Freitag, Dezember 27

Lucas und Estefania Artini haben ihr gesamtes Eigentum verkauft und sind in einem Oldtimer unterwegs, auf dem das Leben von Diego Maradona verewigt ist. Ihr grosser Traum: einmal durch Neapel fahren.

Kaum ist der Bus vor dem weltberühmten Obelisken in Buenos Aires parkiert, feiern ihn schon Hunderte Anhänger von Diego Maradona mit lauten Sprechchören. Es ist der vierte Todestag der argentinischen Fussball-Legende, und Lucas und Estefania Artini haben gerade den optischen Höhepunkt des Tages vor den Obelisken gefahren.

Das «Maradona-Mobil» ist eine Hommage an den Volkshelden. Über dem Steuer hängt eine Art Heiligenbildchen der «Hand Gottes». Jeder Zentimeter der Aussenhaut des Mercedes-Busses, der aus dem Jahr 1961 stammt, ist mit einer Szene aus Maradonas Leben geschmückt. Bilder, die ihn als jungen Kicker zeigen, als Trainer von Lionel Messi. Vor allem aber seine Zeit als Kapitän der argentinischen Nationalmannschaft und der SSC Neapel. Das Fahrzeug ist ein Kunstwerk für sich. Und es ist seit ein paar Jahren das Zuhause von Lucas und Estefania Artini und ihren beiden Kindern.

«Unsere Reise ist ein Gedenken», sagt der 37-jährige Lucas Artini. Angefangen hat sie 2021, nach der Pandemie. Nach der Zeit des Eingesperrtseins drängte es die Familie hinaus in die Welt. «Unsere Idee war und ist es bis heute, das Bild von Maradona um die Welt zu tragen, damit es weiterhin in Erinnerung bleibt. An jedem Ort, an dem wir sind. In jedem Dorf, jeder Stadt, jedem Land. Damit man sich immer an Maradona erinnert, damit man über ihn spricht.» Und der grosse Traum, sagt Artini, sei es, nach Italien zu gelangen, nach Neapel, in die Stadt, in der Maradona so verehrt wird.

Als sie beschlossen hatte, auf Reisen zu gehen, verkaufte die Familie Artini ihr kleines Textilgeschäft im Städtchen Mercedes in der Provinz Buenos Aires und schaffte den Oldtimer an. Seither sind die Artinis unterwegs. In einem Bus, der so detailversessen das Leben ihres Idols nachzeichnet, dass jeder Blick des Betrachters ein Stück Diego Maradona einfängt. Und dann beginnt die Reise im Kopf. Wann war das und wo?

Als die Artinis loszogen, hatten sie noch ihre Ersparnisse, doch dann streikte der Motor ihres Oldtimers, in Brasilien zuerst, dann in Uruguay. Der zweite Motor kostete sie ihr letztes Geld. Danach, so Lucas Artini, hätten sie verstanden, dass es keine festen Termine mehr gebe, sondern nur noch Wünsche, wie es laufen könnte. «Dass man Ausdauer braucht und dass alles kommt, wenn man es mit Liebe und Demut tut», sagt Artini.

Im Bus wird geschlafen, gestritten und gelernt

Seit dem zweiten Motorschaden sind die Artinis Handelsreisende, wie Handwerker auf der Walz. «Tag für Tag arbeiten wir, malen, arbeiten im Badesalon oder auf der Baustelle. Was auch immer nötig ist, um unseren Traum von diesem Leben aufrechtzuerhalten», sagt Artini. Die Kinder werden im Bus unterrichtet. In ihm wird geschlafen, gegessen, gestritten, geliebt und natürlich auch gefahren.

In den sozialen Netzwerken posten sie Fotos und Clips von ihrer Reise. Von einem Überfall, bei dem Kabel und die Autobatterie über Nacht verschwanden. Von den Begegnungen mit den Menschen, die sie treffen. Von der Herzlichkeit, die sie erfahren. Der Zuneigung. Und auch der Bewunderung dafür, den Alltag hinter sich gelassen und ein Abenteuer gewagt zu haben. Gelegentlich gibt es auch eine kleine Spende.

Längst hat der Kult um Maradona in Argentinien religiöse Züge angenommen. Die Kritik an seinem Lebenswandel prallt an den Argentiniern ab. Die Nähe zu brutalen Linksdiktaturen in Lateinamerika, von denen er sich auch bezahlen liess und die wegschauten, wenn er im Drogenrausch bei Besuchen in Venezuela oder Kuba wieder einmal alle Grenzen, auch die gesetzlichen, übertrat. Weil sie um seine Wirkung auf die Menschen wussten und er ihnen eine Volksnähe verlieh, die sie längst verloren hatten.

An der WM 1986 in Mexiko erzielte Maradona sein legendäres Hands-Tor. In der Heimat machte es ihn endgültig zum Volkshelden, im Vereinigten Königreich zeitweise zur meistgehassten Figur.

Es war der Moment, der den Fussballer Maradona in eine spirituelle Grösse verwandelte. Weil er sich auf die Hand Gottes berief, die dieses Tor erzielt habe. Weil er die Kolonialmacht England bezwang und damit die Schmach des verlorenen Falklandkrieges rächte. Innerhalb von drei Minuten sahen die Menschen zwei Tore – das Hands-Tor zuerst, dann den unvergesslichen Sololauf – und auch die zwei Gesichter von Diego Maradona: der geniale Spieler, der aber die Regeln nie akzeptierte. Das 2:0 über England im Viertelfinale war das Spiel seines Lebens.

«Maradona gab vielen Menschen eine Stimme»

«Ich denke, dass Maradona, der aus so kleinen und armen Verhältnissen kam und so bescheiden war, nie seine Wurzeln vergessen hat», sagt Lucas Artini. «Und er war die Stimme der Spieler, die Stimme des Volkes, das keine Stimme hatte. Er gab einfach vielen Menschen eine Stimme, indem er immer sein Land verteidigte.»

Rational ist die Wirkung Maradonas nicht zu erklären, aber nirgendwo auf der Welt ist der Fussball so emotional und irrational wie in Argentinien. Wo es von Fussballern, die Aussergewöhnliches geleistet haben, wie dem WM-Torhüter Emiliano «Dibu» Martínez, Heiligenbildchen zu kaufen gibt. Wo arme Argentinier vor einem Bild Maradonas niederknien, um zu beten. So etwas gibt es sonst wohl nur noch in Neapel. Und genau da wollen die Artinis in den nächsten Jahren hin. Irgendwie.

Natürlich hat auch die Familie Maradonas von diesem besonderen Bus gehört und der Familie, die sich in ihm auf eine Abenteuerreise begeben hat. An Maradonas Geburtstag hat man sich getroffen. Maradonas Ex-Frau Claudia, die Tochter Gianinna und sein Enkel Benjamin. «Wir haben ihnen gesagt, dass Diego uns immer mit viel Respekt und Liebe begleitet», sagt Lucas Artini.

Im nächsten Jahr sollen die sterblichen Überreste von Diego Maradona in ein Mausoleum im Nobel-Stadtteil Puerto Madero übergeführt werden. Nur einen Steinwurf vom Präsidentenpalast Casa Rosada entfernt. Bisher lag er auf dem Friedhof Bella Vista, wo der Zugang nur mit einer Genehmigung möglich war. Dass er in das Mausoleum M10 im Herzen von Buenos Aires kommt, ist der ausdrückliche Wunsch der Töchter Dalma und Gianinna Maradona. Eine Familie, die es auf jeden Fall besuchen wird, ist die von Lucas und Estefania Artini.

Exit mobile version