Die Laborthese zum Ursprung des Coronavirus war einst ein Gerücht im chinesischen Internet. Jetzt gilt sie als plausible Erklärung. Eine Reise zurück zu denen, die vieles riskierten, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.
Li Zehua war ein Draufgänger. Jung, risikofreudig, ehrgeizig. Mit gerade einmal 25 Jahren moderierte er seine eigene Sendung beim chinesischen Staatsfernsehen. Doch diesen Job kündigte er Anfang Februar 2020, um nach Wuhan zu fahren und vom Ausbruch eines neuen Virus zu berichten. In seiner Freizeit rappte er unter dem Namen Kcriss, war Breakdancer. Und er fuhr Motorrad.
Vielleicht gelang es ihm wegen seiner Fahrkünste, seine Verfolger abzuschütteln, als er am 26. Februar 2020 mit dem Auto vom Institut für Virologie in Wuhan wegfuhr, Chinas einzigem Labor der höchsten Schutzstufe 4. Eilig lud Kcriss Li das Handyvideo der Verfolgungsjagd auf Youtube hoch. Dazu schrieb er:
«SOS, Hilfe – ich werde verfolgt! Ich komme gerade vom Schutzstufe-4-Labor in Wuhan, es ist komplett abgeriegelt. Ich bin einmal um das Gelände herumgelaufen, und als ich wieder hinausging, stellte ich fest, dass ein SUV mir den Weg versperrte. Ich konnte das Fahrzeug auf der dritten Ringstrasse abschütteln. Jetzt suche ich einen Ort, von dem aus ich schnell live gehen kann. Falls kein Livestream kommt, heisst das: Ich wurde bereits festgenommen.»
Kcriss Li schaffte es noch, aus seiner Unterkunft einen Livestream zu starten. Dann klopfte es an der Tür. Er löschte das Licht, sass stumm vor dem Laptop. Doch sie kamen zurück. Schliesslich öffnete er, packte seine Sachen und ging mit den Unbekannten an der Tür mit. Der Livestream brach ab.
Kcriss Li war nicht der Einzige, der mundtot gemacht wurde. Vor ihm war der Anwalt und freie Journalist Chen Qiushi, der ebenfalls aus Wuhan berichtet hatte, verschwunden. Auch die Menschenrechtsanwältin Zhang Zhan fuhr zum Institut für Virologie in Wuhan, um von dort zu berichten. Sie wurde später festgenommen und zu vier Jahren Haft verurteilt.
Es begann als Gerücht, Belege fehlen bis heute
All diese unabhängigen Video-Journalisten gingen Hinweisen nach. Die These, dass das Virus aus einem Labor entwichen war, kam als Erstes auf chinesischen Social-Media-Kanälen auf. Erst Wochen später wurde sie durch republikanische Politiker in den USA aufgegriffen.
Damals galt die Laborthese als abwegige Theorie. Heute halten sie Wissenschafter, die WHO wie Geheimdienste, vom amerikanischen CIA bis zum deutschen Nachrichtendienst, für eine ernstzunehmende Möglichkeit. Zwar geht die Mehrheit weiterhin davon aus, dass das Virus auf natürlichem Weg auf den Menschen übergesprungen ist. Doch die These eines Laborunfalls ist längst nicht mehr ausgeschlossen.
Denn auch fünf Jahre nach Ausbruch der Pandemie ist die Frage nach dem Ursprung des Coronavirus weiterhin ungeklärt. Bis heute fehlen Nachweise dafür, wie das Virus von einer Fledermaus – möglicherweise über einen Zwischenwirt – auf den Menschen übergesprungen ist. Ebenso fehlen Belege dafür, dass sich ein Forscher in einem der beiden Labore in Wuhan infiziert hat, in denen Coronaviren aus Fledermäusen untersucht wurden. Die Antwort liegt irgendwo in China begraben.
Dass der Ursprung des Coronavirus weitgehend Spekulation bleibt, dafür sorgte die chinesische Regierung von Anfang an.
Die Laborthese: ein Ausdruck des Misstrauens
Der Anfang liegt im Dezember 2019. Mehrere Personen in Wuhan entwickelten eine schwere Lungenentzündung und gingen ins Spital. Weil die Patienten nicht auf die üblichen Behandlungsmethoden ansprachen, schickte das Spitalpersonal Proben an private Labore. Diese sequenzierten das Virus und konstatierten bereits am 27. Dezember, dass es sich um ein neues Coronavirus mit Ähnlichkeiten zu Sars-1 handelte.
Ende Februar 2020 berichtete das Wirtschafts- und Finanzmagazin «Caixin», ein renommiertes privates Medienunternehmen aus Peking, darüber. Der Artikel wurde in der originalen chinesischen Version nach wenigen Stunden vom Netz genommen, aber die englische Version ist noch online.
Aus privaten Chat-Nachrichten von Ärzten in Wuhan sickerte die Nachricht von einem neuen Sars-ähnlichen Coronavirus an die Öffentlichkeit durch. So warnte zum Beispiel der Augenarzt Li Wenliang, der im Zentralspital von Wuhan arbeitete, seine Freunde vor der neuen Krankheit. Ende Dezember häuften sich die Meldungen in den sozialen Netzwerken. Li wurde von der Polizei verwarnt und musste eine Erklärung unterschreiben, in der er sich verpflichtete, keine Informationen mehr darüber zu verbreiten.
Am 31. Dezember informierte China die WHO über das neuartige Virus. Gleichzeitig entfernten die Zensoren bestimmte Begriffe im chinesischen Internet – darunter «unbekannte Lungenkrankheit Wuhan», «Sars-Variante» und «P4-Virus-Labor», ein Verweis auf das Institut für Virologie in Wuhan. Das geht aus einer Studie vom März 2020 zu den chinesischen Plattformen WeChat und YY hervor.
Am 1. Januar wiesen die Gesundheitsbehörden in Wuhan alle privaten Labore an, bestehende Proben des neuen Coronavirus zu vernichten, alle Tests einzustellen und wissenschaftliche Arbeiten dazu zurückzuhalten. Auch das steht im Bericht des Wirtschaftsmagazins «Caixin». Am 3. Januar folgte dieselbe Anordnung von nationaler Ebene. Auch das Institut für Virologie in Wuhan musste offenbar folgen. Ein nationales Expertenteam übernahm nun die Führung. Am 9. Januar meldete das Staatsfernsehen, dass es dem Expertenteam gelungen war, die Gensequenz des neuartigen Erregers zu entziffern. Zwei Tage später teilte China sie mit der WHO – zwei Wochen nachdem bereits private Labore dieselbe Erkenntnis gewonnen hatten.
Am 20. Januar bestätigte China, dass das Virus von Mensch zu Mensch übertragbar sei, einen Tag später galt in Wuhan die Ausgangssperre.
Chinas Regierung hat zu Beginn der Pandemie wertvolle Zeit und Vertrauen verspielt. Die Wut der Chinesen entlud sich am 7. Februar 2o2o mit Protest auf Social Media, als Li Wenliang, der Augenarzt, der vor dem Virus gewarnt hatte, selbst an den Folgen der Erkrankung starb. Die Chinesen vermuten: Wenn die Behörden gegen Menschen wie Li Wenliang vorgehen, einfache Reporter wie den jungen Moderatoren Li Zehua verschwinden und lebenswichtige Informationen zerstören lassen – dann müssen sie etwas zu verbergen haben. Nur was?
Die Laborthese ist ein Ausdruck des Misstrauens gegenüber der chinesischen Regierung. Deswegen taucht sie gerade in China immer wieder auf. Das, obwohl die Regierung alles tut, um die Menschen von eigenen Recherchen abzuhalten.
Laborunfälle gibt es immer wieder
Kcriss Li wurde am Tag, als er das Wuhan Institut für Virologie besuchte, vor laufender Kamera festgenommen. Was danach mit ihm geschehen ist, erzählt er in einem bizarren Video, das er Ende April 2020 auf Youtube veröffentlichte.
Die Regierung habe ihn wochenlang unter dem Vorwand der Quarantäne festgehalten. «Sie haben mich ausruhen und essen lassen und sich gut um mich gekümmert», sagt Kcriss Li, und es klingt so, als ob er einen Text ablesen würde. «Gott segne China, und die Menschen dieser Welt mögen sich vereinen.» Es ist das letzte Video auf seinem Kanal.
Kcriss Li, der Draufgänger, war also verstummt. Im Februar wurden die chinesischen Medien angewiesen, nichts Kritisches mehr aus Wuhan zu berichten. Die Laborthese ploppte trotzdem immer wieder auf.
Am 6. Februar veröffentlichten die Biologen und Physiker Xiao Botao und Xiao Lei einen Vorabdruck eines Fachaufsatzes. Er trägt den Namen «Die möglichen Ursprünge des 2019-nCov-Coronavirus» und war nur kurz online. Darin schreiben die Autoren, dass es bisher keine Hinweise dafür gebe, dass das Virus in der Natur auf den Menschen übergesprungen sei. Aber ein Laborunfall sei ebenso plausibel.
Die Autoren zeichneten auf einer Karte ein: 280 Meter vom Meeresfrüchtemarkt entfernt, wo die erste Häufung an Infektionsfällen entdeckt wurde, befindet sich das Wuhan Center for Disease Control and Prevention. Dort werde nachweislich an Fledermäusen geforscht, schrieben die Autoren. Sie schilderten einen haarsträubenden Vorfall, bei dem ein Mitarbeiter von einer Fledermaus angegriffen wurde und sich danach in Quarantäne begab. Die Autoren erwähnten auch das Institut für Virologie. Sie mahnten, dass die Sicherheitsvorkehrungen in solchen Laboren erhöht werden müssten.
Laborunfälle kommen vor, immer wieder, weltweit. Auch in China. Im Jahr 2004 brach in Peking Sars-1 erneut aus, obwohl die Epidemie von 2002 und 2003 bereits eingedämmt worden war. Untersuchungen ergaben, dass sich zwei Mitarbeiter des Pekinger Center for Disease Control and Prevention im Labor mit dem Virus angesteckt hatten. Sie trugen das Virus nach aussen und infizierten weitere Personen.
Damals arbeiteten Chinas Behörden für die Untersuchung eng mit der WHO zusammen. Die chinesische Regierung räumte öffentlich ein, dass es sich um einen Laborunfall gehandelt hatte. Das betroffene Labor wurde geschlossen, führende Forscher und Beamte entlassen, und strikte Sicherheitsmassnahmen für Labore wurden eingeführt.
Die Politik steht der Wissenschaft im Weg
Das China des Jahres 2004 war beim Ausbruch der Corona-Pandemie über 15 Jahre später nicht mehr dasselbe. Damals befand sich das Land in einer Phase wirtschaftlicher Öffnung, war neu der Welthandelsorganisation beigetreten und verhielt sich aussenpolitisch eher zurückhaltend. Bis 2019 hingegen war China zur globalen Grossmacht aufgestiegen, befand sich in einem Handelskrieg mit den USA und zeigte aussenpolitisch ein zunehmend aggressives Auftreten. Innenpolitisch war unter Xi Jinping ein Führungsstil starker Kontrolle zurückgekehrt.
In diesem Kontext entschied sich Chinas regierende Kommunistische Partei zum Gegenangriff, als die Fragen zum Ursprung des Virus immer vorwurfsvoller gestellt wurden – insbesondere aus den USA.
Es war eine Schuldfrage geworden, eine hochpolitische Frage und keine wissenschaftliche mehr: Ob das Virus nun aus der Natur stammt oder aus dem Labor, das Resultat war eine globale Katastrophe, ausgelöst in China. Ein kontroverser Sprecher des chinesischen Aussenamts verbreitete damals die Theorie, das Virus sei aus einem amerikanischen Labor entwichen. Von Staatsmedien wurde die absurde Aussage eifrig aufgegriffen.
Ein internationales Expertenteam der WHO liess Chinas Regierung zwar im Jahr 2021 einreisen, doch echten Zugang zu Daten und Proben gewährte sie ihm nicht. Im Untersuchungsbericht der WHO wurde die Laborthese als «höchst unwahrscheinlich» abgetan. Neue Hinweise fand das Team nicht.
Chinas Partei- und Staatschef Xi Jinping setzte alles daran, die anfänglichen Versäumnisse durch eine kompromisslose Null-Covid-Politik zu kompensieren. Stadt um Stadt wurde wochenlang unter Lockdown gestellt, Quarantänezentren für Infizierte aus dem Boden gestampft, tägliche Massentests waren Pflicht. Reisen waren nur noch mit einem grünen Gesundheitscode auf dem Handy möglich – ein System nahezu perfekter Kontrolle.
Fragen nach dem Ursprung des Coronavirus wurden verdrängt durch die Frage, welches politische System die Pandemie besser im Griff hatte. Gerade für die USA war das auch eine gute Ablenkung von den eigenen Versäumnissen. Schuld an allem sei China gewesen, implizierte Donald Trump, indem er stets vom «Chinese Virus» sprach. Er behauptete, eindeutige Hinweise gesehen zu haben, die die Laborthese untermauerten.
Ein Institut im Zentrum der Kontroversen
Im Zentrum der Kontroversen steht bis heute das Institut für Virologie in Wuhan und immer wieder eine bestimmte Frau: Shi Zhengli, die zu Fledermäusen forscht – und einen engen Verwandten des neuen Coronavirus in ihrer Datenbank führt. Bereits am 20. Februar 2020 veröffentlichte das Institut unter hohem öffentlichem Druck ein Statement auf Chinesisch und dementierte alle Thesen, die damals in China rund um das Institut zirkulierten: dass eine Studentin am Institut sich als Erstes angesteckt haben soll, dass das Virus aus dem Labor entwichen sei oder dass das Virus im Labor künstlich hergestellt worden sei.
Shi Zhengli sprach auch mit internationalen Medien, schliesslich hatte sie in Frankreich studiert. Beim Ausbruch der Pandemie habe sie selber befürchtet, dass es ein Virus aus ihrem Labor sei, der entwichen sei. Sie habe alles durchsucht, doch nichts gefunden. «Wir können nichts freisetzen, das wir nicht haben», sagte sie einer Journalistin des Wissenschaftsmagazins «MIT Technology Review».
Doch man glaubte ihren Beteuerungen nicht. Das Misstrauen gegenüber der chinesischen Regierung bekommt auch Shi zu spüren. Irgendwann hört sie auf, Interviews zu geben.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist es klar: Noch stehen alle Möglichkeiten im Raum, Natur wie Labor. Wahrscheinlicher, rein statistisch, ist ein natürlicher Ursprung. Aus politischer Sichtweise ist diese Unklarheit für China von Vorteil. Chinas kommunistische Regierung scheint zum Schluss gekommen zu sein, dass eine eindeutige Aufklärung China in der gegenwärtigen geopolitischen Lage nur schaden kann.
Kcriss Li ist mittlerweile kein Draufgänger und auch kein Journalist mehr. Das Jugendliche, das Unbeschwerte ist mit seiner Verhaftung vor laufender Kamera damals sichtlich von ihm abgefallen. Er wirkt nun nachdenklicher, reifer.
2021 gelang es Kcriss Li, in die USA zu fliehen. Dort studierte er ein zweites Mal, beschäftigt sich mit künstlicher Intelligenz. An die Laborthese glaube er noch immer, sagt er 2023 in einem Interview mit dem amerikanischen Komitee für den Schutz von Journalisten. Der Grund liegt auch bei ihm im Misstrauen gegenüber Chinas Staat. In all seiner Furcht habe er damals, als die Beamten ihn abgeführt hätten, eine abgrundtiefe Enttäuschung empfunden.