrem Heimatort entfernt, dass sie oft nur einmal pro Jahr nach Hause fahren können. Das Landwirtschaftsministerium schrieb im Februar, dass durchschnittlich etwa eine Million Wanderarbeiter pro Jahr definitiv aufs Land zurückkehrten, um ein eigenes Unternehmen zu gründen.
Diese ländlichen Entrepreneurs sind von der Regierung explizit gewünscht. «Löblich» nannte sie der Partei- und Staatschef Xi Jinping, weil sie die wirtschaftliche Entwicklung auf dem Land vorantrieben. Nicht eingeschlossen sind in der Statistik des Ministeriums jene, die für eine lokale Firma oder die Regierung arbeiten, bei den Eltern auf dem Feld oder etwa gar nicht.
Das Internet ist voll von Geschichten der Rückkehrer. Nicht jedoch von den zielstrebigen, patriotischen Firmengründern, sondern von jenen, die mit dem Umzug aufs Land jeglichen Ehrgeiz abgelegt zu haben scheinen. Auf Douyin, dem chinesischen Tiktok, berichten sie von einem entspannten, naturnahen Landleben. Einem Ausstieg aus dem Hamsterrad aus Überarbeitung, stundenlangem Pendeln und dem plagenden Gefühl, als Landei in der Stadt stets ein Bürger zweiter Klasse zu sein.
China unterteilt die Bevölkerung in Land- und Stadtbewohner. Wer von auswärts in die Grossstädte kommt, hat nicht denselben Anspruch auf Sozialleistungen wie gebürtige Städter und muss seine Kinder mitunter in minderwertige Schulen für Wanderarbeiter schicken oder gleich bei den Grosseltern zurücklassen. Das Ziel, eingebürgert zu werden oder eine Eigentumswohnung zu erwerben, liegt für die meisten Wanderarbeiter in unerreichbarer Ferne. Chancengleichheit ist für sie ein Fremdwort – strukturelle Diskriminierung im eigenen Land Alltag.
Die Traumvorstellung eines entschleunigten Lebens
Die Bilder der Aussteiger in den sozialen Netzwerken zeigen das ästhetische, romantische «slow life» auf dem Land: Filterkaffee, der im Einklang mit dem Regenwasser auf der Fensterscheibe in die Kanne tröpfelt, ein aufgeschlagenes Notizbuch mit den ersten zwei Zeilen eines Gedichts, selber gezogene Tomatensetzlinge.
Die Medien porträtieren diese Aussteiger nur allzu gerne, vielleicht, weil das Land ein Sehnsuchtsort ist. Die Realität ist das nicht. Nur die wenigsten Chinesen können es sich leisten, den ganzen Tag träumerisch aus dem Fenster zu schauen. Die hässliche, bitterarme, harte Seite des Landlebens verschweigen Chinas Medien, auch um die Würde der Personen zu schützen, die sich ein Plumpsklo pro Dorf teilen.
Ausserdem ist das «Land» in China vielerorts gar nicht mehr so ländlich, selbst wenn es administrativ zum ruralen Gebiet gezählt wird. Langfang, die Kleinstadt, in der Huang Yiran gross geworden ist, hat eine halbe Million Einwohner und liegt mit dem Hochgeschwindigkeitszug nur zwanzig Minuten von Peking entfernt. Der Lebensstandard kommt dort nahe an Peking heran, auch wenn die Ausbildungsmöglichkeiten und das Einkommensniveau geringer sind.
Der Hauptgrund, warum viele junge, gut qualifizierte Wanderarbeiter Chinas Metropolen den Rücken kehren, ist ökonomischer Natur: Die Jugendarbeitslosigkeit hat einen vorläufigen Höhepunkt von über 20 Prozent erreicht – die generelle Arbeitslosenquote liegt knapp über fünf Prozent. In Zeiten wirtschaftlicher Stagnation finden viele Wanderarbeiter keine Stelle mehr. Somit können sie sich das teure Stadtleben mit den exorbitanten Mieten nicht mehr leisten. Das Leben in Peking, Schanghai oder Guangzhou ist aufregend – aber es verliert rasch seinen Reiz für jene, die sich die überall lauernden Verlockungen nicht mehr leisten können.
«Ich konnte kein Geld mehr verdienen»
In den Kommentaren unter einem Artikel, der vergangene Woche auf der News-Website Toutiao viel gelesen wurde, liessen sich die unfreiwilligen Stadtflüchtigen über ihr Schicksal aus. Der Artikel handelte davon, dass sich der Nordosten Chinas wirtschaftlich gut entwickelt hat und deshalb Wanderarbeiter zurück in die Heimat lockt. Viele Kommentatoren widersprachen dieser Darstellung.
Ein Nutzer mit dem Namen «Wuluhy» schreibt zum Beispiel: «Es liegt am wirtschaftlichen Abschwung, dass viele Leute keine Jobs finden in den Städten. Im ganzen Land kehren sie in ihre Heimatprovinzen zurück.» Jemand mit dem Pseudonym «Schau zu und schweige» schrieb: «Ich konnte kein Geld mehr verdienen und musste deshalb zurück.» Ein anderer, der sich «Luftaufnahmen dokumentieren das Leben 123» nennt, kommentierte: «Ich kehre nur temporär in den Nordosten zurück und definitiv nicht, um ihn zu ‹revitalisieren›. In ein paar Jahren gibt es neue Möglichkeiten in anderen Städten, dann werden alle Leute dorthin strömen.»
Huang haderte anfangs mit ihrer Entscheidung, Peking zu verlassen. Nun, drei Jahre nach ihrer Rückkehr, ist sie überrascht, wie sehr ihr das Leben in der Kleinstadt gefällt. «Ich habe tiefere Ausgaben und weniger Stress», sagt sie und hebt ihren roten Kater auf den Schoss. Huang arbeitet nun an der Uni als Englischlehrerin. Unterrichten gebe ihrem Leben Sinn, sagt sie. Der Traum vom entschleunigten Leben – zumindest für Huang ist er in Erfüllung gegangen.

