Der EM-Achtelfinal definiert die Ära des Nationaltrainers Murat Yakin. Auf diese Fussballer kommt es am Samstagabend in Berlin an.

«Spiel des Jahres»: Mit dieser Schlagzeile kündigte eine Zeitung am vergangenen Sonntag die dritte EM-Partie der Schweizer Fussballer gegen Deutschland an.

Die NZZ schrieb damals, das «Spiel des Jahres» komme für die Schweizer an dieser Europameisterschaft erst noch. Vielleicht im Achtelfinal, vielleicht später, vielleicht wird es sogar ein Spiel für die Ewigkeit sein.

Angesichts der Superlativen rund um die Schweizer Nationalmannschaft kan einem dieser Tage recht schwindlig werden. Darum erst mal der nüchterne Ausblick: Samstag, 18 Uhr, Olympiastadion in Berlin, EM-Achtelfinal zwischen der Schweiz und Italien. Nach dem Schweizer Selbstverständnis soll es ein Zwischenschritt sein auf dem Weg zu einem historischen Triumph.

Das Selbstbewusstsein von Granit Xhaka, die mutige Denkweise des Captains und das Streben nach maximalem Erfolg haben sich auf die Mannschaft übertragen. In dieser Woche sagte der junge und reflektierte Mittelfeldspieler Fabian Rieder, keineswegs als Grossmaul bekannt: «Man darf Italien nicht unterschätzen.» Die Aussage war bestimmt gut gemeint, doch losgelöst vom Kontext, dass Italien Europameister und immer stark sei, wirkte es seltsam entrückt.

Eine Tableauhälfte wie geschaffen für die Italiener

Die Ebenen und Bezüge verschieben sich, hier und dort wird die Schweiz im EM-Achtelfinal sogar als Favorit angesehen. Gegen den Titelverteidiger. Gegen den vierfachen Weltmeister und zweifachen Europameister. Gegen die bedeutende Fussballnation Italien. Zur Einordnung: Die Schweiz hat an einer WM nur 1934 und 1938 ein K.-o.-Spiel gewonnen, an einer EM sogar erst einmal – vor drei Jahren im Achtelfinal gegen Frankreich im Elfmeterschiessen.

Die Schweiz der Favorit? Kann man so sehen, muss man nicht verstehen. Klare Aussenseiter sind die Schweizer nach den Eindrücken aus der Vorrunde gewiss nicht. Und träumen ist erlaubt. Dazu verführt die deutlich schwächer besetzte Tableauhälfte, die zugleich auch wie geschaffen scheint für einen unerwarteten Durchmarsch der Italiener nach durchzogener Vorrunde. Wie 1982, wie 2006, wie 2021, bei den letzten Titelgewinnen an Welt- und Europameisterschaften.

Unbestritten ist: Am Samstagabend wartet wieder ein grosses Spiel auf die Schweizer Nationalmannschaft und diese ambitionierte Generation. Der Goalie Yann Sommer, die Verteidiger Ricardo Rodriguez, Manuel Akanji und Fabian Schär, die zentralen Mittelfeldspieler Xhaka und Remo Freuler absolvieren womöglich die letzte Endrunde zusammen – sie sind an dieser EM fokussiert und stabil, diszipliniert und routiniert. Ein 1:6 mit einer schiefen Aufstellung wie vor eineinhalb Jahren im WM-Achtelfinal gegen Portugal in Doha scheint unvorstellbar.

Der Schweizer Nationaltrainer Murat Yakin präsentiert sich an dieser Europameisterschaft bisher in guter Form. Die Matchpläne gingen auf, das Auftreten ist souverän und sein Standing so hoch wie nie; die Probleme vom letzten Herbst sind weit weg. Doch der Achtelfinal gegen Italien definiert Yakins Ära als Nationalcoach seit 2021. Achtelfinals erreichen kann die Schweiz. Kann sie mehr? Kann Yakin mehr? Oder überreizt er am Samstag sein Blatt im Aufstellungspoker?

Rechts im Aufbau fehlt Silvan Widmer gesperrt. Ersetzt ihn tatsächlich Leonidas Stergiou, der auf dieser Position im Mittelfeld noch nie gespielt hat? Yakin hat einige Optionen, keine überzeugt auf den ersten Blick restlos. Vielleicht spielt Rieder rechts, weil Rieder überall spielen kann. Vielleicht wird Michel Aebischer auf rechts gezogen, weil Aebischer überall spielen kann. Dann würde Ruben Vargas eine Reihe nach hinten rücken. Oder Dan Ndoye, der bisher auffälligste Schweizer Spieler dieser EM.

Das Bonmot von Murat Yakin vor diesem Turnier, man könne den Stürmer Breel Embolo nicht klonen, gilt mittlerweile vor allem für Ndoye. Er ist mit seiner Geschwindigkeit, den Tempoläufen und der Widerstandsfähigkeit wertvoll im Angriff wie im Mittelfeld.

Und Xherdan Shaqiri? Wieder nur Joker?

Wäre Ndoye ein Engländer und würde Bukayo Saka heissen, wäre er vielleicht irgendwann auch 140 Millionen Franken Wert wie der Arsenal-Flügelspieler. Vorerst sind für den 23-jährigen Schweizer auf einschlägigen Portalen 10 Prozent davon veranschlagt – doch Ndoye wird wohl bald für deutlich mehr als 14 Millionen Franken den Verein wechseln. Inter Mailand? Manchester United? Juventus?

Dan Ndoyes starker Auftritt zuletzt auch beim 1:1 gegen Deutschland, sein Tor und vor allem, wie er dem Real-Madrid-Verteidiger Antonio Rüdiger in einer Szene kraftvoll davonlief, haben seinen Marktwert in die Höhe katapultiert. Auch die italienischen Gazetten schwärmen vom Bologna-Spieler, der zu den schnellsten Fussballern der Endrunde gehört. Was macht das mit Ndoye? Wie geht er mit dem Hype um? Und vor allem: Wird es ihm gegen Italien gelingen, sein zuweilen schludriges Passspiel zu verbessern und im Abschluss erneut kaltblütig zu sein?

Ndoye kann am Samstagabend der Schweizer Schlüsselspieler sein. Ganz bestimmt wird es auf Yann Sommer ankommen, auch er ist in Italien engagiert. Der Inter-Torhüter stand an dieser EM noch wenig im Fokus. Der Abwehrchef Akanji und der Captain Xhaka sind die weiteren Schweizer Stützen. Im Sturmzentrum spielten bisher Kwadwo Duah, Xherdan Shaqiri und Breel Embolo – gegen Italien könnte Embolo in der Startformation stehen. Und Shaqiri? Ist er erneut nur Joker?

Sommer, Akanji, Xhaka, Ndoye – sie werden das Nationalteam gegen Italien führen müssen. Jeder auf seine Art. Sie und die weiteren Schweizer haben sich dieses grosse Spiel gegen den Nachbarn Italien verdient.

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