Der weltweit einzige im Süsswasser lebende Schweinswal ist seltener als der Grosse Panda. Forscher haben nun Gedichte aus der chinesischen Kaiserzeit ausgewertet, um seinen Niedergang zu rekonstruieren. Er steht stellvertretend für ein ganzes Ökosystem.

Wir schreiben den 17. Oktober 1810. Während in München das allererste Oktoberfest stattfindet, steht Tao Zhu, ein hoher Staatsdiener der Qing-Dynastie, im zentralchinesischen Yichang am Ufer des Jangtsekiang und blickt in die Wellen.

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Darin erblickt er plötzlich eine dunkle Gestalt, die ihn zu grüssen scheint. Der auch als Gelehrter und Dichter angesehene Tao erkennt darin ein «Flussschwein» – so nennen Anwohner des Flusses seit Jahrhunderten den Jangtse-Glattschweinswal, den einzigen Schweinswal der Welt, der ausschliesslich im Süsswasser anzutreffen ist. Die Begegnung inspiriert Tao Zhu zu einem Gedicht, das bis heute mit genauen Angaben zu Datum und Ort der Entstehung erhalten ist.

Für eine Studie im Fachblatt «Current Biology» haben chinesische Forscher nun solche Erwähnungen des Wals in alten Gedichten der chinesischen Kaiserzeit systematisch ausgewertet. Ihr Ziel: Karten der historischen Verbreitungsgebiete des Flussschweins, die Referenzwerte für den im 20. Jahrhundert stark geschrumpften Lebensraum der Tiere liefern.

Zu Zeiten von Tao Zhu war für die bis zu zwei Meter langen Säuger aus der Verwandtschaft der Delfine die Welt noch weitgehend in Ordnung: Noch war ihre Wal-Heimat, der Jangtse, nicht durch Industrieabwässer belastet, noch schränkten Staudämme nicht ihre Bewegungsfreiheit ein, noch gab es keine tödlichen Kollisionen mit Schiffsschrauben.

All das hielt Einzug mit der Industrialisierung Chinas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Bestände des Jangtse-Glattschweinswals gingen auf heute wenig mehr als tausend Tiere zurück. Damit sind die Flusssäuger in freier Wildbahn seltener als der Grosse Pandabär. Von dem ebenfalls aus China stammenden Symboltier aller bedrohten Arten leben laut Schätzungen noch rund 2000 Exemplare in freier Wildbahn in einigen wenigen Bergwäldern Südchinas.

Auch das Verbreitungsgebiet der Schweinswale beschränkt sich heute auf einen 1700 Kilometer langen Abschnitt im Unterlauf des Jangtse und zwei mit dem Fluss verbundene Seen. Aber wie gross war es vor Maos «Grossem Sprung nach vorn», mit dem die Industrialisierung Ende der 1950er Jahre Fahrt aufnahm? Eben dies wollten die Studienautoren mithilfe von Erwähnungen des Schweinswals in chinesischen Gedichten der letzten 1400 Jahre herausfinden. Die ältesten stammen aus der Tang-Dynastie der Jahre 618 bis 907.

Die aufwendige Suche in den Archiven lohnte sich: In insgesamt 724 Gedichten fanden die Forscher Hinweise auf das «Flussschwein». Fündig wurden sie unter anderem im literarischen Œuvre des von 1735 bis 1796 regierenden Kaisers Qianlong. Ihm werden allein rund 40 000 Gedichte – allerdings von oft zweifelhafter Qualität – zugeschrieben.

Für die Studie erwies sich ein Poem wie Qianlongs «Besuch des Jiao-Berges» jedoch als perfekt. Denn das Gedicht verbindet eine Sichtung der Tiere («Schweinswale jagen im silbernen Licht, während Drachen beschwören das Sturmgericht») mit einer klaren Ortsangabe.

Links: Illustration der Begegnung von Kaiser Qianlong (1711–1799) mit zwei Schweinswalen auf dem Jangtse. Rechts: Ein Gedicht des Kaisers. KI-assistierte Übersetzung der rot markierten Passage: «Smaragdne Wälder schmiegen sich an steile Wand,
zeichnen den Himmel, wo Fluss und Spiegelband. Schweinswale jagen im silbernen Licht,
während Drachen beschwören das Sturmgericht.»

In ähnlicher Weise lasse sich die Hälfte aller identifizierten Erwähnungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer konkreten Sichtung und einem bestimmten Ort zuordnen, schreiben die Autoren. «Viele chinesische Dichter waren gut ausgebildete Intellektuelle, die Tiere und Pflanzen oft mit grosser Genauigkeit porträtierten.» Sie halten viele der Angaben trotz ihrem grossen Alter und ihrer poetischen Natur daher für vertrauenswürdig.

Die so entstandenen Karten der historischen Verbreitung der Wale zeichnen ein deutliches Bild des Niedergangs: Nach mehr als tausendjähriger Stabilität schrumpften die Bereiche des Jangtse-Einzugsgebiets mit Schweinswalsichtungen massiv – für den Jangtse selbst um ein Drittel, für die Nebenflüsse und Seen sogar um mehr als 90 Prozent.

Beispielhaft für die Ursachen nennen die Autoren den Bau der Gezhouba-Talsperre, die 1988 fertiggestellt wurde. «Zuvor gab es auch flussaufwärts noch Jangtse-Glattschweinswale, sie verschwanden von dort aber ab den späten 1980er Jahren», schreiben sie.

Die Wale sind nicht die Einzigen, denen solche Bauten, der zunehmende Schiffsverkehr und die Verschmutzung des Jangtse zusetzten. Andere nur im Jangtse endemische, also nur dort vorkommende Tierarten traf es noch härter: Die bekannteste ist der Chinesische Flussdelfin oder Baiji.

Der im Gegensatz zum Schweinswal sehr hell gefärbte Delfin mit seiner charakteristischen langen Schnauze gilt seit Anfang der 2000er Jahre als ausgestorben, Qiqi, das letzte Exemplar in Gefangenschaft, starb 2002. Da halfen alle Rettungsversuche des chinesischen Staates nicht, der nach Maos Tod 1976 nach und nach ein Herz für bedrohte Tierarten wie Panda oder Baiji und deren propagandistisches Potenzial entwickelte.

Fast zeitgleich mit dem Baiji starb auch der mehrere Meter lang werdende Chinesische Löffelstör aus – der Gezhouba-Damm schnitt ihn von seinen angestammten Laichgründen ab. Ähnlich erging es dem Chinesischen Stör, dessen letzte Bestände heute durch das Aussetzen von in Gefangenschaft gezeugten Jungfischen vor dem endgültigen Erlöschen bewahrt werden.

Der Rückgang von Bestandszahlen und Verbreitungsgebiet des Jangtse-Glattschweinswals steht stellvertretend für viele Bewohner des nach Nil und Amazonas drittlängsten Flusses der Erde. Die nun rekonstruierte historische Verbreitung liefert eine wertvolle Datengrundlage. Allerdings klafft in den poesiebasierten Daten der Studie eine entscheidende Lücke: 1912 endete nach mehr als 2000 Jahren das Kaiserreich China und mit ihm auch dessen literarische Traditionen. Für die Jahre 1913 bis 1977 fehlen den Autoren deshalb Aufzeichnungen zu Sichtungen der Schweinswale.

Sie starten erst wieder mit wissenschaftlichen Bestandserfassungen ab 1978 – zu diesem Zeitpunkt war es für Baiji und Löffestör wohl schon zu spät. Für den Jangtse-Glattschweinswal könnten Schutzgebiete und andere Schutzmassnahmen doch noch zu einem Happy End führen: Die letzte Bestandsschätzung vor drei Jahren kommt auf 1249 wildlebende Tiere – das wären gut 200 mehr als bei den letzten Zählungen 2012 und 2017.

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