Mittwoch, Oktober 9

Trotz einem geheimen Abkommen steigen die Spannungen zwischen Manila und Peking im umstrittenen Gewässer. Peking setze seine Ansprüche rücksichtslos durch, sagt der Experte François-Xavier Bonnet im Gespräch. Auch Manila sei unnachgiebiger geworden.

Im Südchinesischen Meer sind am frühen Montagmorgen Schiffe der chinesischen und der philippinischen Küstenwache zusammengestossen. Bilder, welche die philippinische Küstenwache verbreitete, zeigten strukturelle Schäden an zwei ihrer Schiffe.

Beide Seiten wiesen sich gegenseitig die Schuld an der Kollision zu: Die chinesische Küstenwache schrieb in einer Erklärung, dass ein philippinisches Schiff mehrere chinesische Warnungen ignoriert und ein chinesisches Schiff absichtlich gerammt habe. Die philippinische Regierung ihrerseits sprach gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters von zwei separaten Zusammenstössen: Zwei ihrer Schiffe seien «unrechtmässigen und aggressiven Manövern» chinesischer Schiffe ausgesetzt gewesen.

Die philippinischen Schiffe hätten zwei Aussenposten weiter westlich mit Nachschub versorgen sollen. Zur Kollision kam es in der Nähe des Sabina Shoal. Es liegt gut 130 Kilometer westlich der philippinischen Insel Palawan, ganz klar innerhalb der exklusiven Wirtschaftszone der Philippinen.

Gegenwärtig ist das Shoal unbesetzt; neben den Philippinen und China erheben auch Vietnam und Taiwan Anspruch darauf. Ein von den Philippinen angerufenes Schiedsgericht entschied 2016, dass die von China innerhalb seiner Nine-Dash-Line gemachten Ansprüche unter modernem Seerecht nicht rechtmässig sind.

Nur wenige Dutzend Kilometer westlich des Sabina Shoal liegt das Second Thomas Shoal. Dieses war bisher der grösste Brennpunkt in der Rivalität zwischen Manila und Peking. Denn 1999 hatten die Philippinen ein altes Kriegsschiff, die «Sierra Madre», am Second Thomas Shoal auf Grund gesetzt. Seither sind dort ein gutes Dutzend Marineinfanteristen stationiert. Die monatlichen philippinischen Versorgungsmissionen werden von den chinesischen Behörden scharf beobachtet und häufig behindert. Regelmässig kommt es zu Zwischenfällen.

Warum die Spannungen so hoch sind und warum unscheinbare Riffe im Meer für China und die Philippinen so wichtig sind, erklärt François-Xavier Bonnet, ein Experte für das Südchinesische Meer am Institut de recherche sur l’Asie du sud-est contemporaine (Irasec) mit Sitz in Bangkok. Irasec gehört zu einem Netzwerk von Forschungsinstituten des französischen Aussenministeriums. Bonnet ist in Manila stationiert.

Herr Bonnet, warum sind die Spannungen im Südchinesischen Meer zwischen den Philippinen und China so hoch?

Sowohl die Philippinen wie auch China treten heute im Südchinesischen Meer forscher auf als früher. Diese Entwicklung begann mit der Amtsübernahme von Xi Jinping in China Ende 2012. Er setzt die chinesischen Ansprüche rücksichtslos durch. Davor haben sich die beiden Länder an die informelle Abmachung gehalten, dass man sich zurückhält. Seit 2022 ist in den Philippinen Ferdinand Marcos an der Macht. Auch er vertritt die philippinischen Ansprüche so resolut wie kein Präsident vor ihm.

Warum macht Marcos das?

Im Wahlkampf sah es so aus, als würde Marcos die Politik seines Vorgängers Rodrigo Duterte weiterführen, der gegenüber China sehr zurückhaltend war. Marcos’ Umschwenken hat viele überrascht. Vielleicht liegt es daran, dass sein Vater, Ferdinand Marcos senior, die philippinischen Ansprüche im Südchinesischen Meer offiziell geltend gemacht hatte. Da will der Junior wohl das Erbe seines Vaters weiterführen.

Aber ist es nicht auch im Volk populär, für diese Ansprüche einzutreten?

Ja. Allerdings war im Volk aber auch Dutertes Politik populär, sich mit den Chinesen gut zu stellen. Das Verteidigungs-Establishment hingegen sah Dutertes Beschwichtigungspolitik als Kapitulation vor China an und war entschieden dagegen.

Im Juni verlor ein philippinischer Soldat einen Finger, als chinesische Streitkräfte mit Messern sein Boot angriffen. Wie brenzlig war diese Situation?

Das ist das Maximum an Gewalt, das wir bisher gesehen haben. Sonst setzte China meist Wasserwerfer ein, dabei blieben die beiden Seiten auf Distanz. Kurz nach dem Zwischenfall wurde bekannt, dass beide Seiten ein einstweiliges Abkommen geschlossen hatten, wie sich ihre Streitkräfte künftig gegenseitig im Südchinesischen Meer verhalten sollten. Doch der Inhalt ist geheim. Und seither beschuldigen sich beide Seiten gegenseitig, dieses Abkommen zu verletzen. Gut möglich, dass es so vage formuliert ist, dass jede Seite etwas anderes hineininterpretiert.

Und nun die Kollision zwischen Küstenwachschiffen in der Nähe des Sabina Shoal. Warum ist das relevant?

Sabina Shoal ist nur 130 Kilometer von der philippinischen Insel Palawan entfernt. Noch nie haben die Chinesen eine philippinische Versorgungsmission so nahe an einer philippinischen Hauptinsel behindert. Ziel der Mission waren zwei weiter westlich gelegene Inseln, Lawak und Patag. Bisher liess Peking den Nachschub für diese philippinischen Stützpunkte, die seit den siebziger Jahren bestehen, immer unbehindert.

Welche Rolle spielt das Sabina Shoal für die Philippinen?

Dort gibt es grosse Gasvorkommen. Malampaya, das bisherige Gasfeld der Philippinen im Südchinesischen Meer, ist fast erschöpft. Daher möchte Manila diese neue Energiequelle erschliessen – Peking will das verhindern.

Häufiger als am Sabina Shoal geraten die beiden Seiten am Second Thomas Shoal aneinander. Warum ist dies ein solcher Brennpunkt?

In der Spratly-Gruppe, wo sich das Shoal befindet, ist die Navigation für die Schifffahrt extrem schwierig – auf alten Seekarten wurde das Gebiet schlicht als «Dangerous Ground», «gefährliches Gebiet», markiert: So viele Riffe gibt es, die aus grosser Tiefe auf einmal bis zum Meeresspiegel hochragen. Unzählige Schiffe sind daran zerschellt. Mittlerweile sind zwei Seerouten bekannt, welche auch für grosse Schiffe sicher befahrbar sind. Eine verläuft in nord-südlicher Richtung, der andere in ost-westlicher. Und diese beiden Routen kreuzen sich in der Nähe des Second Thomas Shoal.

Man kann von dort aus also diese Seewege kontrollieren . . .

Für die Philippinen ist die Ost-West-Verbindung extrem wichtig, denn so kommen sie von der Hauptinsel Palawan nach Pag- asa, ihrem grössten Stützpunkt in den Spratlys. Aber auch nach Lawak und Patak, die Destinationen der gegenwärtig gestörten Versorgungsmission. Darum haben sie dort die «Sierra Madre» auf Grund gesetzt.

Und warum setzt China alles daran, das Shoal zu kriegen?

China könnte von dort aus den Schiffsverkehr in den Spratlys viel besser überwachen als von seinen bisherigen Basen in der Gegend. Und zwar den zivilen wie den militärischen. Auch für eine U-Boot-Basis wäre das Shoal sehr gut gelegen.

Die «Sierra Madre» ist komplett verrostet und droht beim nächsten Sturm auseinanderzufallen. China scheint nur darauf zu warten. Es wirft den Philippinen vor, im Geheimen den alten Pott zu verstärken. Ist da was dran?

Normalerweise sind ein Dutzend Marineinfanteristen auf dem Schiff stationiert. In den letzten Monaten waren auch Soldaten einer Einheit für Bauarbeiten der Marine da. Sie sollen die «Sierra Madre» so weit verstärkt haben, dass das Schiff weitere zehn Jahre als Stützpunkt dienen kann.

Die Philippinen haben seit 1951 ein Verteidigungsabkommen mit den USA. Welche Rolle spielen die USA im Konflikt zwischen den Philippinen und China?

Bei den Versorgungsmissionen für die «Sierra Madre» sprechen sich die Philippinen normalerweise im Voraus mit den USA ab. Diese überwachen dann aus der Luft die Situation. Beim Zwischenfall im Juni, als der philippinische Soldat verletzt wurde, handelte es sich um eine Aktion eines lokalen Kommandanten ohne Rücksprache mit der Armeeführung oder der Regierung. Auch die Amerikaner wussten nichts davon. Ich weiss, dass die Amerikaner unglaublich wütend waren über das philippinische Vorgehen. Denn dies hätte sie in einen Konflikt hineinziehen können.

Chinesische Staatsmedien stellen die Philippinen gerne als Marionette der USA dar. Das Narrativ ist, dass Washington die Philippinen benutze, um China zu bedrängen . . .

Nein, die Philippinen wollen verteidigen, was sie als ihre rechtmässigen maritimen Zonen ansehen, also ihre exklusive Wirtschaftszone und den Kontinentalsockel. Die Philippinen erheben seit den dreissiger Jahren Anspruch auf die Spratly-Inseln, Lange hat sie Washington dabei nicht unterstützt. Wenn Peking behauptet, die Philippinen machten auf Anstiftung der USA neue Ansprüche geltend, dann stimmt das nicht.

Die Amerikaner haben Manila wiederholt angeboten, im Südchinesischen Meer gemeinsame Patrouillen mit der philippinischen Marine oder Küstenwache zu fahren. Manila lehnte dies bisher ab, weil es nicht als verlängerter Arm Washingtons gesehen werden will.

Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem bewaffneten Konflikt kommt?

Es besteht die Gefahr, dass ein Zusammenstoss ausser Kontrolle gerät. Vor allem wenn ein Kommandant eigenmächtig handelt, wie beim Zwischenfall im Juni. Zum Glück gab es da nur einen Verletzten und keine Todesopfer. Denn dann käme das Verteidigungsabkommen von 1951 zum Zug – das sagen die Amerikaner ganz offen. Dieses Abkommen sieht nicht ein automatisches Einschreiten der USA vor. Die Parlamente beider Seiten müssten es genehmigen. Dies könnte den Prozess verlangsamen und vielleicht Zeit für eine diplomatisch Lösung schaffen.

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