Wie es sich anfühlt, sein Kind zunehmend zu verlieren.
Im November 2021 treffe ich Thomas Naumann zum ersten Mal. Er empfängt mich in seinem Einfamilienhaus in einer Kleinstadt in Bayern. Naumann, der eigentlich anders heisst, trägt Jeans und T-Shirt, darüber ein offenes Hemd, sein Haar ist kurz und brünett, er trägt einen Dreitagebart. Selbstgemalte Kinderzeichnungen schmücken die Innenwände seines Hauses. In einer Ecke des Wohnzimmers befindet sich ein Puppenhaus. Ein Familienwohnzimmer, wie es viele gibt. Doch Naumann lebt allein.
Im Puppenhaus hat er kleine Rätsel versteckt – für seine Tochter, wenn sie ihn besucht. «Ich versuche, ihr viel mit auf den Weg zu geben», sagt der Pädagoge. «Die gemeinsame Zeit, die wir haben, will ich auch nutzen.» Denn die gemeinsame Zeit ist rar.
Seine Tochter lebt bei ihrer Mutter. Als die Kleine eineinhalb Jahre alt war, haben sich Naumann und seine Ehefrau getrennt. «Es ging einfach nicht mehr», sagt er. Weiter darauf eingehen will er nicht – ihm zufolge, um sein Kind zu schützen und um die rechtliche Situation nicht zu verschärfen. Aus diesem Grund möchte er auch anonym bleiben. Der Text basiert deshalb auf der Perspektive des Vaters. Viele seiner Aussagen lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Seit der Trennung ist die gemeinsame Zeit mit seiner Tochter beschränkt: zwei Stunden, jeweils zweimal pro Woche. Immer in Begleitung der Mutter – so verlangt sie es, bis das Gericht einen Entscheid über die Besuche fällen würde. «Die Anfangszeit nach der Trennung war besonders schwierig», erinnert sich Naumann. Er wirkt nicht verbittert oder rachsüchtig, sein Ton ist moderat, sein Blick nachdenklich.
Das Kinderzimmer befindet sich im ersten Stock. Die Holzregale darin sind gefüllt mit Spielzeugen und Büchern. In der Ecke steht ein weisses Himmelbett. Es ist noch nie benutzt worden. Obwohl er und seine Ex-Frau nur wenige Gehminuten voneinander entfernt leben, hat sein Kind noch nie bei ihm übernachtet.
Seine Tochter sei oft distanziert, erzählt Naumann. «Wenn wir allein sind, sucht sie meine Nähe. Doch sobald ihre Mutter anwesend ist, wird sie abweisend», sagt Naumann. Seine Vermutung: «Sie befindet sich in einem Loyalitätskonflikt.» Er fürchtet, dass sein Kind zunehmend entfremdet wird.
Meist sind Väter von Entfremdung betroffen
Die Situation, in der sich Naumann befindet, ist kein Einzelfall. In Deutschland verlieren jährlich bis zu 40 000 Kinder und Jugendliche nach einer Trennung den Kontakt zu ihrer Mutter oder zu ihrem Vater. Und das, obwohl rund 80 Prozent der betroffenen Eltern angeben, davor ein enges Verhältnis gehabt zu haben. Das zeigt eine Umfrage des Vereins «MamaPapaAuch», der sich für gleichberechtigte Erziehung einsetzt.
Meistens trifft Entfremdung die Väter. Wenn Eltern sich trennen, wachsen 85 Prozent der Kinder bei der Mutter auf, wie das Statistische Bundesamt in Deutschland festhält. Welche Rolle der Vater dann im Leben seines Kindes spielt, ist eine Frage, die oft vor Gericht geklärt werden muss.
Auch in der Schweiz werden jedes Jahr 500 bis 700 Kinder von einem Elternteil entfremdet, wie Schätzungen besagen. Laut Kokes, der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz, sind jedes Jahr rund 12 400 Kinder von einer Scheidung oder Trennung der Eltern betroffen. Rund 5 Prozent davon verlaufen hochstrittig.
Eltern-Kind-Entfremdung bis heute umstritten
Das Phänomen nennt sich «parental alienation» oder auf Deutsch: Eltern-Kind-Entfremdung. Es beschreibt die Situation, wenn ein Trennungskind sich mit einem Elternteil verbündet und den anderen Elternteil, meist den Vater, stark ablehnt. Der Begriff ist bis heute umstritten. Kritiker sehen darin den Versuch von Väterrechtlern, Macht auszuüben und die Mutter-Kind-Bindung zu stören.
Die Psychologin Ursula Kodjoe beschäftigt sich seit 28 Jahren mit Eltern-Kind-Entfremdung. Die Folgen für Trennungskinder seien fatal, wenn der Kontakt zu einem Elternteil abbreche. «Die Anfälligkeit für Entwicklungsstörungen, von aggressivem Ausagieren oder depressivem Rückzug bis hin zu Suizidgedanken, ist viel höher, da es schon sehr früh zu einer psychischen Destabilisierung kommt», sagt sie.
Nach einer Trennung befänden sich Kinder zunächst im Loyalitätskonflikt. «Kinder wollen es beiden Eltern recht machen, sie nicht verärgern oder verletzen. Sie geben oft sich selbst die Schuld, wenn etwas in der Familie nicht funktioniert», erklärt Kodjoe. Spüren Kinder nach einer Trennung die Erwartung von Vater oder Mutter, sich auf ihre Seite zu schlagen, überfordere dieser Druck ihr Bewältigungssystem.
Das beginne bereits im Sprachlichen. «Wenn man zum Kind sagt: ‹Na, am Wochenende bist du ja wieder bei deinem Vater, und ich bin dann ganz allein hier›, dann kann das nonverbal heissen: ‹Ich will nicht, dass du dort hingehst. Wenn du mich liebst, bleibst du hier›», erklärt die Psychologin.
Kinder, die eine Elternbeziehung verloren hätten, hätten häufig ihr Leben lang Probleme, vertrauensvolle, stabile zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten. «Es ist nicht die Trennung selbst, unter der die Kinder am meisten leiden, sondern der damit verbundene Konflikt und das Gefühl, sich für eine Seite entscheiden zu müssen», sagt die Psychologin. Kindern gehe es gut, wenn sie eine unbelastete, verlässliche Beziehung zu beiden Elternteilen leben könnten.
Halt durch andere Betroffene
Der Kampf um sein Kind erschöpfte Naumann. Halt fand er im Austausch mit anderen Elternteilen, die ebenfalls unter dem Abbruch des Kontakts zu ihren Kindern leiden. Alle paar Monate trifft er sich mit anderen Betroffenen. Organisiert werden die Treffen vom Verein «Väteraufbruch für Kinder», der für uns auch den Kontakt zu Naumann hergestellt hat. Torsten Fabricius ist der Vorsitzende des Zweigs in Würzburg. Er sagt: «Es wird zu wenig über Kindesentfremdung gesprochen.» Ihm sei wichtig, dass Trennungseltern eine Stütze hätten.
Einen Monat nach unserer ersten Begegnung treffe ich mich erneut mit Naumann. Diesmal gemeinsam mit seiner Tochter. Die beiden haben sich seit vier Wochen nicht mehr gesehen. Während wir spazieren gehen, erzählt er mir von seiner Sorge, seine Tochter zunehmend zu verlieren. «Was kann ich tun, wenn mir dermassen viele Steine in den Weg gelegt werden?», fragt er. «Um jeden Besuch muss ich kämpfen. Dabei will ich doch nur mein Kind aufwachsen sehen.»
Naumann wirkt nachdenklich. Die Angst vor dem nächsten, anstehenden Gerichtstermin steht ihm ins Gesicht geschrieben. Würde er seine Tochter künftig noch weniger sehen? Er runzelt die Stirn, während er seine Tochter anblickt. Sie formt gerade kichernd einen Ball aus den schmelzenden Resten eines Schneehaufens, ihre Hände in rosa Handschuhe gehüllt.
Das Mädchen, das anfangs noch zurückhaltend wirkte, taut langsam auf, sucht die Nähe zu seinem Vater. Naumann hebt das vierjährige Mädchen auf seine Schultern und hält es an den Beinen fest. «Komm, lenk mal!», ruft er ihr zu. Als sie ihn am linken Ohr zieht, geht er nach links, als sie ihn am rechten Ohr zieht, wechselt er die Richtung. Sie lacht. Die beiden wirken innig. «Wir haben unsere eigene Sprache entwickelt. Die verstehen nur wir zwei.»
Tochter lehnt ihn zunehmend ab
Wir halten Kontakt. Zwei Jahre später treffe ich mich erneut mit Naumann. Seine Tochter ist nicht dabei. Es ist Winter. Wir sitzen am Esstisch seines Wohnzimmers.
Der Raum ist mittlerweile leerer, aufgeräumter. Das Puppenhaus ist weg, einige der Zeichnungen sind verschwunden. «Sie ist grösser geworden, das ist jetzt nicht mehr cool», sagt er. Und das Verhältnis zu seiner Tochter? «Sie ist noch distanzierter geworden, lehnt mich zunehmend ab. Aber ich merke, dass ein Nachdenken bei ihr stattfindet», sagt der heute 41-Jährige.
Wenn ihre Mutter nicht da sei, wirke sie gelöster. «Als sie letztens hier war und sagte, sie wolle zu ihrer Mama, antwortete ich: Okay, du kannst sie anrufen.» Als ihre Mutter ihr dann am Telefon erklärt habe, sie könne sie gerade nicht abholen, habe das Kind erleichtert gewirkt, sagt Naumann. «Wir hatten dann noch eine richtig schöne Zeit zusammen.»
Naumann wirkt nicht mehr so hoffnungsvoll wie noch vor zwei Jahren. Doch noch hat er nicht ganz aufgegeben. Er hat ein psychologisches Gutachten beantragt. Dieses soll zeigen, ob die Abweisung der Tochter tatsächlich aus freien Stücken geschieht, oder ob sie auf den Einfluss ihrer Mutter zurückzuführen ist. «Ich sehe das als letzte Chance, um meine Tochter nicht vollkommen zu verlieren», sagt er. Derzeit wartet er noch auf das Ergebnis. Kommendes Wochenende sei seine Tochter wieder bei ihm. Wirklich freuen könne er sich darauf nicht. Manchmal sei es, als hätte er eine Fremde zu Gast.