Seine Passion verbarg Claude Hersaint ein Leben lang unter dem Mantel der Diskretion. Dabei war er einer der Ersten, die surrealistische Kunst sammelten. Dank seiner Tochter lüftet sich der Schleier jetzt.
Das aufstampfende Monster ist ein Bild, das man nicht so leicht vergisst. Es ist dazu geschaffen, einen bis in die dunkelsten Träume zu verfolgen. Und spätestens seit der grossen Pariser Retrospektive zu hundert Jahren Surrealismus hat es sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt: Im vergangenen Jahr zierte es die Plakate der Ausstellung im Centre Pompidou und war in vielen Zeitungen abgebildet.
Jetzt begegnet man dem «Hausengel (Der Triumph des Surrealismus)» in der Fondation Beyeler. Sonst aber schlummert dieses ikonische Gemälde von Max Ernst in einer der diskretesten Privatsammlungen. Dabei handelt es sich um eine der grössten Kollektionen von Gemälden des Surrealismus und insbesondere von Werken Max Ernsts.
Freundschaft mit dem Einzelgänger
Der Sammler hiess Claude Hersaint. Dass nun der Schleier über diesem gut gehüteten Geheimnis etwas gelüftet wird, verdankt sich allerdings seiner Tochter Evangéline Hersaint. Sie bewahrt den Kunstschatz ihres Vaters zusammen mit ihrer Frau Laetitia Hersaint-Lair. Nun tritt die Sammlung Hersaint mit rund fünfzig ausgewählten Meisterwerken erstmals seit ihrer Gründung vor über hundert Jahren ans Licht der Öffentlichkeit: und zwar in der Fondation Beyeler.
Claude Hersaint war mit Ernst Beyeler gut befreundet. Um ein Haar hätte seine Kollektion in Riehen permanentes Gastrecht erhalten. Evangéline Hersaint erinnert sich in einem Interview mit der Fondation Beyeler, wie Ernst Beyeler eines Tages von der Skipiste in St. Moritz aus ihren Vater anrief und ihm von seiner Idee vorschwärmte, eine Stiftung zu gründen. Einen Flügel des Museums wollte Beyeler für Hersaints Surrealisten reservieren, da ihm diese Kunstgattung in seiner eigenen Sammlung fehlte.
Claude Hersaint aber winkte ab. Er war ein Mann, der stets auf äusserste Diskretion bedacht war. Diese Haltung wird offenbar in einem nun in Riehen ausgestellten Porträt des Sammlers, das Balthus gemalt hat. Es zeigt den Kunstsammler von der Seite, mit verschattetem Gesicht. Der Blick geht in die Weite ausserhalb des rechten Bildrands, wo vielleicht ein anderes Gemälde von Balthus an der Zimmerwand hängt.
Dass sich Hersaint überhaupt porträtieren und in einem Bild verewigen liess, ist schon allein besonders genug. Die feinfühlige Art und Weise aber, wie dies Balthus, der grosse Einzelgänger der Moderne, ins Werk gesetzt hat, ist ebenso bemerkenswert. Dass das Bild zustande kam, hat einerseits gewiss mit der engen Freundschaft zu tun, die Claude Hersaint mit Balthus pflegte. Anderseits weiss dieses Porträt die Privatsphäre des Sammlers bestens zu wahren und diesen gleichsam mit einer Aura des Geheimnisvollen zu umgeben.
Nun ist das Porträt im selben Raum ausgestellt, in dem auch jene Dauerleihgabe aus der Sammlung Hersaint zu sehen ist, die sich in der Fondation Beyeler schon seit vielen Jahren befindet: Balthus’ monumentales Hauptwerk «Passage du Commerce-Saint-André», das eine rätselhafte Pariser Strassenszene zeigt.
Das Unheimliche und Abgründige
Das Geheimnis, und vielleicht auch das Unheimliche, war, was den belesenen und an Psychoanalyse interessierten Schöngeist Hersaint zeitlebens faszinierte. Dem entsprach auch die Welt der Surrealisten mit ihren Bezügen zum Traum, zum Unbewussten und zu den Abgründen der menschlichen Seele. «Der Schlüssel der Träume» heisst denn auch ein Schlüsselwerk von René Magritte in der Sammlung Hersaint, das nun in Riehen ebenfalls gezeigt werden kann und der Ausstellung auch den Titel leiht.
Die Quintessenz von Claude Hersaints Kunstgeschmack mit seiner Vorliebe für erotische und psychologische Tabus allerdings gipfelt in Salvador Dalís abgründigem Gemälde «Das finstere Spiel» von 1929 – auch es ist präsent in Riehen.
Zu den Surrealisten unterhielt Claude Hersaint rege Kontakte. Auch wenn er kein Künstler, sondern Bankier war. Er lehnte die Vorstellung ab, zu einer Gruppe zu gehören. Er pflegte einen raffinierten, eleganten und diskreten Dandyismus. Und war ein Spieler, der seine Aktien an der Börse liebte. Und natürlich seine Bilder. Wiederholt sagte er: «Wenn sich Maler treffen, dann reden sie über Geld. Wenn sich Bankiers treffen, dann reden sie über Malerei.»
Hersaint war ein Freigeist, seine Schriftsteller- und Philosophenfreunde hiessen Jacques Lacan, Georges Bataille und Jean Paulhan, seine Weggefährten in den Gefilden der Kunst waren Max Ernst, Victor Brauner und später auch Jean Dubuffet.
In Paris studierte Hersaint Rechtswissenschaft. Die Sammelleidenschaft aber packte ihn schon als jungen Mann. Obwohl er nicht in einem ausgesprochen kunstsinnigen familiären Umfeld aufgewachsen war – er entstammte dem intellektuellen Grossbürgertum –, erwarb er schon mit 17 Jahren sein erstes Werk: eine kleine Collage mit einem grünen Vogel in einem Käfig von Max Ernst. Das war im Jahr 1921. Damals begann, was seine Tochter als eine Art Liebe für diesen Künstler bezeichnet: eine Verliebtheit «in Max, sein Werk, seine Intelligenz, seinen Scharfsinn und seine extreme Kultiviertheit».
Den berühmten «Hausengel» soll Hersaint direkt bei Max Ernst gekauft haben. Das tobende Ungetüm war für seine Tochter, als sie ein Kind war, ein Freund, ein Vertrauter und Beschützer. Erst später, als es als Leihgabe in Ausstellungen zu sehen war, kamen Interpretationen auf, die in dem 1937 entstandenen Bild ein antifaschistisches Menetekel, einen Vorboten des Zweiten Weltkriegs sahen.
In den Umrissen der Figur kann man tatsächlich eine Swastika erkennen. Die Gestalt selber, aus lauter Lumpen zusammengesetzt, wirkt wie ein Hirngespinst, das in den Köpfen spukt und sich jederzeit auch wieder in Luft aufzulösen scheint. Max Ernst selber gab nie eine Erklärung dazu ab. Er war wie auch Hersaint der Meinung, jeder sollte das sehen, was er in dem Werk sehen wollte.
Flucht, Exil und Rückkehr
Spätestens Anfang 1941 allerdings war das Schreckgespenst Wirklichkeit geworden. Claude Hersaint musste Hals über Kopf Paris verlassen. Er stammte aus einer jüdischen Familie aus Elsass-Lothringen, die im 19. Jahrhundert nach Brasilien ausgewandert war, wo Hersaint 1904 unter dem Namen Claude Hertz geboren wurde. Auf einem Dampfer floh er mit seiner ersten Frau nach Rio de Janeiro, später reisten sie weiter nach New York. Max Ernsts «Hausengel» überdauerte den Krieg in Frankreich in einem Versteck.
In New York verkehrte Hersaint mit den dort gestrandeten Exilkünstlern und lernte Man Ray und Dorothea Tanning kennen, von welchen sich ebenfalls Werke in der Ausstellung befinden. Hersaint machte auch die Bekanntschaft mit Angelo Giuseppe Roncalli, dem späteren Papst Johannes XXIII. Durch dessen Vermittlung konvertierte er zum Katholizismus. Als er nach dem Krieg nach Europa zurückkehrte, änderte er seinen ursprünglichen Familiennamen zu Hersaint.
Zurück in Frankreich, lernte Claude Hersaint seine zweite Frau kennen, mit der er seine einzige Tochter bekommen sollte. Es war «Liebe auf den ersten Blick», erzählt Evangéline Hersaint. Nach der Zufallsbegegnung 1948 mit der dreissig Jahre jüngeren, aus dem Arbeitermilieu kommenden Françoise Moutier «sollten sich die beiden nicht mehr trennen». Die neue Verbindung führte zur Scheidung und zur Aufteilung der Kunstsammlung, wobei die seiner ersten Frau zugesprochenen Werke im Lauf ihres Lebens veräussert wurden.
Die andere Hälfte wurde von Françoise und Claude Hersaint laufend ausgebaut. Das Sammeln von Kunst war ein Teil des Lebens des Ehepaars, das durch Galerien streifte und zu Hause Künstler und Schriftsteller empfing. Als roter Faden der Sammlertätigkeit galt die Kunstrichtung des Surrealismus rund um Max Ernst. Heute umfasst die Sammlung rund 150 Werke.
Ein Gemälde malte Max Ernst auch eigens für Claude Hersaints Tochter. Bei «Evangeline», einem roten Kind in einem roten Ei, handelt es sich um eine Art Porträt, das Evangéline Hersaint sozusagen vor ihrer Geburt zeigt. «Max hat es 1957 gemalt; ich denke, um meinen Eltern eine Freude zu machen.»
«Der Schlüssel der Träume – surrealistische Meisterwerke der Collection Hersaint». Fondation Beyeler, Riehen, bis 4. Mai. Katalog: Fr. 58.–.