Anstelle der Barbour-Jacke von einst muss der Protagonist von «Air» sich nun zwischen Woll- und Fleece-Pullover entscheiden. Es ist alles da in diesem neuen Roman, was man von einem guten Kracht erwartet. Und doch fehlt etwas.
Auf der schottischen Insel Orkney steht ein Haus, in dem Haus hängt ein Bild, und auf dem Bild sieht man den Zauberer Merlin und, hoch zu Ross, den Ritter Lancelot. Unter dem Gemälde von James Archer lehnt ein altes Schweizer Militärvelo.
Während das Velo, der Schweizer Autor Christian Kracht nennt es sehr deutsch Fahrrad, bald keine Rolle mehr spielt, ist das Bild alles: Ausgangs- und Zielpunkt, Schlüssel zu und Anker für Krachts neuen Roman «Air».
Das perfekte Weiss
Am Anfang von «Air» steht das perfekte Rot, auf das der Herzog von Cumberland Jagd macht; er braucht es für eine Wand in seinem Salon. Der Dekorateur Paul, ausgewanderter Schweizer und seither Inselbewohner in Schottland, findet den genau richtigen Rotton zufälligerweise in einem Magazin für Innenarchitektur und wird vom dankbaren Herzog mit Archers Merlin-Malerei beschenkt.
Ab da geht es mit der Karriere steil bergauf. Die Kunden sehen in Paul, der so viele Dinge über Ästhetik weiss, einen regelrechten Zauberer. Und Paul «wähnte sich immer mehr in einem fortlaufenden Zustand des Erfolgs und der Anerkennung und des Glücks».
Dieser Zustand scheint zu einem neuen Höhepunkt zu kommen, als Paul von Cohen, dem Herausgeber eines Architekturmagazins, den Auftrag erhält, für eine gigantische Server-Anlage in Norwegen das perfekte Weiss zu finden. Doch genau in dem Augenblick, in dem Paul die Server-Anlage besichtigt, führt eine Sonneneruption zu einem globalen Kurzschluss, die Server kommen zum Erliegen, und das Licht geht aus, und als es endlich wieder hell ist in der Halle, ist Paul verschwunden.
Die Sonne geht im Westen auf
In einer parallelen Handlung, in einer archaisch-mittelalterlichen Welt, in der die Sonne im Westen aufgeht, Krankheiten und Gemüse anders heissen und die Menschen mit den Händen nach unten winken, ist Ildr mit Pfeil und Bogen auf der Jagd. «Sie war ohne Schuhe, sie war ein einfaches Mädchen, sie störte die Armut nicht, sie kannte nichts anderes.» Neun ist das Kind und Waise, die Mutter starb den Gelben Tod und der Vater einen anderen. Sie will ein Reh schiessen, trifft aber stattdessen einen Fremden in einer hellen Kutte, der einfach plötzlich aufgetaucht ist in ihrer Welt.
Ildr pflegt den Mann, der so viele Dinge über die Welt weiss, dass sie ihn für einen Zauberer hält. Doch der Herzog von Tviot macht Jagd auf den Fremden, und so flieht Ildr mit ihm zusammen nach Süden, wo das Eismeer liegt, von dem Paul in seinem Handlungsstrang ebenso träumte wie Ildr in ihrem.
Der Kreis schliesst sich
Während Ildr und der Fremde von den Schergen des Herzogs gesucht werden und zu Fuss aus dem Grünen Norden hinein in eine karge Steinwüste laufen, hat der Architekturmagazinherausgeber Cohen in einer anderen Zeit und anderen Welt ein schlechtes Gewissen. Immerhin hat er den Dekorateur nach Norwegen geholt. Und nun verloren. Darum macht er sich schliesslich auf, Paul zu suchen.
Unterwegs schluckt Cohen, weniger aus Verzweiflung denn aus Gleichgültigkeit, vierzig Phenobarbital-Tabletten. Kein unbekanntes Motiv im Kracht-Roman. Was mit einem passiert, der vierzig starke Schlaftabletten auf einmal schluckt und sich den Magen nicht auspumpen lässt, kann man sich vorstellen.
Doch die Handlung geht weiter. Cohen erreicht Pauls Haus und auch sein Boot, die «Dóchas» – auf Deutsch «Hoffnung» –, und beginnt zu rudern. Er rudert, bis der Kreis sich schliesst, die auf den Reisen in beiden Handlungssträngen gestreuten Puzzleteile an ihre Plätze fallen und sich aus den zusammengeführten Handlungen schliesslich wieder das Bild vom Anfang ergibt.
Aber natürlich sind es nun nicht mehr Lancelot und Merlin, die man sieht, sondern Cohen und Paul. Oder waren sie es sowieso schon immer?
Alles sehr «krachtig»
Alles wiederholt und spiegelt sich in diesem Buch. Da sind zwei Pfeile, die sich zweimal in den falschen Körper bohren, zwei Herzöge auf der Jagd, und ein Bild, das man erst von vorne betrachtet, bevor die Geschichte sich gewissermassen einmal rundherum bewegt und die Figuren sich von hinten einfügen in die Umrisse der gemalten Leute.
Paul ist eine Kracht-Figur, wie sie bereits in vielen Romanen steht. Er trägt zwar keine Barbour-Jacke, muss sich dafür aber zwischen den auf seiner Insel traditionell gefertigten Schurwollpullovern und dem längst beliebteren Kunstfaser-Fleece entscheiden. Natürlich wird das Produkt der Moderne verlieren. Denn wie in allen Kracht-Romanen ist die Moderne auch in diesem keine erstrebenswerte Zeit.
«Air» verfügt also mit Paul – und auch mit Cohen – über klassische Kracht-Figuren. Und es sind auch die klassischen Kracht-Motive vorhanden: die Kritik an der Moderne, das Gegenständliche und manchmal Abstossende in der Beschreibung, die ungeklärte Handlung. Überlebt Paul den Kurzschluss in der Server-Halle und Cohen seine Überdosis? Oder treffen sie sich nach dem Tod wieder, in der gleichen Nachwelt, deren Sonne im Westen aufgeht? Oder ist alles bloss ein Traum, den Paul träumt, weil ein geschenktes Bild gegenüber seinem Bett an der Wand hängt, das ihm eigentlich gar nicht gefällt? So ist «Air» also ein durch und durch «krachtiger» Roman. Und darin liegt sein Problem.
Christian Kracht war für die deutschsprachigen Feuilletons erst eine Zumutung und für die Leserschaft bald eine grosse Entdeckung – weil er vor dreissig Jahren mit «Faserland», diesem ersten Stück Pop-Literatur diesseits des Atlantiks, etwas derart Neues, Andersartiges schuf, dass kaum einer um ihn herumkam.
Heute ist Kracht vor allem das: nicht mehr wegzudenken. Und mit «Air» werden die Erwartungen an einen neuen Kracht befriedigt. Alles im Rahmen, also. Aber es fehlt das überraschend Andere. Dabei machte genau das diesen Kracht doch einst aus: den gegebenen Rahmen zu sprengen. Was also bleibt?
Fingerübung für Fährtenleser
Kracht schreibt stets in so losen Maschen, dass jede Interpretation dazwischenpasst. Dazu legt er Referenzen wie Brotkrumen, denen seine Apologeten, die geübten Fährtenleser, folgen können. Paul etwa träumt von Barnhill, einem Haus auf der schottischen Jura-Insel. Hier hat der sterbenskranke George Orwell «1984» geschrieben. Cohens Magazin heisst «Kūki», und dieses japanische Wort wiederum heisst auf Deutsch «Luft» und auf Englisch «Air».
Aus einer zur Buchtauschbörse umfunktionierten Telefonkabine zieht Paul «Die Brüder Löwenherz» von Astrid Lindgren. Die Geschichte zweier Buben, auf die nach ihrem viel zu frühen Tod eine Abenteuerwelt wartet und nach dieser noch eine zweite. Eine Welt hinter der Welt hinter der Welt.
Irgendwo steht auch «Die Zeit, die Zeit», und man denkt an einen Roman des Deutschschweizer Autors Martin Suter, in dem einer die Vergangenheit derart perfekt nachbaut, dass sie sich wieder einstellt. Eine Vergegenwärtigung des Vergangenen, so perfekt, dass sie Realität wird. Eine Zeitreise mittels Detailtreue. Und weil Kracht, wie Lindgren, von einer Welt hinter der Welt erzählt und, wie Suter, die Zeitebenen beweglich hält, fragt man sich: Nickt der ehemalige Pop-Literat Kracht hier dem Unterhaltungsschriftsteller Suter zu?
«Das weiss ich auch nicht »
Kracht beantwortet kaum Fragen, gibt nur wenige Interviews. Eines dieser wenigen Gespräche führte vor Erscheinen des neuen Romans die Wochenzeitung «Die Zeit» mit dem Autor. Man könne, steht im Text, mit ihm gut über seine Bücher sprechen, «allerdings nicht, wenn man eine Deutung erwartet. Dann wirkt er aufrichtig ratlos, fast beschämt.» In einem zweiten Interview, diesmal mit «SR Kultur», wird Kracht gefragt, wie er auf den Titel «Air» gekommen sei. Immerhin handelt sein Buch nicht von Luft, sondern viel von Stein und ein bisschen vom Eis. «Ach», antwortet Kracht, «das weiss ich auch nicht. Das kann ich Ihnen nicht erklären.»
Er wird sich hüten, das Spiel, das so viele mit Genuss betreiben, für beendet zu erklären. Kracht-Romane sind wie Schnitzeljagden. Es gibt vieles zu erkennen, zu entschlüsseln und zu deuten. Anders als bei den Schnitzeljagden von einst, wo das Erreichen des Ziels die Bestätigung dafür war, die Hinweise richtig gedeutet zu haben, ist das Spiel bei Kracht nie zu Ende. Das ist ein bisschen Koketterie und viel Kalkül.
Christian Kracht: Air. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025. 224 S., Fr. 34.90.