Dienstag, Oktober 1

Daido Moriyama: «Shizuoka», 1968, aus dem Fotoalbum «A Hunter», © Daido Moriyama Photo Foundation

Mit seiner Strassenfotografie hat er den Blick auf das urbane Leben verändert. Dem berühmten japanischen Fotografen gilt in Lausanne eine Retrospektive.

Seine Bilder sind verwackelt, unscharf und grobkörnig. Und man weiss oft nicht, was eigentlich das Motiv ist, das Daido Moriyama ins Visier seiner Fotokamera nehmen wollte. Das Sujet ist in diesen Schwarz-Weiss-Aufnahmen manchmal so sehr aus dem Fokus gerutscht, dass man sich fragt, was dieser als Fotostar gefeierte Japaner eigentlich von Fotografie versteht.

Japan hat mitunter die besten Kameras der Welt produziert – Canon, Olympus, Nikon, Minolta und wie sie alle heissen. Aber was macht Moriyama damit? Er foutiert sich um die Spitzentechnik «made in Japan», bedient sich unscheinbarer Kompaktkameras und knipst drauflos, als wäre er betrunken. Nicht einmal durch den Sucher zu blicken, hält er dabei für notwendig.

Tatsächlich ist Daido Moriyama im Rausch, wenn er durch die Stadt streift: berauscht von der sinnlich aufgeladenen Atmosphäre von Tokios Vergnügungsviertel mit seinen Bars, Love-Hotels und Rotlichtlokalen. Hier im Treiben der Menschenmassen treibt sich Moriyama mit Vorliebe herum. Er mag die Intensität der überfüllten Strassenzüge. Ohne die Stadt könne er nicht fotografieren, er sei süchtig nach Städten, hat er einmal gesagt.

Daido Moriyama: «Tokyo,» ca. 2000 (oben); «Male Actor Playing a Woman», 1966, aus dem Fotobuch «Japan, a Photo Theater» (Mitte links); «n.p., n.d.» (Mitte rechts); für die Ausgabe «Provoke 2», Tokio, 1969 (unten).


Obsessionen und Fetische

Moriyama ist in Städten wie Tokio, aber auch in New York, Paris und London Hunderte von Kilometern abgelaufen. Er hat Tausende von Aufnahmen von Gebäuden, Leuchtreklamen, Passanten und Hotelzimmern gemacht: eine chaotische, hypnotisierende Welt voller Produkte, Waren, Spiegel, Reflexionen – die grelle urbane Welt des Konsums.

«Für mich sind Städte wie riesige Körper menschlichen Begehrens», umschreibt er diese Faszination in einem Kurzfilm anlässlich einer Ausstellung in der Tate Modern von 2012. Wenn er unterwegs sei, fühle er diese Energie mit all seinen Sinnen. Dann mache er Fotos, die von seinen physischen Obsessionen und Fetischen geleitet seien. «Das ist die Art von Kameraarbeit, die ich mag.»

«Labyrinth», 2012 (links); «Minato, Tokyo», 1969 (rechts).

Was dabei herauskommt, lässt sich jetzt in einer Ausstellung im Lausanner Photo Elysée anhand der ganzen Tiefe von Moriyamas Schaffen überprüfen: Die Wände sind hier regelrecht vollgepflastert mit seinen Bildern.

«Yokosuka», 1970 (links); aus «Letter to St-Loup», 1990 (rechts).


Keine Dogmen, radikale Ideen

Der 1938 in Ikeda, Osaka, geborene Künstler wuchs im Japan der Nachkriegszeit auf. Er erlebte die rasante Verwestlichung sowie die enormen wirtschaftlichen Umbrüche seiner Heimat. Während der Jahrzehnte des Wandels lernt er die Fotografie als Sprache der Massenmedien kennen und beginnt für japanische Fotozeitschriften mit hoher Auflage zu arbeiten.

Dabei macht er aus seiner Skepsis gegenüber dem Fotojournalismus und dessen Sensationslust kein Hehl. Das Medium Fotografie selber hinterfragt er kontinuierlich, indem er es von seinem künstlerisch-ästhetischen Anspruch befreit: «Diese Naivität, zu glauben, man könne womöglich Meisterwerke erschaffen; dieser naive Humanismus, zu versuchen, den Menschen durch die Kunst, die man macht, helfen zu können – das ist mir einfach zu optimistisch.»

Seine radikalsten Ideen zum Metier finden in dem Fotobuch «Farewell Photography» ihren Höhepunkt. «Der Titel mag vielleicht ironisch klingen, aber er beschreibt meine Hassgefühle. Ich möchte mich von diesen spirituell friedlichen Fotografien verabschieden – anders gesagt, von Fotografien, denen die Realität fehlt», erklärte er dazu.

Bis heute lehnt Moriyama alles Dogmatische in der Fotokunst ab. Stattdessen setzt er auf eine bedingungslos zugängliche Fotografie des Alltäglichen. Das beginnt mit seiner Entscheidung, kleine, unkomplizierte und unauffällige Kameras zu benutzen. Auf diese Weise fühlten sich die Passanten in den Strassen, seinem bevorzugten Jagdrevier, nicht unwohl, wenn er sie in den Fokus nehme, bringt er seine Wahl lapidar auf den Punkt.


Welt im Fluss

Moriyama beschreibt sich als einen rastlosen Spaziergänger. Am liebsten macht er Schnappschüsse während des Gehens. Dann sei alles in Bewegung, er selbst und die Welt um ihn herum. Das erinnert an die fliessende Welt des japanischen Holzschnitts – dieser bildlichen Vergegenwärtigung des schillernden, rauschenden und ebenso geschäftigen wie ephemeren Treibens im alten Tokio. Es ist genau diese Welt, die Moriyama einfängt: bloss nicht in bunten und zarten Farbdrucken wie einst, sondern in harten, seiner Zeit entsprechenden Kontrasten von Schwarz und Weiss.

Sein berühmtestes Bild ist die Aufnahme eines Strassenhunds, der den Kopf zum Fotografen wendet und diesen argwöhnisch in den Blick nimmt. Wie so viele Aufnahmen von Moriyama war auch dieses Bild ein Glücksfall. Ganz zufällig geriet ihm der streunende Hund vor die Linse.

Bei seinen Streifzügen sieht sich Moriyama selbst ein bisschen wie ein Strassenhund, «weil ich auch die kleinen Gassen und Hinterhöfe aufspüre, nachdem ich auf den Boulevards herumgeschlendert bin».

Und ein Freund erinnert sich nach einer New-York-Reise: «Ich konnte nicht umhin, die Art und Weise zu bewundern, wie er immer wieder zu denselben Strassen zurückkehrte, die wir bereits gegangen waren, und ganz nebenbei zum tausendsten Mal auf den Auslöser drückte. Fast wie ein Hund, der an Telefonmasten pinkelt; als hätte er sich vorgenommen, überall seine Markierung zu hinterlassen.»

Schon oft wurde Moriyama mit seinem berühmten streunenden Hund verglichen – er selber betrachtet dies als eine Ehre. Die Japaner hätten eine bestimmte Vorstellung von einem Zuhause als dem Ort, an dem man geboren werde, aufwachse und sein Leben lebe: «Ich aber habe kein solches Zuhause», sagt Moriyama. Er sei in der Kindheit viel umgezogen. Sein Zuhause seien seine Bilder, bestehend aus Obsessionen und Kindheitserinnerungen.

Und wenn er von Freunden und Kunstkritikern gefragt werde, ob das ewige Herumwandern nicht irgendwann langweilig werde, versichert er ihnen, dass er sich nie langweile. Viele glaubten, man mache seine besten Bilder in den Zwanzigern und Dreissigern seines Lebens. Moriyama, der am 10. Oktober 86 Jahre alt wird, entgegnet, er selber könnte eine Stadt nie mit den Augen eines alten Mannes sehen.

Qualität und Intensität des Begehrens änderten sich zwar mit dem Alter. Das Begehren selber aber bleibe. «Und Fotografie ist der Ausdruck dieses Begehrens.» So sieht es Daido Moriyama. Und davon sprechen seine Bilder, die während seiner langen Karriere als streunender Strassenfotograf entstanden sind.

«Daido Moriyama. Eine Retrospektive», Photo Elysée, Lausanne, bis 23. Februar 2025. Katalog Fr. 69.–.

Exit mobile version