Donnerstag, September 11

Die italienische Enklave am Luganersee kämpft mit ihrem grössenwahnsinnigen Kasinobau. Nun ist sie Schauplatz eines Kinofilms.

Ein ehemaliges Fischerdorf am Luganersee verkauft seine Seele ans Glücksspiel – und wird selbst vom Glück verlassen. Es klingt wie der Stoff eines antiken Dramas. Aber das Dorf ist real, es trägt den Namen Campione d’Italia – ausgerechnet – und ist zu einem Symbol des Scheiterns geworden. Nun proben die Champions die Auferstehung.

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Das weitherum sichtbare Mahnmal ihres Scheiterns ist gleichzeitig sein Ursprung: ein Monstrum, auf dem in grossen Lettern «Casino Municipale» steht. Nach Plänen des Tessiner Stararchitekten Mario Botta ist für 150 Millionen Franken eine Mischung aus Gefängnis, Kraftwerk und brutalistischer Kathedrale hingepflanzt worden, mit winzigen Fenstern wie Schiessscharten. Als sie im Jahr 2006 das baufällige Kasino im Belle-Epoque-Stil ablöste, sollte sie eine glorreiche Vergangenheit in eine noch viel glorreichere Zukunft überführen.

Der Tiefpunkt

Zwölf Jahre später, im Hochsommer 2018, war man am Tiefpunkt: Die Polizei räumte die marode gewordene Spielbank wegen Missmanagements, Bilanzfälschung, Amtsmissbrauchs. Die Gemeinde, als alleinige Besitzerin auf Gedeih und Verderb mit dem Betrieb verbunden, stand mit 130 Millionen Euro in der Kreide. Die meisten der 2000 Einwohner verloren ihre Arbeit. So wurde eine der reichsten Gemeinden Italiens schlagartig zu einer der ärmsten, mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von rund 10 000 Euro – drei Jahre zuvor war es sechsmal so hoch. Die italienische Enklave, in der in Franken bezahlt wurde, die Schweizerische Post Dienstleistungen anbot und die Swisscom die Festnetztelefone betrieb, schien am Ende. Man nennt Kasinos auch Spielhöllen; hier ergriff das Fegefeuer nicht nur ein paar Individuen, sondern ein ganzes Kollektiv.

Am Fuss des Bauwerks treffen wir uns an einem verregneten Morgen im August mit Michele Cirigliano, hauptberuflich Sekundarlehrer in Zürich, daneben Filmer mit abgeschlossenem Regiestudium. Von ihm und Anton von Bredow stammt die Dokumentation «Architektur des Glücks» über Campione und sein Kasino, die nun ins Kino kommt. Die Seepromenade ist bei unserem Besuch fast verwaist, nicht nur wegen des tristen Wetters. Der Regen frisst sich in Flecken in die Fassade aus edlem Stein, die direkt über dem See thront.

In einer modernen Metropole könnte dieser Koloss vielleicht einen Reiz entwickeln, in diese Umgebung passt er wie die Faust aufs Auge – Ausfluss eines Wahns, für den ein eigenes Wortungetüm geschaffen worden ist: Megalomanie. Geplant wurde noch in der letzten Hochblüte klassischer Kasinos vor dem Internetzeitalter , gebaut mit dem Anspruch, die grösste Spielbank Europas zu schaffen. Campione in der Champions League: Die Geschichte erinnert an Fussballklubs, die bankrottgehen, weil sie Weltklasse werden wollten.

«Das Kasino wirft ständig seine Schatten», sagt Cirigliano in einer Mischung aus Abscheu und Respekt: «Es ist überall präsent im Dorf, man spürt es selbst an Orten, von denen aus man es nicht sieht.» In seinem bildstarken Film weidet sich die Kamera an der Hässlichkeit, wechselt zwischen Totalen und Details, und die Tonspur liefert die Urteile dazu: Einer nennt es «eine einzigartige Scheusslichkeit», ein anderer «den schlimmsten Verschandelungsbau», dem Pfarrer kommt der Turmbau zu Babel in den Sinn. Es heisst, Botta sei Schritt für Schritt genötigt worden, das Projekt auf eine Gesamtfläche von 55 000 Quadratmetern auf neun Etagen auszuweiten. Er selbst äusserte sich früher kritisch zum Ergebnis, zieht es aber inzwischen vor, zu schweigen.

Die Hoffnungen

Der unaufgeregte Film sucht nicht nach Schuldigen des Desasters, er setzt aus den Trümmern eines Traums ein Mosaik zusammen – und aus den Stimmen der kleinen Leute. Sie werden zu einem Chor der Perspektiven, die sich zur Geschichte dieses Dorfs und seines Kasinos fügen und etwas Dynamik in ein erstarrt wirkendes Umfeld bringen. «Als wir das erste Mal filmten, war das Kasino gerade geschlossen worden. Es herrschte totale Tristesse», erinnert sich Cirigliano.

Da ist etwa der verschrobene junge Arbeitslose, der ständig sein Geisslein Lisa bei sich hat und die Blumentröge an der Seepromenade pflegt, weil es sonst niemand tut. Oder einer, der auf Druck des Vaters zurückgekehrt war, um den Beruf des Croupiers zu erlernen im Kasino, dem Stolz des Dorfs. Oder der französische Koch, der sein Sternerestaurant «Da Candida» vor zwei Jahren schloss. Da war der Kindergarten längst eingegangen. Die Abwanderung prägte den Ort.

Der Hauptteil des Films wurde jedoch im Frühling 2023 gedreht. Im Jahr zuvor war der Spielbetrieb wiederaufgenommen worden, allerdings nur auf drei von neun Stockwerken. Einen Plan B, wie sie ihre fabelhafte Lage am See ohne Kasino touristisch vermarkten könnte, hatte die Gemeinde nicht. Die einzige Idee war die Wiedereröffnung. Die einst über 500 Arbeitsplätze des Kasinos wurden auf einen Drittel reduziert (heute sind es immerhin wieder 200). Die Traumlöhne sind passé, die ungenutzten Stockwerke liegen bis heute brach, kaum geeignet für andere Zwecke. Doch die Hoffnung auf bessere Zeiten lebt.

Den stillen kleinen Film überzieht ein Schleier der Nostalgie und Melancholie. Zwischen Bilder, die in verlassenen Schauplätzen den Zerfall einfangen, schieben sich Schwarz-Weiss-Fotos aus Zeiten, als dieses als Steuerparadies geltende Mini-Monte-Carlo florierte. Tausende strömten an Wochenenden herbei auf der Suche nach Zerstreuung und Glück: Amanda Lear trat auf, man fuhr Wasserski, in Nachtklubs wurde die Nacht zum Tag gemacht, in Restaurants bis vier, fünf Uhr in der Früh gespeist. Bis in die neunziger Jahre brummten der Laden und das Dorf.

Die dunkle Seite

Wird von den alten Zeiten geschwärmt, spielt allerdings auch eine dunkle Seite hinein: In Kasinos schwinge stets auch die Unterwelt mit, sagt ein Experte im Film sinngemäss. Draussen warteten in der Hochblüte die Geldverleiher in Autos, und es wird gemunkelt, so mancher, der nicht habe zurückzahlen können, habe mit dem Leben dafür bezahlt. Hinter vorgehaltener Hand wird auch geraunt, Mafia und Geldwäscherei seien noch heute im Spiel.

Man fühlt sich fern an Dürrenmatts «Besuch der alten Dame» erinnert. Die betagte Signora hiesse dann Fortuna, sie spülte fast hundert Jahre lang Reichtum ins Dorf, die ganze Kommune verdiente mit – und stürzte gemeinsam ab. Zwar gibt es eine weitere Wendung: Die reanimierte Spielbank wirft Jahresgewinne von über 30 Millionen Euro ab, so dass die Gemeinde ihre Schulden fast abbezahlt hat, auch dank Finanzspritzen aus Rom und dem Verscherbeln von Tafelsilber in Form von Immobilien.

Von der einstigen Blüte ist man allerdings weit entfernt. Die Gemeindeverwaltung ist von über hundert Angestellten auf etwa ein Dutzend geschrumpft, der lange genossene Zugang zum Schweizer Gesundheitswesen wurde stark eingeschränkt, viele Strassen wirken oft ausgestorben. «Es gibt keine Metzgerei mehr, keine Bäckerei, keinen Coiffeur, inzwischen wenigstens wieder einen Zahnarzt», sagt Cirigliano.

Wir setzen uns mit ihm vor die Bar «Campione Taverne» direkt bei der modernen Schiffstation, die mehrmals täglich Verbindungen nach Lugano bietet. An einem Wochenende gibt es vor allem Tagesausflügler, sie flanieren der Strandpromenade entlang und durch den kleinen historischen Dorfkern, die einzigen Sehenswürdigkeiten hier. Die Taverne vis-à-vis ist verwaist, die Dorfschule hat Mühe, noch eine Oberstufenklasse zu füllen. In der Bar trinken ältere Herren ihren Kaffee. Der Regisseur, als italienischer Secondo im Zürcher Kreis 4 aufgewachsen und immer noch dort lebend, begrüsst einige von ihnen mit Namen.

Die Visionen

Dann gesellt sich Annalisa Mena zu uns, eine geheimnisumwitterte ältere Dame von Welt, hier geboren und aufgewachsen. Ihre Aura prägt den Film mit, sie hat die goldenen Zeiten erlebt und verströmt selbst noch einen Hauch von ihnen. Sie erzählt vom magischen Ambiente des alten Kasinos, vom ägyptischen König Faruk, der stets Gnocchi al pomodoro bestellt habe, von all den Grossindustriellen der Lombardei, die grosse Spieler gewesen seien. Morgens war alles ruhig, um 13 Uhr begann der Spielbetrieb, erst um 7 Uhr morgens kehrte wieder Ruhe ein.

Das ursprüngliche Kasino war 1917 eröffnet, vorübergehend geschlossen und dann von Mussolini 1933 wiedererweckt worden, der Campione mit der neuen Ergänzung «d’Italia» zu einem wirtschaftlichen Vorzeigedorf machen wollte. Und heute? Das Kasino laufe wieder gut, aber natürlich nie mehr so gut wie vor zwanzig Jahren, sagt Mena: «Die Welt ist an einem anderen Punkt.» Sie erklärt uns diese Welt, zitiert die Kabbala, Herodot, Carl Gustav Jung und kommt zu den Visionen für das Dorf.

Erstens brauche es Tourismus, unabhängig vom Kasinobetrieb (von dem sie dann gleich wieder spricht, als sie vom Pokerturnier mit 1500 Spielern aus der ganzen Welt schwärmt). Zweitens sei in Kunst zu investieren, um die brachliegenden Etagen zu bespielen. Drittens brauche es eine erstklassige Altersresidenz, aber nicht im Kasino, das sei ungeeignet dafür. Zurzeit, so sagt sie, würden viele Russen und Ukrainer Wohnungen kaufen. Und die Chinesen, von denen sie im Film erwartungsvoll spricht? Sie verzieht das Gesicht: «Die wollen nur profitieren.»

Am Ende von «Architektur des Glücks» skizzieren einige Dorfbewohner ihre Träume für die Zukunft des Dorfs. Der ehemalige Croupier hat den Glauben verloren, dass es dieses in fünfzig Jahren noch gibt: «Wir reden ja heute schon nur noch in Erinnerungen.»

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