Samstag, Oktober 5

Im Arp-Museum in Remagen werden die Frauen des Dada geehrt. Elsa von Freytag-Loringhoven ist die grosse Entdeckung dieser Ausstellung.

Sie lief in bizarren Kostümen als lebende Skulptur durch New York. Das war in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Man Ray und Marcel Duchamp drehten einen Kurzfilm über sie. Dessen einziger Gegenstand war die Rasur ihres Schamhaars. Elsa von Freytag-Loringhoven verkörpert den rebellischen Geist des Dadaismus wie kaum eine andere Künstlerpersönlichkeit. Die Bewegung wurde 1916 in Zürich aus der Taufe gehoben – mitten im Ersten Weltkrieg und in einem Moment, als die Avantgarde die Grundpfeiler des Bildungsbürgertums als Relikte einer Welt von gestern zum Einsturz bringen wollte.

Die extravagante Deutsche (1874–1927), durch ihre Heirat mit dem zehn Jahre jüngeren Leopold von Freytag-Loringhoven zur Baroness befördert, steht jetzt im Fokus einer Dadaismus-Ausstellung des Arp-Museums Bahnhof Rolandseck. «Der die Dada. Unordnung der Geschlechter», so lautet der Titel der aus rund 200 Exponaten (Collagen, Fotografien, Filme, Gemälde und Texte) bestehenden Schau. Die Dada-Zentren Zürich, Berlin, Köln, Paris und New York dienen als Orientierungspunkte, um die Stofffülle zu bändigen.

Die Frauen wurden in der Blütezeit des Dadaismus von ihren Gesinnungsgenossen in die zweite Reihe gedrängt – und erfuhren auch später nicht jene Wertschätzung, die ihnen gebührt. Die Rehabilitation im Arp-Museum gilt Dadaistinnen wie Céline Arnauld, Sophie Taeuber-Arp, Gabrielle Buffet-Picabia, Emmy Hennings, Hannah Höch oder dem Stummfilm-Vamp Musidora (eigentlich Jeanne Roques). Und eben Elsa von Freytag-Loringhoven, die nach ihrem frühen Tod in Vergessenheit geraten war.

Antikunst und performative Wende

Sie aber ist die ideale Galionsfigur für die subversive, schrille Bewegung, der schon nach wenigen Jahren die Luft ausging. Antikunst und performative Wende, Verhöhnung von Vernunft, Moral und zivilisiertem Benehmen, eine Vorliebe für das Exzentrische, Bizarre und Paradoxe – all diese dadaistischen Tugenden trieb Elsa von Freytag-Loringhoven auf die Spitze. «Gegen dies Manifest sein, heisst Dadaist sein!», verordnete das dadaistische Manifest von 1918: ein absurder Satz und so recht nach dem Geschmack der Baroness.

In der Ausstellung begegnet man einer Reihe von Fotos, die Elsa von Freytag-Loringhoven in Aktion zeigen. Aufnahmen, die den Eindruck vermitteln, sie sei ein durchgeknallter Freak gewesen. Das mag zutreffen, doch ist es nicht die ganze Wahrheit. Marcel Duchamp, dem Elsa von Freytag-Loringhoven in den frühen zwanziger Jahren in New York begegnete, lobte: «Die Baroness ist keine Futuristin. Sie ist die Zukunft.»

War die freizügige Frau nicht bloss eine Vertreterin des Dadaismus, sondern etwa gar die Erfinderin der Konzeptkunst? Das ist die These ihrer Biografin Irene Gammel. Die Autorschaft an dem unsignierten Urinal «Fountain» (1917), das als erstes Readymade das Verständnis von Kunst auf den Kopf stellte, gebühre nicht Marcel Duchamp, dem Übervater der Moderne, sondern der Dada-Baroness, meint die Gender-Forscherin. Unlängst hat die niederländische Künstlerin Barbara Visser dieser Theorie eine eigene Ausstellung im Kunsthaus Zürich gewidmet («Alreadymade»).

Allerdings bleibt Gammel einen stichhaltigen Beweis schuldig. Vorerst wird die Kunstgeschichte nicht umgeschrieben. Doch passt Duchamp, der Meister der Verstellung, der unter anderem durch sein weibliches Alter Ego Rrose Sélavy für Irritation sorgte, perfekt zum Tenor der Schau im Arp-Museum. Deren Titel «Unordnung der Geschlechter» zielt auf die Auflösung der traditionellen Vorstellungen von männlich und weiblich.

Bei den Dadaisten, so die Lesart der Präsentation, habe das Zeitgeistthema unserer Tage die Kunst- und Lebenspraxis bereits durchdrungen. «Dada», so liest man im Katalog, «war Freiheit. Auch die Freiheit des Geschlechts.» Freilich verstanden die Dadaisten Gender-Fluidität nicht, wie heute, als zentralen Glaubensartikel, sondern nur als eine von vielen Optionen, um wider den Stachel der bürgerlichen Moral zu löcken.

Die Puppenspielerin von Zürich

Eine Grenzgängerin und Tabubrecherin war auch Emmy Hennings (1885–1948) – jedenfalls 1916/17, in jener Phase, als sie gemeinsam mit Hugo Ball, Richard Huelsenbeck, Marcel Janco und Hans Arp im Zürcher Cabaret Voltaire den Tanz auf dem dadaistischen Vulkan vorführte.

Emmy Hennings besass viele Talente: Sie war Schriftstellerin, Schauspielerin, Puppenspielerin, Sängerin, Kabarettistin – und Schöpferin einer Wortmarke von genialer Infantilität: «Dada – das Wort stammt von mir», erklärte sie, «und ich hab’s in einer Spielerei oft Hugo gesagt, wenn ich spazieren gehen wollte. Alle Kinder sagen zuerst ‹Dada›.»

Die dadaistische Periode des Künstlerpaars Emmy Hennings und Hugo Ball (sie heirateten 1920), war ebenso kurzweilig wie kurz. Und schlug schon 1917 in eine abrupte Wende um: Fortan suchten die beiden ihr Heil im Katholizismus statt im Dadaismus. Ihre Sturm-und-Drang-Phase wurde in die Kategorie «Irrungen und Wirrungen» einsortiert.

Ebenso gross war der Wandel, den Hennings nach dem frühen Tod von Ball durchlief. Dem Andenken des 1927 Verstorbenen galt fortan all ihre Kraft. Hennings widmete sich der Nachlassverwaltung, sah sich gar als «lebendiges Tagebuch» von Ball. Eine Definition, die an Selbstaufgabe grenzt.

Das Beispiel von Emmy Hennings veranschaulicht in zugespitzter Form, dass auch jene Dada-Frauen, die nicht abtrünnig wurden, meist dazu neigten, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen. Bei den Dadaisten passierte das selten. Tristan Tzara beispielsweise schoss publizistisch aus allen Rohren. Der Rumäne, ein Dadaist der ersten Stunde – in der Ausstellung ist er durch ein Porträt von Robert Delaunay präsent – veröffentlichte eine Flut an Pamphleten, Manifesten und Artikeln, die in Zürich und Berlin, in Paris und New York zirkulierten. Meist rangierten die Dada-Frauen in diesen Texten unter «ferner liefen».

Frauen – ein Fall für die Fussnoten

Die männliche Deutungshoheit setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort, als sich die Ex-Dadaisten daran machten, die Bewegung zu historisieren und zu glorifizieren. Vor allem Hans Richter und Richard Huelsenbeck verbannten die Mitstreiterinnen von einst in ihren Dadaismus-Publikationen in die Fussnoten – wenn sie nicht ganz totgeschwiegen wurden.

Bezeichnend und kurios, was Richter in seinem 1964 erschienenen Buch «Dada – Kunst und Antikunst» über die Performances von Emmy Hennings im Cabaret Voltaire schrieb; ihre Vorträge, bemängelte Richter, seien «weder stimmlich noch vortragsmässig im herkömmlichen Sinne künstlerisch» gewesen. Dabei bestand der Clou des Dadaismus doch gerade darin, alles, was «im herkömmlichen Sinne künstlerisch» war, über Bord zu werfen.

«Der die Dada. Unordnung der Geschlechter», Arp-Museum Bahnhof Rolandseck, Remagen, bis 12. Januar 2025.

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