Donnerstag, September 19

Der 46-jährige Berner hat in der YB-Organisation schier grösstmögliche Machtfülle erlangt. Er legt vor dem Beginn der Champions League die Philosophie des Klubs dar, spricht über unschöne Trennungen und die Herausforderung einer Krise.

Christoph Spycher, haben Sie früher als Fussballer einen starken Leistungsabfall eines Teams von einer Saison auf die nächste erlebt?

Ja, mit GC nach dem Meistertitel 2003. Die folgende Saison war schlecht. In der Mannschaft gab’s zwei, drei Wechsel, aber das war nicht Erklärung genug.

Und von einem Spiel auf das nächste? YB zieht in Istanbul gegen Galatasaray in die Champions League ein und zeigt vier Tage danach beim 1:1 gegen Lausanne-Sport im eigenen Stadion einen miserablen Match.

Eine der schwierigsten Aufgaben für einen Profifussballer ist es, am Tag X bereit zu sein. Egal, was rundherum los ist. Zuerst das Cup-Spiel gegen Printse-Nendaz, dann Istanbul, danach das Heimspiel gegen Lausanne. In Istanbul musst du nicht viel für die Anspannung tun, da gibt’s so viele Einflüsse. Oder du musst höchstens schauen, nicht zu nervös zu werden. Wenn aber rundherum wenig passiert, hast du selbst Spannung aufzubauen. Damit umzugehen, gehört zum Erwachsenwerden des Fussballers, ist aber eine schwierige Herausforderung.

In der Halbzeitpause gegen Lausanne kritisierten Sie das Team im Fernsehen scharf. Sie nannten Namen: Filip Ugrinic, Sandro Lauper, Cheikh Niasse.

Es geht darum, dass die Führungsspieler vorangehen müssen. Loris Benito, Mohamed Ali Camara, Saidy Janko und Patric Pfeiffer fehlten, das sind Spieler mit Erfahrung. Der 21-jährige Tanguy Zoukrou, der Ligue 2 gespielt hat und erstmals europäisch spielt, muss hingegen zuerst Erfahrungen sammeln. Andere wissen, wie sie Schwierigkeiten erkennen und meistern können.

Einer der Vorwürfe lautet, YB fehlten Leaderfiguren.

Einer ist Leader, weil er mit seiner Spielweise der Mannschaft Energie gibt. Einer ist Leader, weil er für die Organisation wichtig ist. Ein anderer ist führend in der Garderobe. Ein Vierter mit seiner Genialität auf dem Platz. Miralem Sulejmani ist einer der liebsten und ruhigsten Menschen, war für uns aber während Jahren auf dem Rasen führend. Die Hierarchie in einem Team ist flacher geworden als noch vor zehn Jahren. Die Jungen wollen einbezogen werden, wollen mitreden.

Aber Leader braucht’s auch heute noch.

Als ich YB-Sportchef war, war die Hierarchie einfach: Steve von Bergen, Sékou Sanogo, Guillaume Hoarau. Da wusste man: Wenn du die drei überzeugt hast, hast du fast alle in der Garderobe. Von Bergen war klar, äusserte seine Meinung direkt. Das gibt’s heute weniger. Aber Leader sind immer noch da. David von Ballmoos, Benito, Camara, Cedric Itten, Ugrinic. Lauper ist fünffacher Meister, jetzt zum vierten Mal in der Champions League.

Gleichwohl hat YB etwas verloren. In welcher Ecke suchen Sie Antworten?

Die Gründe sind vielschichtig. Viele spielen nicht auf dem Niveau wie in den letzten Jahren. Wir hatten in sechs Meisterschaftsspielen drei Platzverweise. Das ist viel zu viel. Formtiefs haben Gründe. Bei einem Spieler hat das Transferfenster einen Einfluss, ein anderer hat vielleicht privat gerade eine schwierige Phase. Einige Spieler fielen aus. Wenn Camara, der bei erst einem Meisterschaftsspiel dabei war, so spielt wie in Istanbul, macht er alle um ihn herum besser.

Habt ihr die Lage nach dem Meistertitel unterschätzt?

Wir brauchen Spieler mit Erfahrung, aber auch Talente. Jetzt kann man fragen: Warum habt ihr in der zentralen Abwehr nicht vier 30-Jährige? Wir sind in einer Ausbildungsliga und wollen Platz schaffen für junge Spieler. Wenn wir für einen Spieler viel bezahlen, wollen wir nicht einen, der in der Schweiz noch etwas Ferien macht. Da muss Hunger sein, wie in den letzten Jahren in den Fällen Sulejmani, Hoarau, von Bergen oder Fabian Lustenberger. Als Kim Källström seinerzeit zu GC kam, war das sehr gut. Aber Källströms oder Hoaraus gibt’s nicht wie Sand am Meer.

Wie nahe ist die Unvernunft vor dem Hintergrund, wie viel Geld in der Champions League verdient wird?

Wir wollen mutig, aber auch vernünftig sein. Eine europäische Gruppenphase wird für uns nie der Treiber sein, zusätzlich sieben Spieler zu kaufen. Nehmen wir das Beispiel Zoukrou: Wir haben ein Projekt mit ihm. Er hat Konkurrenz. Wenn wir an ihn glauben, stellen wir ihm nicht noch zusätzlich einen 30-Jährigen vor die Nase, der schon 350 Spiele gemacht hat.

Teilen Sie den Eindruck, dass die letzten YB-Transfers nicht mehr so gut waren wie in den letzten Jahren?

Im Transfergeschäft geht nie alles auf, und eine Mannschaft in der heutigen Zeit ist praktisch immer im Umbruch, weil so vieles passiert. Es braucht Beobachtung, Verhandlung, Begleitung vom Trainer, vom Sportchef. Es braucht Führungsspieler an der Seite. Vor ein paar Wochen sagten viele: Warum kaufen die Ebrima Colley? Nach den Galatasaray-Spielen sagen die gleichen Leute: Wow, Colley, was für ein Spieler, der wird sicher noch verkauft. Spielerentwicklungen werden oft betrachtet wie Börsenkurse. Wir wollen es differenzierter angehen.

Die YB-Lupe ist grösser geworden, da kommen 30 000 Zuschauer, da geben mehr ihren Senf dazu. Fühlten Sie sich in den letzten Wochen unverstanden?

Eine Zeit wie jetzt, in der man so viele Herausforderungen zu meistern hat, ist lehrreich und aufschlussreich für die Zukunft. Da kommt mehr an die Oberfläche, als wenn alles nach Plan läuft. Man kann sehen, wer sich mit welcher Vehemenz den Schwierigkeiten entgegenstellt. Wir haben Spieler, die serienweise Titel geholt haben. Sie haben zuvor eine solche Situation noch nie erlebt.

Das trifft auf den Klub generell zu. Stichworte: Genügsamkeit, Gewöhnung.

Wir sind mit uns kritisch unterwegs. Wir hatten nicht ein Jahr, in dem das Gefühl aufkam, als würden wir schweben. Sowohl im Erfolg als auch in weniger guten Zeiten.

Seid ihr oft unterschiedlicher Meinung in der sportlichen Führung?

Ja, unsere Diskussionskultur ist offen. Alle sagen ihre Meinung. Was es aber nicht gibt: dass wir einen Entscheid treffen und jemand danach den Raum verlässt und sagt: Das ist nicht mein Entscheid. Wir tragen ihn als Gremium gemeinsam.

Im ersten Halbjahr 2024 trennte sich YB vom Stürmer Jean-Pierre Nsame, vom Trainer Raphael Wicky und vom CEO Wanja Greuel. Nicht ohne starke Nebengeräusche. Das ist zu viel in einem Halbjahr, oder?

YB wurde über Jahre als relativ langweiliger Klub dargestellt. Keine Schlagzeilen, zu geschliffen, zu weiss-nicht-was.

Zu viel Spycher.

Solche Trennungen sind nicht nach unserem Gusto. Aber für jede Trennung im guten Einvernehmen braucht es beide Parteien. Wir hatten geglückte Rücktritte wie denjenigen von Bergens. Bei Hoarau gab’s eine kleine Eruption. Das schwierigste Gespräch hatte ich mit Sulejmani. Er war unglaublich enttäuscht. Er wollte noch ein Jahr anhängen, aber wir sahen das nicht. Es gelang dennoch, gut auseinanderzugehen. Manchmal kommen die Emotionen zu sehr hoch. Das ist jetzt keine Wertung. Das gute Ende gelingt nicht immer. Das ist im ganzen Leben so.

Wie mühsam sind Gespräche mit einem Spieler, der unbedingt wegwill?

Nicht alle Gespräche sind angenehm. Aber das kennt jede Führungsperson. Unter dem Strich musst du in diesem Geschäft Lust haben, mit Menschen zusammenzuarbeiten. Da gibt’s immer wieder wunderbare Momente, aber es kann auch unschön und unangenehm werden. Wenn du das nicht in Kauf nehmen willst, musst du dafür schauen, nur mit Maschinen in einem Raum oder allein in einem Büro zu sein.

YB hat manchmal Unruhe, wenn Spieler nicht weggehen durften. Nsame, jetzt Meschack Elia, das war auch bei Christian Fassnacht so. YB pocht auf gewisse Summen. Wie schwierig ist es für Sie, wenn Spieler unglücklich werden?

In diesem Sommer stimmten wir einem Angebot zu, und der Spieler sagte auf einmal Nein. Auch das ist eine Realität. Ein Spieler kann von uns nicht verlangen, dass er zum Zeitpunkt X einfach so gehen kann. Vor einem wichtigen Spiel lassen wir wichtige Spieler nicht ziehen. Wir haben eine Verantwortung gegenüber den Fans, den Mitarbeitenden und der Mannschaft. Es geht immer darum, den besten Entscheid für YB zu fällen. Das ist unsere Philosophie, und das müssen alle Beteiligten wissen. Wir haben zwei Parameter: Das Timing muss stimmen. Und der Preis. Wenn ein Spieler meint, er könne zu YB und später für eine Million in eine Topliga, wird’s schwierig.

Die YB-Erfolge werden stark mit Ihrer Person verknüpft. Ist das zum Problem geworden?

Das ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. Alles muss personalisiert sein, jeder Erfolg, jeder Misserfolg braucht ein Gesicht. Das ist der Zeitgeist. Gleichwohl wissen alle: Es braucht ein Team. Einer allein kann wenig bewirken.

YB und Sie müssen mit einem Personenkult umgehen.

Das stimmt. Jeder Mensch hat Wertschätzung gern. Lob freut alle. Aber es ist wichtig, dass in einer Organisation wie YB das Lob alle erreicht.

Sie stiegen die YB-Treppe hoch: Spieler, Talentmanager, Sportchef, Verwaltungsrat, Mitbesitzer. Sie vereinen viel Macht auf sich. Was würden Sie als Aussenstehender darüber denken?

Die Minderheitsbeteiligung habe ich mir lange überlegt. Das war ein Wunsch des Klubbesitzers Hans-Ueli Rihs. Ihm gegenüber empfinde ich grosse Dankbarkeit für das, was er für YB getan hat. Es trifft zu, dass ich bei YB an verschiedenen Fronten tätig bin. Für mich entscheidend ist, wie es intern gelebt wird. Ich verhalte mich nicht anders als früher.

Ein Spielerberater sagt, dass immer noch alles über den Tisch von Spycher laufe.

Nein. Ich teile mit dem Sportchef Steve von Bergen das Büro, wir sind nahe. Er war als Captain mein wichtigster Spieler in der Garderobe. Vor der Vertragsverlängerung mit Loris Benito haben wir in der sportlichen Führung darüber diskutiert, ob wir ihn auch künftig bei uns sehen. Wir waren alle der Meinung: Ja. Aber ich war danach erst am Ende beim Unterschreiben des Vertrags involviert. In den letzten zwei Jahren war ich nur vereinzelt in der Garderobe. Dort ist von Bergen, wenn jemand von der Führung gefragt ist.

Wenn Sie an eine Fehleinschätzung der letzten Wochen denken – welche ist das?

Mit dem Wissen der Verletzung von Camara hätten wir wohl den Transfer des Innenverteidigers Patric Pfeiffer ein paar Wochen früher abgewickelt.

Bei YB haben Sie alles erreicht. Was kommt noch?

Erste Priorität hat das Bestreben, vom letzten Tabellenplatz wegzukommen. YB liegt mir am Herzen. Was kann ich noch gewinnen? Was verlieren? Wer so denkt, muss an meiner Stelle irgendwann gehen, weil er mehr verlieren als gewinnen kann. Doch das ist nicht mein Antrieb. Ich schätze es ungemein, mit den Leuten bei YB zu arbeiten. In einem solchen Betrieb verändert sich viel. Wir haben ein Campus-Projekt. Das ist neben den kurzfristigen Herausforderungen zu meistern. Es gibt viele Rädchen, an denen man drehen muss. Der Staff von heute ist nicht mehr derjenige von 2016. Das ist nie abgeschlossen. Man muss immer wieder Kompetenzen vereinen.

Mit Christoph Spycher hat YB die Düsternis verlassen

Zum vierten Mal Königsklasse

bir. · Als der frühere Fussballer Christoph Spycher 2016 zum YB-Sportchef befördert wurde, war die Lage instabil. Die Familie Rihs hatte zuvor über Jahre Dutzende Millionen Schweizerfranken eingeschossen und war von allen Seiten beeinflusst worden, bisweilen war’s in der Chefetage drunter und drüber gegangen. Doch mit Spycher kam die Erweckung: sechs Meistertitel seit 2018, vier Teilnahmen an der Champions League und ein Transfer-Nettoerlös im hohen zweistelligen Millionenbereich. Spycher hat sich zu Beginn ausbedungen, nicht dem CEO unterstellt zu sein. 2024 ist er mit einer Minderheitsbeteiligung neben der Familie Rihs zum Mitbesitzer aufgestiegen. In Bern hat er schier einen Status der Unantastbarkeit erlangt. Das ist nicht ungefährlich. Doch die Resultate geben Spycher recht. Am Dienstag starten die Berner im Wankdorf gegen Aston Villa in die Champions League. Die neuerliche Qualifikation ist einer der grössten Kluberfolge – mitten in einem national denkbar schlechten Saisonstart.

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