Die niederländische Regisseurin Jetske Mijnssen inszeniert Georg Friedrich Händels «Agrippina» als Kampf zweier ungleicher Frauen um die Macht. Doch die Umsetzung des mörderischen Stoffs bleibt zu zahm, sie erinnert stellenweise an eine Seifenoper.
Wenn autoritäre Herrscher sich anschicken, ihre Nachfolge zu regeln, wird es brenzlig. Für das persönliche Umfeld des Machthabers, aber manchmal auch für ihn selbst. Denn der innere Zirkel könnte auf den Gedanken verfallen, die Verteilung des Erbes im eigenen Sinne zu forcieren. Nicht selten kommen dabei unlautere Mittel zum Einsatz, von Intrigen und offen ausgetragenen Erbfolgekämpfen bis zur Verwendung von Gift und Dolch – fast alles ist erlaubt, wenn wieder einmal das Fell des Bären verteilt wird. Das Drehbuch dazu kennt die Geschichte seit Jahrtausenden, und meist ist es ziemlich unappetitlich.
Etwa im Fall des Kaisers Claudius, des vierten römischen Imperators nach Augustus. Er soll einem vergifteten Pilzgericht zum Opfer gefallen sein, und viele Geschichtsschreiber der Antike schieben die Urheberschaft an diesem Mordanschlag seiner Frau in die Schuhe. Handfeste Beweise gibt es, natürlich, nicht. Aber für die Nachwelt steht seither fest, dass diese Agrippina ein Teufelsweib war, das buchstäblich über Leichen ging, um Macht und Einfluss zu erringen.
Tatsächlich gelang es Agrippina mit allerlei Ränkespielen, ihren Sohn, den späteren Kaiser Nero, als Nachfolger des Claudius in Stellung zu bringen. Einmal an der Macht, dankte Nero es ihr in familientypischer Weise, mit einem Muttermord. Zuvor hinterliess Agrippina allerdings Spuren auf der europäischen Landkarte: mit der Gründung der Colonia Claudia Ara Agrippinensium an ihrem Geburtsort in Germanien. Die Stadt heisst heute Köln.
Als wär’s eine Daily Soap
Das Leben der ruchlosen Urkölnerin war seit der Barockzeit mehrmals Thema einer Oper. Der erst 24 Jahre alte Georg Friedrich Händel widmete ihr die heute noch bekannteste, es ist das sechste seiner nachmals 42 Bühnenwerke. Es wurde 1709, durchaus passend, mitten im venezianischen Karneval uraufgeführt und begründete Händels Ruhm. Das Opernhaus Zürich zeigt «Agrippina» nun in einer Neuinszenierung der niederländischen Regisseurin Jetske Mijnssen und erstmals mit dem britischen Händel-Spezialisten Harry Bicket am Pult des hauseigenen Ensembles La Scintilla.
Mijnssen hat in Zürich zuletzt mit Jean-Philippe Rameaus «Platée» bewiesen, dass sie Opern aus der Barockzeit einen entscheidenden Dreh zu geben weiss, der diese Werke auch noch dreihundert Jahre später für unsere Zeit zugänglich und interessant macht. Bei «Agrippina» steht sie allerdings vor einem Problem: Das Textbuch des italienischen Kardinals und Diplomaten Vincenzo Grimani ist eine üble Seifenoper. Zu jedem der hier versammelten Protagonisten – Claudius, Nero, Agrippina, Poppea – gibt es Bibliotheken historischer Fachliteratur, von weiteren Theater- und Opernadaptionen nicht zu reden. Doch in dieser Fassung führt sich der intrigensüchtige Clan über weite Strecken auf, als wäre er einer einschlägigen Vorabendserie entstiegen.
Vielleicht war die geschichtliche Realität wirklich so trivial. Das trägt aber nur bedingt über eine Spieldauer von gut drei Stunden. Und da die Figuren dazu neigen, die Beweggründe für ihre nächste Strippenzieherei jeweils in Rezitativen und ausladenden Da-capo-Arien zu erklären, weiss man meist schon im Voraus, was als Nächstes kommen wird. Das mässige Spannungsniveau der Aufführung ist Mijnssen somit nur teilweise anzulasten, es ist vor allem ein strukturelles Problem dieser Opernform. Es wirft aber die Frage auf, ob man solchen Werken nicht dramaturgisch durch weitergehende Eingriffe zu mehr theatraler Lebendigkeit verhelfen muss, etwa durch den Verzicht auf das eine oder andere schöne Dacapo.
Nero, der Nerd
Sonst entsteht nämlich, wie in Zürich, ein Widerspruch zwischen dem Erzähltempo der weitgehend naturalistisch gestalteten Regie und dem von der Musik immer aufs Neue erzwungenen Stillstand der Handlung in den reflektierenden Arien. Jetske Mijnssen kennt und nutzt zwar alle die Tricks, die Barockopern-Regisseure für diese Herausforderung ersonnen haben – sie erfindet kleine Nebenhandlungen und parallele Szenen auf den Seitenbühnen des wandelbaren Einheitsraums (Bühnenbild: Ben Baur), lässt andere Figuren intensiv mit der jeweils singenden Person interagieren. Doch das Ganze zündet nicht, es wirkt zu lehrbuchmässig «inszeniert», als dass es dem Geschehen zu echter Dynamik verhälfe.
Vielleicht hätte auch mehr Mut zur Zuspitzung dazu beitragen können, die Figuren von der Eindimensionalität bekannter Soap-Charaktere zu erlösen. Die Regie zeigt immerhin Ansätze dazu, bleibt aber zu brav, wenn sie etwa den Kaiser Claudius (Nahuel Di Pierro) zum müde gewordenen Lebemann und Patriarchen eines dubiosen Imperiums macht, das seinen Hauptsitz offenbar im New Yorker Empire State Building hat. Oder wenn sie Nero (Christophe Dumaux) als genervtes Muttersöhnchen entlarvt, das sich wie ein Nerd bei jeder Gelegenheit unter seine Lärmschutzkopfhörer flüchtet.
Ihre grösste Anschaulichkeit gewinnt die Aufführung beim Drama des Ottone, des Gegenspielers von Nero – nicht zuletzt durch ein in der Oper nun einmal nötiges Mass an Plakativität. Ottone ist die Aussicht auf den Patriarchenthron anscheinend derart zu Kopf gestiegen, dass er sich mitsamt Dutzenden Pappkameraden im James-Bond-Habit als neuer Zampano vor der Weltöffentlichkeit präsentieren will. Jakub Józef Orliński karikiert dabei nicht nur selbstironisch sein filmreifes Aussehen; der Countertenor beherrscht die Szene auch sängerisch – durch eine Agilität und eine Bandbreite gegensätzlichster Stimmungslagen, wie sie an diesem Abend ähnlich nur noch Lea Desandre als Poppea zu Gebote steht.
Zwei sehr böse Frauen
Sie entwickelt sich immer mehr zur eigentlichen Gegenspielerin von Agrippina, der Anna Bonitatibus eine schöne Stimme, aber zu wenig abgründige Durchtriebenheit gibt. Poppea ist die Aufsteigerin in dieser dysfunktionalen Sippe, sie will aber nicht bloss der Spielball machtgieriger Kerle sein. Und so eifert sie ihrer bösen Lehrmeisterin in einem Punkt nach. Sie setzt schliesslich auf ein paar Tropfen Gift im Champagner – nicht auf Pilze, wie es Agrippina hier anfangs vergeblich (und abweichend von der Historie) während einer Videoeinspielung zur Ouvertüre versucht hat. Mit dieser drastischen Rahmenerzählung vom Kampf zweier ungleicher Frauen setzt die Regie zugleich einen Kontrapunkt zum Schlusschor, der – ausgerechnet – die kommende Machtübernahme Neros feiert.
Weitere solcher pointierten Brechungen hätten dem Abend gutgetan. Umso mehr, als auch Harry Bicket mit dem kraftvoll, manchmal etwas ruppig artikulierenden Scintilla-Ensemble nicht ganz darüber hinwegtäuschen kann, dass die erste Stunde dieses Frühwerks noch selten die Höhe der späteren Händel-Opern erreicht. Wenn sich dessen betörender Melodienzauber schliesslich doch entfaltet, legen alle Sänger gleichsam einen inneren Schalter um, und man ahnt für kostbare Augenblicke, was Menschen regelrecht süchtig machen kann nach diesem Händel-Sound. Hier indes entsteht kein stimmiges Ganzes, eher ein wildes Auf und Ab.