Montag, Oktober 21

Der Professor für Wirtschaftsgeografie Christian Hilber sagt, warum die Situation am hiesigen Wohnungsmarkt noch lange nicht so angespannt ist wie in Grossbritannien – warum sie es aber werden könnte.

Herr Hilber, selbst im mittleren Preissegment in Schweizer Städten kosten Eigentumswohnungen heute rasch zwei oder drei Millionen Franken. Mietwohnungen im Zürcher Quartier Seefeld mit vier Zimmern werden teilweise für 5000 oder 6000 Franken ausgeschrieben. Wer kann sich das noch leisten?

Diese Preise sind tatsächlich hoch. Wir müssen uns jedoch im Klaren sein, dass der Wohnraum in der Schweiz im Durchschnitt immer noch erschwinglich ist. Die Miete im Seefeld ist ja nicht die Durchschnittsmiete in der Schweiz. Es handelt sich hierbei um eine höchst attraktive, privilegierte Lage. Wohnungen an Toplagen sind knapp und nicht vermehrbar. Wenn wir solche Mietzinsen herumreichen, müssen wir also vorsichtig sein. In Zürich sind die Mieten immer noch günstig im Vergleich zu London, wo ich lebe.

Da würden Ihnen viele Wohnungssuchende in Zürich widersprechen.

Eine Wohnung mit vier Zimmern in Westminster oder in Chelsea in London liegt in einer anderen Grössenordnung. Da spreche ich von Monatsmieten von 10 000 Franken und mehr. Wer in der Schweiz lange genug in seiner Mietwohnung wohnen bleibt, wird langfristig selbst in Zürich eine erschwingliche Miete haben. Der Mieter zahlt nur bei der Neuvermietung die aktuelle Marktmiete. Danach bleibt die Miete weitgehend eingefroren. Und: Wenn man 20 oder 30 Kilometer aus Zürich herausgeht, findet man deutlich günstigere Wohnungen.

Und in Grossbritannien?

Günstige Wohnungen innerhalb von London sind meist kaum benutzbar. Sie zerfallen, sind von Schimmel überzogen oder mit Ratten verseucht. Auch ausserhalb der Innenstadt, im Grossraum London, sind Wohnungen sehr teuer. Wenn wir es mit der Schweiz vergleichen, ist Wohnraum hierzulande vergleichsweise erschwinglich. Man muss also die Proportionen wahren.

Woher kommt die Unzufriedenheit in der Schweiz mit dem Wohnungsmarkt?

Die Schweizer Regulierung führt zu einem Insider-Outsider-Problem. Wer schon lange in seiner Wohnung lebt und von einer tiefen Bestandesmiete profitiert, ist ein Insider. Wer als junge Person eine Stelle antritt und eine neue Wohnung braucht, ist ein Outsider. Sie zahlt eine hohe Angebotsmiete. Im Durchschnitt ist Wohnraum in der Schweiz trotzdem sehr bezahlbar, aber eben nicht für alle.

Wie funktioniert die Mietzinsregulierung in England?

Ganz anders. Abgesehen von Sozialwohnungen unterstehen in England alle Mietwohnungen dem Markt. Der typische Mietvertrag ist auf ein Jahr befristet. Jedes Mal, wenn ein Vertrag ausläuft, kann der Vermieter frei entscheiden, ob und zu welchem Mietzins er das Vertragsverhältnis fortsetzen will. Er kann die Miete auf gleicher Höhe belassen oder sie um 10 oder auch um 20 Prozent erhöhen. De facto kann er machen, was er will.

Dann kann der Vermieter jedes Jahr die Miete erhöhen?

Theoretisch ja. Aber natürlich riskiert er damit auch einen Wechsel der Mieterschaft. Das ist für den Vermieter mit Kosten und Aufwand verbunden. Doch im Unterschied zur Schweiz lässt sich tatsächlich sagen: Die Mieten steigen und sinken in England mit der Nachfrage.

Welches ist nun das bessere System, um den Wohnungsbestand optimal zu verteilen?

Ein milder Mieterschutz hat positive Effekte. Er führt zu einer gewissen Sicherheit. Die Leute müssen sich keine Sorgen machen wie in anderen Ländern, eines Tages plötzlich auf der Strasse zu stehen. Und man muss auch nicht einen willkürlichen Mietzins akzeptieren. Trotzdem hat der Vermieter in der Schweiz einen Spielraum, bei einem Mieterwechsel nahe an die Marktmiete zu gehen. Das führt dazu, dass die Anreize für Vermieter, Wohnraum zur Verfügung zu stellen, positiv sind.

Was geschieht, wenn der Staat zu stark in den Markt eingreift?

Wenn es für den Vermieter kaum möglich ist, bei einer Neuvermietung in Richtung Marktmietwert zu gehen, wirkt sich dies langfristig kontraproduktiv auf den Wohnungsmarkt aus. Vor allem in einigen deutschen Städten wie Berlin nimmt die starke Regulierung den Vermietern den Anreiz, zusätzliche Mietwohnungen anzubieten. Die Warteschlangen bei den Wohnungsbesichtigungen werden noch länger. Das Insider-Outsider-Problem verschärft sich.

Warteschlangen gibt es auch in der Schweiz.

Dieses Problem ist in der Schweiz aber nicht so gravierend wie in ausländischen Städten. Der Wohnungsneubau ist vergleichsweise gut. Umgerechnet pro Kopf werden in der Schweiz rund dreimal so viele Wohnungen gebaut wie in England. In der Schweiz sehen wir auch keine Anzeichen, dass sich gewisse Investoren wie Pensionskassen vom Immobilienmarkt zurückziehen.

Doch auch in der Schweiz wird trotz gesunkenen Zinsen zu wenig gebaut.

In der Schweiz ist man noch lange nicht so weit wie in England. England kennt seit Jahrzehnten eine ausgesprochen restriktive Planung und Baubeschränkungen. Gerade in London und im Südosten des Landes ist es extrem schwierig, überhaupt neue Wohnungen zu bauen. Das hat auch mit dem «Nimby»-Problem zu tun. Die Menschen sagen: «Not in my backyard» – in meinem Hinterhof darf nicht gebaut werden. In der Schweiz beobachten wir ähnliche Tendenzen erst seit etwa einem Jahrzehnt.

Sie sprechen die 2014 in Kraft getretene Revision des Raumplanungsgesetzes an. Diese sollte die landschaftliche Zersiedelung stoppen und mehr auf Verdichtung in den Zentren setzen. Bis jetzt ist das ein frommer Wunsch geblieben.

Das liegt auch an einer Schweizer Besonderheit: Gemeinden dürfen hierzulande eine kommunale Einkommenssteuer erheben. Sie stehen in einem Steuerwettbewerb zueinander. Noch bis 2013 hatten sie einen grossen Anreiz, am Ortsrand möglichst grosse Parzellen einzuzonen, um so zahlungskräftige Steuerzahler anzuziehen. Das Planungssystem hat diese Einzonungen zugelassen. So konnte man als Gemeinde Steuereinnahmen generieren, was für alle Bewohner ein Vorteil war. Und solange diese bauliche Entwicklung am Ortsrand stattfand, kümmerte es die Leute im Ortskern wenig. Langfristig hat das aber zum bekannten Problem der Zersiedelung geführt.

Wie beurteilen Sie die Situation heute?

Die Gemeinden haben nicht mehr den gleich grossen Spielraum, weiter nach ihrem Gutdünken Land einzuzonen. Im Gegenteil, manche mussten sogar Bauland wieder auszonen. Es wurde schwieriger und auch teurer, zu bauen, das ist quasi das Resultat der Revision des Raumplanungsgesetzes. Trotzdem gibt es in der Schweiz einen Konsens, dass man die Landschaft nicht weiter zersiedeln will, es braucht also die Verdichtung in den Städten.

Das ist schnell gesagt, aber extrem schwierig umzusetzen. Warum?

Es sind viele Faktoren. Hochhäuser in den Innenstädten ziehen ein Zielpublikum an, das weniger Steuereinnahmen generiert. Sehr vermögende Privatpersonen lassen sich kaum in die Innenstadt locken. Es wird kein Roger Federer dorthin ziehen. Gleichzeitig stören sich die bisherigen Anwohner an den Hochhäusern. Es kommt zu Einsprachen, Rekursen und Verzögerungen. Für die Projektentwickler gibt es immer weniger Anreize, überhaupt zu bauen, oder es wird auf jeden Fall weniger profitabel, neuen Wohnraum zu schaffen.

Sie sind Ökonom. Wie würden Sie das «Not in my backyard»-Problem lösen, wenn Sie die Regeln bestimmen könnten?

Man sollte die richtigen Anreize setzen und die Anwohner entschädigen. Stellen wir uns ein altes, abbruchreifes Wohnhaus mitten in der Stadt vor. Wenn der Immobilienentwickler im neuen Gebäude nicht nur die bestehenden zwei oder drei, sondern zehn Stockwerke bauen darf, erzielt der Eigentümer eine hohe Wertsteigerung. Mit einer höheren erlaubten Ausnutzung steigt der Wert des Grundstücks stark. Einen Teil dieses Planungsgewinns könnte man abschöpfen und den umliegenden Anwohnern zugutekommen lassen.

Was wäre der Vorteil dieser Lösung?

Der Mehrwert, der durch die Verdichtung entsteht, ginge nicht allein an den Eigentümer des Grundstücks. Man liesse auch die umliegenden Anwohner teilweise daran teilhaben. Das Entscheidende wäre, dass man klarere Regeln aufstellt. Es käme nicht mehr wie heute zu irgendwelchen obskuren Deals und jahrelangen Verhandlungen zwischen Anwohnern und Entwicklern rund um die Baubewilligung. Die Rechtsunsicherheit aufseiten des Projektentwicklers würde durch einen klar strukturierten Prozess beseitigt. Denn mit Verzögerungen und jahrelangen Verhandlungen treibt man nur unnötig die Entwicklungskosten in die Höhe. Natürlich müsste man sich die konkrete Ausgestaltung noch genauer überlegen, zum Beispiel die genaue Umverteilung der Planungsgewinne.

Was raten Sie dem Gesetzgeber?

Im Kern müssten die Anreize für eine Innenentwicklung so gestaltet sein, dass die Entwickler einen Gewinn erwirtschaften und die Projektentwicklung in der Innenstadt attraktiv ist. Gleichzeitig müssten ausreichend Mittel vorhanden sein, um die negativ betroffenen Anwohner finanziell abzugelten.

Was ist, wenn es dem Gesetzgeber nicht gelingt, das Verdichtungsproblem zu lösen?

Ich befürchte, dass sich das Insider-Outsider-Problem in Zukunft noch deutlich verschärfen dürfte, wenn sich die Innenentwicklung der Städte nicht verwirklichen lässt. Dann drohen der Schweiz langfristig ähnliche Verhältnisse wie in England. Dort hat man einerseits riesige Warteschlangen für Sozialwohnungen und andererseits die weltweit höchste Obdachlosenrate von allen entwickelten Ländern. Junge Leute sind gezwungen, länger in der Wohnung ihrer Eltern zu bleiben. Immer mehr Menschen müssen auf sehr engem Wohnraum leben.

Das klingt sehr dystopisch.

Und es ist leider noch nicht alles: Der britische Staat schützt die riesigen grünen Gürtel um die Städte um jeden Preis. Baubeschränkungen in den Zentren verhindern grössere Gebäudehöhen. Dann kommt auch noch der Denkmalschutz dazu. Wer sich die Innenstadt nicht mehr leisten kann, kann nicht einfach ein Stück weit ausserhalb der Stadt wohnen, weil dort der grüne Gürtel ist. Das heisst, er muss zwei oder sogar zweieinhalb Stunden Pendelzeit in Kauf nehmen, um überhaupt zur Arbeit in die Innenstadt zu kommen. Die Menschen ziehen also weit weg, an Orte, an denen für sie Wohnraum erschwinglich ist. Ökonomisch haben wir also höhere Pendlerkosten und unerwünschte ökologische Folgen durch den vermehrten Verkehr.

Was sind die wirtschaftlichen Folgen dieser Ineffizienzen?

Sehr rigide raumplanerische Einschränkungen führen zu einer Fehlallokation von Arbeitskräften. Die Menschen können nicht mehr dort arbeiten und wohnen, wo sie am produktivsten sind. In der Folge sinkt der ökonomische Output.

Eine letzte Frage zur Zuwanderung: Wie stark trägt diese zu Wohnungsknappheit und hohen Mieten bei?

Ich habe da grosse Vorbehalte. Natürlich erhöht die Immigration die Nachfrage nach Wohnraum, was vor allem die Mietpreise steigen lässt. Wenn man ein flexibles Angebot hat, wie das in der Schweiz bis 2010 der Fall war, dann steigen die Preise und Mieten aber nicht so stark, weil das Angebot reagieren kann. Es gibt auch viele andere Faktoren, die die Nachfrage beeinflussen, wie etwa die Entwicklung des realen, also inflationsbereinigten Einkommens. Wenn die realen Einkommen steigen, erhöht das die Zahlungsbereitschaft und somit die Nachfrage. Dieser Effekt ist oft stärker als jener der Zuwanderung.

Christian Hilber

PD

Christian Hilber ist Professor für Wirtschaftsgeografie an der London School of Economics (LSE) und Experte für Wohnraumversorgung und Stadtentwicklung. Der Immobilienökonom berät internationale Gremien wie das britische Finanzministerium und hat in führenden Fachzeitschriften publiziert. Seine Forschung konzentriert sich auf die Wohnungs- und die Bodenpolitik. Im Frühjahr hat Hilber an der Universität Zürich eine Teilzeitprofessur ad personam übernommen.

Exit mobile version