In «Notstand» erkennt ein Mädchen allmählich, wie der Alltag im nordenglischen Dorf mit globalen Warenketten und dem Klimawandel verknüpft ist. Doch die Bedrohung allen Lebens breitet sich ungestört weiter aus.

Der Laster im Steinbruch zieht eine schwarze Rauchwolke hinter sich her. In der Schule wird der Naturkundetisch durch einen Computer ersetzt. Im Sommer vergiften Pflanzenschutzmittel die Luft. Alles Lebendige ist in ständiger Gefahr, wird vertrieben, abgetötet.

So erinnert sich die Erzählerin in «Notstand» an ihre Kindheit in den 1990er Jahren im ländlichen Yorkshire, Nordengland. Eigentlich ein einfaches Leben inmitten von Pflanzen und Tieren. Doch eine drastische Aggression durchdringt den Roman der britischen Autorin Daisy Hildyard. Die Bedrohung der Umwelt durch den Menschen spielt sich in der Vergangenheit ab, liest sich aber bedrückend aktuell.

Hildyard hantiert mit einem Vergrösserungsglas, hält es mal hierhin, mal da drauf. Aus der Perspektive des Mädchens beobachtet man am Rande des Steinbruchs einen Turmfalken, der eine Feldmaus beäugt: Sie sieht «Ohren wie Eichelhütchen», «fadendünne Schnurrbarthaare». Enzyme zersetzen einen morschen Hexenbaum, Moose spriessen «plüschartig», «smaragdgrün und schwarz wie Algen». Es sind bildgewaltige Bruchstücke, allesamt willkürliche Informationen, die über den Leser wie über das Mädchen hereinbrechen.

Fast möchte man in diese Idylle flüchten. Doch der Traum vom harmonischen Leben auf dem Land wird gestört. Reihenhäuser werden auf Felder gepflanzt, der Traktor zertrümmert Nester in der Spurrinne, im Wald lebt ein Obdachloser, die Freundin stirbt an Krebs.

Betroffenheit signalisieren

Währenddessen steht die Gegenwart still. Dem Landleben aus der Kindheit stellt Hildyard die heute korrupte, komplexe, verschmutzte Stadt gegenüber. Die Erzählerin hat sich in ihren vier Wänden vor der Pandemie verschanzt. «Die Behörden sagen, dass die Welt auf fatale Weise vernetzt ist und dass es am sichersten ist, drinnen zu sein, allein mit meinen Gedanken.»

Es ist eine Zeit, in der Engpässe in der Versorgungskette die globale Verflechtung verdeutlichen und in der die Nachrichten voller Geschichten sind über ein Ökosystem, das sich in Abwesenheit der Menschen erholen soll. «Unterdessen wandern Plastikpartikel, die ich als Kind öffnete, durch die Körper frisch geschlüpfter Vögel», sagt die Erzählerin.

Der titelgebende Notstand ist leise und vielfältig. Der kaputte Rauchmelder in der Wohnung der Erzählerin klickt und klickt und klickt. Dass das Feuer tatsächlich ausbrechen würde, damit hat sie nicht gerechnet. Die Warnzeichen sind zum vertrauten Hintergrundgeräusch verkommen.

Hildyard stellt den Klimawandel als Folge einer Art kollektiver Kurzsichtigkeit dar. Die Menschen tun sich schwer damit, den eigenen Alltag mit wissenschaftlichen Befunden über den globalen Klimawandel in Verbindung zu setzen.

Ihre eigene Kurzsichtigkeit zeigte sich, als 2016 ihr Haus in Yorkshire überschwemmt wurde. Das Wasser des Flusses stand hoch bis zu den Zimmerdecken. Im Fernsehen sah sie später Luftaufnahmen der Strasse. «Die Flut hat sehr klein ausgesehen, doch um mein Haus herum war sie tatsächlich überall», schreibt Hildyard in ihrem Essay «The Second Body».

Ihrer Familie wurde eine Entschädigung zugesprochen, sie verwendete sie für einen Billigflug auf eine Mittelmeerinsel. Hildyard schreibt dazu einen Satz, der für viele Menschen zutreffen dürfte: «Technisch gesehen glaube ich an den Klimawandel, aber ich tue nicht so, als ob ich es täte.»

Mit «Notstand», ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman, legt sie den Menschen eine Neuorientierung nahe. Und trichtert dem Leser sowohl den umfassenden Panoramablick als auch die mikroskopische Nahsicht ein.

Scharfstellen des Suchers

Hildyard ist Wissenschaftshistorikerin, ihre Sprache ist sachlich, beschreibend, aufmerksam. Sie habe immer noch dieses tiefe Gefühl, das aus ihrer Kindheit stamme, dass man nichts verschwenden sollte, vor allem keine Worte, schreibt sie in «The Second Body».

Wer die mäandernden Naturbeschreibungen aber liest, entdeckt überall, ja überbordend viele, Linien, Fäden, Ketten: ein «undurchsichtiges Gewirr» von Zweigen, «Schlangennester aus Drähten», «Strähnen in einem gelockten Zopf». Das Mädchen läuft durch Wald, Felder, Häuser, «als wäre ich ein Teil der Infrastruktur». Das ist lästig. Doch es dient dem Zweck der Sache, der Wahrnehmung, dass alles verbunden ist.

Plötzlich wird einem bewusst, wie narzisstisch oft sich der Mensch ins Zentrum von Erzählungen drängt. Nur hier nicht. Der Körper der namenlosen Protagonistin «bebte wie ein Stamm im Wind», die Blätter einer Blutbuche «raschelten wie pflaumenfarbene alte Kleider», die Kuh Ivy hat «katzenartige Augen», wagt sich auf «die Menschenseite des Futtertrogs». Es entsteht ein Verständnis von Verwandtschaft, Gleichheit und Wechselbeziehung. Und das schafft Verantwortlichkeit.

Das Netz der Bananenspinne spinnt Verbindungen zwischen der Plantage in Nicaragua, dem Frachtcontainer, dem Dorfladen, dem Kind, das die Banane mitsamt der Spinne aus einer Tasche auf dem Küchentisch zieht. Was der Leser mit der kindlich naiven Perspektive des Mädchens in losen Momentaufnahmen sieht, reflektiert und moderiert die erwachsene Erzählerin und zieht damit die Fluchtlinie.

Das schärft die Wahrnehmung, filtert und rahmt sie ein, «wie das Scharfstellen des Suchers in der Kamera». Wer den Roman liest, taucht ein in die Natur, und sich Zeit für die Natur zu nehmen, bedeutet, sie zu sehen. Die Herausforderung liegt darin, dass man sich auf die stromartige Sprache einlässt. Sonst bleiben die Verbindungen zwischen Mensch, Tier und Natur, die heute «durch Gewohnheit oder tief verwurzelte Abhängigkeit» übersehen werden, unscharf.

Daisy Hildyard: Notstand. Roman. Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Suhrkamp, Berlin 2024. 237 S., Fr. 37.90.

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