Mittwoch, Februar 26

Die 33-Jährige fand zufällig zum Alpinismus, Rekorde bedeuten ihr nichts. Trotzdem geht Christine Vogondy an den höchsten Bergen der Welt an die Grenzen – und arbeitet daneben Vollzeit.

Als Christine Vogondy zum ersten Mal im Leben versucht, einen Achttausender zu besteigen, dreht sie um. Frühjahr 2021, Vogondy befindet sich seit bald zwei Monaten am Mount Everest, träumt vom Gipfelerfolg. Gerade hat sie sich scheiden lassen, sie hat jung geheiratet, geglaubt, alles sei vorgezeichnet. Am Everest lenkt sie sich vom Gedanken ab, dass sie ihr Leben neu sortieren muss. Irgendwann sieht sie aber ein, dass sie es in diesem Jahr nicht auf den höchsten Berg der Welt schaffen würde.

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Das Wetter ist schlecht, die Lawinengefahr hoch. Und Vogondy fühlt sich bei der Expeditionsagentur, die sie gebucht hat, unwohl, unsicher. Also reist sie ab. Heute sagt sie: «Umzukehren war eine harte Erfahrung. Doch sie hat mich gelehrt, dass es Dinge gibt, die ich nicht kontrollieren kann.»

Vogondy ist 33 Jahre alt und lebt in Genf. Auf den Everest schafft sie es doch noch. Im vergangenen Frühjahr besteigt sie sogleich auch noch den Lhotse, als erste Schweizer Person überhaupt steht sie am gleichen Tag auf beiden Achttausendern. Wirklich gefallen habe es ihr am Everest aber nicht, sagt Vogondy: «Es hatte zu viele Leute, ich bevorzuge Berge, an denen nur wenige Seilschaften sind.» Am liebsten klettert sie so lange wie möglich allein.

Der Everest ist für sie nur eine Etappe zu einem grossen Ziel gewesen: Sie will es auf alle 14 Achttausender schaffen. Das haben bisher weniger als 15 Frauen geschafft – je nach statistischer Lesart; einige der Besteigungen sind umstritten, eine unabhängige Kontrollinstanz fehlt. Soviel ist klar: Vogondy wäre die vierte Person aus der Schweiz, die es schafft, nach Erhard Loretan 1995 und Sophie Lavaud 2023 sowie Josette Valloton, die die Parforce-Leistung zwischen 1999 und 2024 fernab der öffentlichen Aufmerksamkeit vollbracht hat.

Ein Weltrekord an den Achttausendern in Pakistan

Vogondy hat in den vergangenen drei Jahren zehn Achttausender erklommen, darunter die statistisch gesehen gefährlichsten, den Nanga Parbat, die Annapurna, den K 2. Zwischen den Besteigungen gönnt sie sich oft nur wenige Tage Ruhe, 2023 steht sie innerhalb von 26 Tagen auf den fünf Achttausendern Pakistans – das ist Weltrekord bei den Frauen. Vogondy sagt: «Mein grosser Vorteil ist, dass ich mich rasch erhole.» Doch trotz diesen Erfolgen kennt sie in der Schweiz kaum jemand ausserhalb der Alpinisten-Szene.

Das liegt nebst dem Röstigraben wohl auch an Vogondys Herangehensweise. An die Besteigung aller Achttausender denkt sie lange nicht, sie ist keine Träumerin, zum Alpinismus findet sie zufällig. Als Teenager ist Vogondy eine talentierte Leichtathletin, läuft auf der Mittel- und Langstrecke. Schon als Kind ist sie ehrgeizig, rennt und rennt und rennt. Als Achtjährige nimmt sie an einem Sponsorenlauf teil. Anders als Gleichaltrige läuft Vogondy nicht drei, vier oder fünf Runden im Stadion, sondern 50 und damit Kilometer. «Das war wahnsinnig langweilig, doch ich habe diese Langweile und die Anstrengung gemocht», sagt Vogondy.

Als 19-Jährige verletzt sie sich, verpasst ein Jahr Training und gibt die Ambitionen in der Leichtathletik auf. Vogondy konzentriert sich stattdessen auf das Studium und die Arbeit. Fortan läuft sie nicht mehr auf der Tartanbahn, sondern als Trailrunnerin in den Bergen. «Mein grosses Ziel als Bergsteigerin war zunächst der Mont Blanc», sagt sie. Vogondy sagt, grosse körperliche Herausforderungen hätten sie schon immer gereizt. Auch deshalb werden nach dem Mont Blanc die Berge, an denen sie sich versucht, immer höher und höher.

Als erste Schweizerin auf dem «richtigen» Manaslu

Bald einmal steht Vogondy auf dem Kilimandscharo, dem höchsten Berg Afrikas, auf dem Elbrus, dem höchsten Berg Europas, auf dem Aconcagua, dem höchsten Berg Amerikas. Und weil dann nur noch die Achttausender übrig bleiben, reist Vogondy vor vier Jahren erstmals nach Nepal. Sie schafft den Everest zwar nicht auf Anhieb, aber sie findet Sponsoren für zukünftige Touren.

2022 besteigt sie mit den Manaslu, ihren ersten Achttausender. Der Berg ist berüchtigt dafür, dass viele Alpinistinnen und Alpinisten den Gipfel verpassen, zu früh umkehren. Vogondy gilt als erste Schweizerin auf dem «richtigen Manaslu»; ihre Landsfrau Lavaud musste 2023 an diesen Berg zurückkehren, weil sie im ersten Versuch den höchsten Punkt verpasst hatte. Für Vogondy ist der Manaslu hingegen ein weiterer Schritt in einem Plan, der sich erst nach und nach herauskristallisiert.

«Nach dem Manaslu wollte ich unbedingt auf den K 2», sagt Vogondy. Der K 2, mit 8611 Metern der zweithöchste Berg der Welt, liegt im Karakorum an der Grenze zwischen China und Pakistan. Er ist unter Bergsteigerinnen und Bergsteigern gefürchtet, gilt als einer der gefährlichsten Achttausender – wegen seiner steilen Flanken, grosser Lawinen- und Steinschlaggefahr, des ständig wechselnden Wetters. Schlägt das Wetter um, bleiben kaum Möglichkeiten zum Rückzug. Nelly Attar, eine libanesische Bergsteigerin und die erste Araberin auf dem K 2, sagte der NZZ einmal: «Dieser Berg will dich töten.»

Vogondy sagt, sie habe noch nie Angst verspürt in den Bergen. «Warum das so ist, kann ich mir nicht erklären. Ich bin mir der Risiken bewusst und wäge sie ab. Aber Angst habe ich keine.» Sie geht rational mit der Gefahr um, wirkt distanziert, wenn sie darüber spricht. Bevor sie zu einer Expedition aufbricht, spricht sie mit ihren Eltern, hat alles vorbereitet und geregelt für den Fall, dass sie nicht zurückkommen sollte. Vogondy sagt: «Meine Eltern und meine Freunde sollen es so einfach haben wie möglich haben, wenn mir etwas passiert.» Doch weshalb tut Vogondy sich das alles an?

Der umstrittene Nirmal Purja motiviert sie den Rekord zu versuchen

2021 lernt sie am Mount Everest Nirmal Purja kennen. Der nepalesische Bergsteiger ist mit dem «Project 14/7» berühmt geworden. Dabei bestieg er 2020 alle Achttausender innerhalb von sieben Monaten, ein Netflix-Film darüber wurde zum Quotenhit. Purja, ein ehemaliger Elitesoldat, markiert in der Dokumentation den harten Mann, inszeniert sich als Übermenschen. 2021 war er auch bei der ersten Winterbesteigung des K 2 dabei; mit seiner Agentur schafft Vogondy es 2023 auf den K 2. Danach überzeugt Purja sie davon, dass sie es auf alle Achttausender schaffen könne. Seitdem unternimmt Vogondy ihre Touren ausschliesslich mit Purjas Unternehmen. Er ist ein wichtiger Weggefährte geworden, sie bezeichnet ihn als «Freund».

Purja ist in der Szene allerdings auch berüchtigt, er soll reihenweise Frauen belästigt haben. Betroffene haben sich in verschiedenen Medien geäussert, zuletzt in der NZZ am Sonntag. Vogondy sind diese Vorwürfe bekannt. Sie sagt: «Purja ist im persönlichen Kontakt ganz anders als er auf Netflix und in den Medien dargestellt wird.» Ihr gegenüber habe er sich immer korrekt verhalten, habe sie immer unterstützt. «Hätte ich Belästigungen erlebt oder beobachtet, würde ich nicht mehr mit ihm in die Berge gehen», sagt sie.

Vogondy wird in diesem Frühjahr mit Purja zu den Achttausendern in Nepal und China reisen. Ursprünglich wollte sie in diesem Jahr die fehlenden vier Gipfel erklimmen: Cho Oyu, Shishapangma, Dhaulagiri und Kangchendzönga. Wahrscheinlich wird sie aber nur zwei davon versuchen, den Shishapangma und den Kangchendzönga. Das genaue Programm hängt davon ab, ob sie von den chinesischen Behörden ein Visum und eine Gipfel-Genehmigung für den Shishapangma bekommt.

Früh am Morgen rennt sie auf den Genfer Hausberg

Auf die Saison im Herbst wird sie dieses Jahr hingegen verzichten, Vogondy arbeitet nebst ihren Expeditionen Vollzeit in der Immobilienbranche. Ihren Job hat sie aber bereits gekündigt; im Sommer macht sie sich selbständig, eröffnet ein Zentrum für Hypoxie-Training, in dem sie mit einer Druckkammer Höhentrainings in tiefen Lagen anbieten wird.

Ihr persönliches Training integriert sie in den Arbeitsalltag. Vogondy steht vor 5 Uhr auf, rennt dann oft auf den Salève, Genfs steilen Hausberg, in der Mittagspause geht sie Schwimmen, am Abend gibt es noch einmal ein Training. Am Wochenende unternimmt sie Touren in den Alpen. «Ich will aber nicht Profi werden. Der Druck der Sponsoren, immer verrücktere Sachen zu machen, ist mir zu hoch», sagt Vogondy. Auf den sozialen Netzwerken ist sie zwar präsent, doch nur, weil es für die Geldgeber dazugehört. Vogondy sagt: «In den Bergen bin ich am liebsten allein. Und anders als vielen Profis geht es mir nicht um Rekorde oder verrückte Leistungen.»

Doch sie sei süchtig nach Bergen, nach den Strapazen, den Emotionen und dem Adrenalin, sagt Vogondy. Während der fünf Achttausender-Besteigungen innert vier Wochen 2023 in Pakistan verliert sie elf Kilogramm Körpergewicht, schläft während Wochen niemals mehr als vier Stunden am Stück.

«Wenn ich an meine Grenzen stosse und mich zwinge, trotzdem weiterzugehen, dann fühle ich mich grossartig, das macht für mich den Reiz aus, auf diese Berge zu steigen.» Auf dem Gipfel verspüre sie hingegen selten grosse Emotionen, überbordende Freude über einen Erfolg sei ihr fremd. «Das finde ich selbst seltsam», sagt Vogondy. Doch so sei sie eben schon immer gewesen: hart zu sich selbst, konzentriert auf ein Ziel, rational. «Ich versuche aber zu lernen, mehr Emotionen zuzulassen», sagt sie.

Vogondy träumt auch nicht vom Moment, in dem sie auf dem 14. Achttausender stehen wird und die Strapazen vorbei sein werden. 2026 soll es so weit sein. Danach wird es sie weiterhin an die hohen Berge ziehen. Vogondy will sich dann ohne Flaschensauerstoff an den Achttausendern versuchen. «Aber nur an jenen Bergen, auf die ich Lust habe», sagt sie. Oder bis sich ein neues Ziel in ihrem Leben herauskristallisiert?

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