Die Schweiz gönnt sich einen teuren Staat und muss wieder lernen zu sparen. Doch wie und wo? Der liberale Ökonom Christoph Schaltegger über Lobbys, die ihre Subventionen verteidigen, moralisierende Finanzpolitiker und wie man den Bundeshaushalt erfolgreich entlasten könnte.
Herr Schaltegger, oft ist zu hören, die Schweiz habe einen vergleichsweise schlanken, günstigen Staat. Stimmt das?
Nein, das stimmt nicht. Es ist eine Mär, dass wir ein günstiger Staat seien. Man mag einwenden, dass ein kleines Land per se teurer ist, weil sich gewisse Aufgaben wie die Landesverteidigung auf weniger Köpfe verteilen. Doch es zeigt sich, dass die starke Zuwanderung die Durchschnittskosten nicht gesenkt hat, im besten Fall sind sie stabil geblieben. Die Ansprüche steigen mit den finanziellen Möglichkeiten.
Wie viel zahlt jeder Einwohner der Schweiz für den Staat?
Es sind etwas über 30 000 Franken pro Kopf. Dabei handelt es sich um die Ausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden inklusive Sozialversicherungen.
Wie steht die Schweiz international da, etwa im Vergleich mit Österreich oder Schweden?
Österreich holt uns bald ein: Dort liegt der Betrag umgerechnet bei gut 25 000 Franken pro Kopf, Tendenz steigend. In Schweden sind es 26 000 Franken pro Kopf, wobei sich das Wachstum des skandinavischen Wohlfahrtsstaats zuletzt übrigens leicht verlangsamt hat. Die Pandemie wirkte in Schweden anders als in vielen westeuropäischen Ländern nicht als derartiger Katalysator beim Ausgabenwachstum.
Der Bund rechnet in den nächsten Jahren mit strukturellen Defiziten von 2 bis 3 Milliarden Franken. Schon früher hiess es, dass es zu Defiziten kommen werde, und dann gab es Überschüsse. Wird schwarzgemalt?
Nein, ich sehe keine Schwarzmalerei. In den Bereichen soziale Wohlfahrt, Verkehr oder Bildung verzeichnen wir hohe Wachstumsraten, hinzu kommt der Abbau der Corona-Schulden. Wir haben mehrere Jahre Hochkonjunktur erlebt, und wir konnten das Budget gerade so halten oder knapp Überschüsse erwirtschaften. Zudem haben wir mehrmals die Steuern und Sozialabgaben erhöht. Nun trübt sich die Lage ein. Dabei ist klar: Es geht nicht mehr so weiter wie bisher.
Finanzministerin Karin Keller-Sutter hat eine Ausgabenüberprüfung angekündigt. Was versprechen Sie sich davon?
Das ist ein sehr wichtiger Schritt. Die letzten zwanzig Jahre waren für das Parlament finanzpolitisch eine «Additionsübung»: Es gab immer mehr von allem. Wir müssen jetzt wieder lernen, politische Schwerpunkte und Prioritäten im Budget zu setzen. Und das heisst eben auch: zu sparen.
Gab es in den letzten Jahrzehnten beim Bund erfolgreiche Sparprogramme, die den Haushalt wirksam entlastet haben?
Die letzten Entlastungsprogramme beim Bund sind zwanzig Jahre her, die haben durchaus positiv gewirkt. Im internationalen Vergleich handelte es sich aber um kleine Programme, die sich in den Haushaltzahlen nur leicht niederschlugen.
Auf welchem Weg kann ein Staat seine Finanzen am effizientesten stabilisieren? Steuern erhöhen? Ausgaben senken?
Es scheint erfolgversprechender, bei den Ausgaben anzusetzen als bei den Einnahmen. Wenn der Staat über Steuererhöhungen zu mehr Geld kommt, dann entstehen sofort neue Ansprüche – und die Spirale dreht sich weiter. Die Interessengruppen jagen nach der zusätzlichen Beute, es beginnt ein Verteilkampf nach dem Motto: «Wenn ich das Geld nicht bekomme, dann bekommt es ein anderer.» Man landet dann schnell wieder bei einem strukturellen Defizit. Bei Ausgabenkürzungen hingegen signalisiert man: Jetzt ist die Party erst einmal vorbei. Eine Regierung, die so vorgeht, wird als ambitioniert wahrgenommen, das Vertrauen in sie steigt. Und wenn das Vertrauen vorhanden ist, dann nehmen Konsum und private Investitionen zu. Der jüngst verstorbene Ökonom Alberto Alesina hat hierzu interessante Forschungsergebnisse vorgelegt.
Wie viel Spielraum hat der Bund heute in der Finanzpolitik?
Zwei Drittel aller Ausgaben sind mittlerweile in irgendeiner Weise rechtlich gebunden, und dieser Anteil nimmt zu. Damit werden die Spielräume immer enger, bis zu dem Punkt, an dem die Finanzpolitik und die Budgethoheit des Parlaments ad absurdum geführt werden.
Kann man bei gebundenen Ausgaben nicht sparen?
Man kann schon, aber es ist schwieriger als bei den ungebundenen Ausgaben. Die Interessengruppen haben das natürlich erkannt und drängen darauf, dass ihr Anliegen als gebundene Ausgabe abgesichert wird; dann haben sie keine Sorgen mehr. Kommt hinzu, dass sich Finanzpolitik gerne auf Zuwachsraten konzentriert. Man sagt nicht: Wir wollen eine gute Bahninfrastruktur, sondern: Wir wollen weiterhin mindestens 3 Prozent Zuwachsraten für den öffentlichen Verkehr. Eigentlich sollte ein Finanzpolitiker doch sagen: Wenn ich mit weniger Zuwachs auch einen guten öffentlichen Verkehr bekomme, dann ist das noch besser. Der Fokus sollte auf der Effizienz des Mitteleinsatzes statt auf dessen reiner Höhe liegen.
Wurde die Finanzpolitik früher seriöser betrieben?
Ja, absolut. Das sieht man auch an den Finanzkommissionen: Sie galten als die Paradekommissionen, die Schwergewichte im Parlament wollten dort Einsitz nehmen. In den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren hat sich das stark geändert, heute wird häufig für die Galerie politisiert. Die Nüchternheit der Finanzpolitik ist verlorengegangen, man versucht, dem eigenen Anliegen einen moralischen Impetus zu verschaffen. Doch in der Finanzpolitik geht es nicht um Moral, sondern um den Steuerfranken und um die Frage, ob eine generelle Notwendigkeit für den Bürger besteht, dass der Staat eine Leistung finanziert.
Von linker Seite wird heftig Kritik an der Schuldenbremse geübt. Sie verhindere Investitionen und Fortschritt.
Die letzten Jahre haben gezeigt, dass die Schuldenbremse sehr vieles ermöglicht – auch Investitionen. Sie ist eher zu wenig streng, gerade bei den ausserordentlichen Ausgaben und bei jenen Bereichen, die von der Schuldenbremse nicht abgedeckt werden wie die Sozialversicherungen oder die Bundesbeteiligungen. Ohne Schuldenbremse hätten wir heute nicht 120, sondern 400 Milliarden Franken Schulden – und der Staat wäre in seiner Handlungsfähigkeit eingeschränkt.
Der Staat fördert alles Mögliche über Subventionen: Fachpresse, Bloderkäse, Skilager. Ist die Schweiz ein Klientelstaat?
Das ist sie, doch anderswo ist es dasselbe, vielleicht noch ausgeprägter. Das Problem bei sehr vielen Subventionen liegt darin, dass sie nicht dazu verwendet werden, allgemeine Interessen zu finanzieren, sondern ausgewählten Gruppen Sondervorteile zu verschaffen. Diese Tendenz hat jedes Land, weil die Politiker gerne ihren eigenen Wählerkreisen Zückerchen verteilen. Und so entstehen Kuriositäten wie die finanzielle Unterstützung von Bloderkäse.
Welches ist die sinnloseste Subvention, die Sie kennen?
Es gibt viele Subventionen, über die man nur den Kopf schütteln kann. Wir finanzieren als Steuerzahler beispielsweise mit etwa 37 Millionen Franken eine Immobilienstiftung in Genf, die Mieten für steuerbefreite internationale Organisationen bezuschusst – als ob diese nicht genug Geld hätten. Zudem wird durch diese Bundesgelder der bereits angespannte Genfer Immobilienmarkt weiter angeheizt. Das dünkt mich – mit Verlaub – von geradezu komischer Absurdität.
Warum ist es so schwer, solche Sonderprivilegien aufzuheben?
Hat eine Lobby erst einmal den Fuss in der Türe und bekommt Geld vom Staat, ist es eigentlich gelaufen. Dann finanziert sie ihre Geschäftsstelle, sie stellt Personal an, vorzugsweise Akademiker, die ihr Anliegen politisch veredeln, und so weiter. Die Widerstandskräfte gegen einen Abbau sind enorm, die Ausgaben kaum mehr rückgängig zu machen. Auch dann nicht, wenn das Anliegen selber keine Berechtigung mehr hat und die Klientel wegfällt: Die Funktionäre stehen weiterhin in Amt und Würden. Hinzu kommt noch der Kuhhandel unter den verschiedenen Interessengruppen: «Wenn du meine Landwirtschaftszulage unterstützt, dann unterstütze ich deine Kulturzulage.» Und so verfestigt sich das.
Wie haben sich die Ausgaben für Subventionen beim Bund in den vergangenen zwanzig Jahren entwickelt?
Heute umfassen die Subventionen im Bundeshaushalt 293 einzelne Positionen über fast 49 Milliarden Franken. 2008 beliefen sich die Subventionen noch auf etwa 31 Milliarden Franken. Der Subventionsberg wächst beständig, auch wenn man die Inflation herausrechnet. Und wir reden hier nur von den Ausgaben: Die Steuererleichterungen, wie der tiefere Mehrwertsteuersatz für bestimmte Tourismusgewerbe, sind dabei noch gar nicht erfasst.
Mehr Geld für Militär, für Krippen, für die AHV, für Prämienverbilligung: Die Wunschliste ist lang. Angenommen, Sie hätten den Auftrag, die Mehrausgaben woanders zu kompensieren, ohne die Steuern zu erhöhen: Wo würden Sie ansetzen?
Aus meiner Sicht ist ein breiter Ansatz wichtig – es geht um Opfersymmetrie. Das heisst, dass man auch die Bereiche mit dem besonders starken Wachstum einbeziehen muss. Soziale Wohlfahrt, Verkehr und Bildung sind überdurchschnittlich gewachsen, die Ausgaben für die soziale Wohlfahrt haben sich seit 1990 real verfünffacht. Man muss sich das mal vorstellen! Zudem sollte der Bund seine Ansprüche bei den Löhnen und dem Stellenplafond zurücknehmen und mit gutem Beispiel vorangehen. Auch bei den vielen skurrilen Subventionen liessen sich Hunderte Millionen Franken einsparen.
Geht ein Sparprogramm nicht automatisch auf Kosten der Schwächsten?
Nein, das kommt auf die Umsetzung an. Natürlich gab es in der Geschichte immer wieder Austeritätsperioden, die zu gesellschaftlichen Spannungen geführt haben. Prominent ist die Sparpolitik unter Reichskanzler Brüning, die der Weimarer Republik wohl den Todesstoss verpasste. Aber es gibt auch viele und gute Gegenbeispiele: Dänemark gelang es 1982, mit einer konsequenten Sparpolitik einen schnellen Wachstumsimpuls auszulösen. In Irland war es ähnlich, ebenso in Deutschland beim Regierungswechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl. Mit der Austerität kehrten Vertrauen und Investitionsfreude zurück, und dies entgegen der keynesianischen Standardmeinung. Beides kommt schnell auch einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen zugute.
Sie haben die Stellen beim Bund angesprochen. Die Bundesverwaltung wächst stetig, auch unter bürgerlichen Finanzministern. Woran liegt das?
Es scheint eine Art «parkinsonsches Gesetz» am Werk. Laut dem britischen Historiker Cyril Northcote Parkinson dehnt sich Arbeit genau in dem Mass aus, wie Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung steht. Es werden immer neue Aufgaben mit neuen Stellen besetzt, die dann noch weitere Bürokratie schaffen, um ihre Aufgabe zu rechtfertigen. Und das bei sehr hohen Löhnen: Die Personalkosten machen einen stattlichen Teil des Haushalts aus.
Was verdienen Bundesangestellte im Vergleich zur Privatwirtschaft?
Der Lohn für ein Vollzeitpensum liegt in der Bundesverwaltung bei rund 117 000 Franken, Fringe-Benefits nicht eingerechnet. Ein Arbeitnehmer, der punkto Ausbildung, Alter, Berufserfahrung und weiteren Merkmalen «identisch» ist, verdient beim Bund im Durchschnitt 12 Prozent mehr als in der Privatwirtschaft.
Für sehr viele Stellen verlangt der Bund heute ein Hochschulstudium, das treibt die Kosten nach oben.
Und genau das müsste man hinterfragen. Die Lohnpolitik hat Bedeutung weit über den Staatshaushalt hinaus. Die hohen Löhne wirken sich erstens negativ auf den Arbeitsmarkt aus. Die Privaten haben gegenüber dem Staat einen Nachteil und müssen reagieren – etwa, indem sie billigere Arbeitskräfte aus dem Ausland nachziehen. Die Zuwanderungsdebatte findet in der Privatwirtschaft denn auch viel virulenter statt als beim Staat. Der zweite Punkt ist der Bildungsmarkt: Der Staat setzt viel stärker auf Akademisierung, als dies anderswo der Fall ist. An den Hochschulen richtet man sich immer mehr auf Stellenprofile beim Staat aus. Es ist keine gute Entwicklung, wenn sich der Bildungs- und der Arbeitsmarkt auf etwas fokussieren, das nicht nach marktwirtschaftlichen Kriterien spielen muss. Das klingt jetzt womöglich etwas pessimistisch. In Wahrheit sind aber Aufgabenüberprüfungen eine grosse Chance für unsere Gesellschaft – wir machen unseren Staat, einen Erfolgsfaktor der Schweiz, fit für die Zukunft.
Liberaler ¨Ökonom
Christoph A. Schaltegger ist Professor für politische Ökonomie an der Universität Luzern und Direktor des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP). Der liberale Ökonom studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Basel, habilitierte in St. Gallen und war einst Berater von Bundesrat Hans-Rudolf Merz. Schaltegger forscht zu Fragen der öffentlichen Finanzen.