Sonntag, November 24

Auf seinem neuen Album «My American Story. North» erkundet der Pianist Daniil Trifonov die Klanglandschaften Nordamerikas. Ein Gespräch über Heimatgefühle, den Rhythmus der U-Bahn und die Ernsthaftigkeit des Jazz.

Wie klingt ein Land, wie gar ein Kontinent? Und hallt die kulturelle Identität tatsächlich wider in den Harmonien und Rhythmen, die Komponisten desselben Landstrichs erschaffen haben? Diesen Fragen spürt derzeit Daniil Trifonov nach – der russische Pianist ist seit längerem in Amerika beheimatet. «Ich wollte die Musik dieses Landes erkunden», erzählt er. Sein neues Album hat er «My American Story. North» getauft. Es ist der erste Teil eines zweiteiligen Projekts, das mit einem Tribut an die Musik Lateinamerikas fortgeführt werden soll. Dass das Album kurz vor der US-Wahl herauskam, ist Zufall – entsprechende Nachfragen verlaufen ins Leere. Stattdessen möchte Trifonov über Musik reden, insbesondere jene Werke, die Anfang des 20. Jahrhunderts zum Soundtrack Amerikas wurden.

«Die Musik auf dem Album hat einen sehr klaren Ursprung», sagt Trifonov. Selbst wenn man keine Ahnung hätte, wer die Stücke geschrieben habe, würde man wissen, woher diese Musik komme. «Ich mag das sehr an Musik: dass sie eine bestimmte kulturelle Identität widerspiegelt und nicht nur für sich selbst existiert, sondern beeinflusst ist durch all die Dinge herum, die Landschaft, die Historie und die sonstige Kultur.» Mit dem oft zitierten «Schmelztiegel-Vergleich» kann er dagegen wenig anfangen; Identität gleiche vielmehr einer musikalischen Sprache, die ähnliche Grundmuster verwende und doch in jeder Komposition anders erklinge.

Erdig und kraftvoll

Trifonov, der seine Kindheit und Jugend in Russland verbrachte, ging 2009 nach Amerika zum Studium bei Sergei Babayan am Cleveland Institute of Music. Rückblickend bezeichnet er die Jahre in Ohio als extrem produktive, intensive Zeit, in der er auch viele Komponisten kennenlernte und die amerikanische Musik für sich entdeckte. Zum Beispiel die Kunst Art Tatums, dessen unaufgeregter Flow ihn von Beginn an faszinierte. Seit acht Jahren lebt der Pianist nun nahe New York. Von «Heimat» möchte er gleichwohl nicht sprechen – diese spüre er, mittlerweile auch Vater geworden, nur bei seiner Familie, unabhängig vom jeweiligen Ort.

Im Zentrum von Trifonovs pianistischer Amerika-Reise stehen zwei Grosswerke für Klavier und Orchester, die er mit dem Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin eingespielt hat. Mit George Gershwins Klavierkonzert erobert Trifonov ein Kultstück der amerikanischen Musik für sich, und sosehr der Komponist selbst einst um jede Phrase rang und akribisch an den Sätzen feilte, so ernsthaft und detailversessen geht auch Trifonov ans Werk.

Der Schalk und die tänzelnde Verspieltheit, die manche andere Interpretationen bestimmen, treten bei Trifonov in den Hintergrund. Stattdessen durchdringt er Gershwins Konzert mit einem erdigen, kraftvoll vibrierenden Grundgestus und überragender Technik in den virtuosen Passagen. Für Trifonov ist Gershwins Monumentum ein «phantastisches, sehr herausforderndes Stück» und nur scheinbar episodenhaft. «Gerade der erste Satz wirkt oft so, als ob er aus lauter verschiedenen Themen bestehen würde, aber sie sind alle in Beziehung zueinander und kunstvolle Variationen des ersten Themas.» Formal spannend empfindet er auch den zweiten Satz mit seinem lyrischen Einstieg, bevor das Finale als Rondo jubelnd das Konzert beschliesst. «Das ganze Stück trägt den Jazz in sich», sagt Trifonov, man erlebe hier eine ganz andere Art der Phrasierung und Technik im Vergleich zu den vorherigen Epochen.

Gershwins Werk steht eine echte Entdeckung gegenüber: das eigens für Trifonov komponierte Klavierkonzert des Amerikaners Mason Bates, dessen Uraufführung in Philadelphia auf dem Album dokumentiert ist. Das Stück ist ein klingendes Zeugnis der Lebensfreude, perkussiv und schillernd in der Tonsprache und voller Humor. Für Trifonov gleicht der erste Satz einer «Hommage an die Renaissance», während der zweite Satz in romantischer Tradition den innigen Dialog zwischen Solist und Orchester zelebriert. Der dritte Satz beschliesst das Konzert als furioses und dicht komponiertes Finale, das Anklänge an Minimal Music ebenso integriert wie Filmmusik-Sequenzen und jazzige Episoden.

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Feldforschung

Ohne den Jazz wäre die amerikanische Klangkultur nicht dieselbe, und so ist Trifonovs Beschäftigung mit dem Sound Amerikas auch zu einer Auseinandersetzung mit dem Jazz geworden. Zwischen Gershwin und Bates platziert er unter anderem seine eigenen Transkriptionen von Art Tatums «I Cover the Waterfront» und Bill Evans’ Fassung von «When I Fall in Love». Was hier im Ergebnis so mitreissend groovt und vor beiläufigem Understatement strotzt, war laut Trifonov harte Arbeit. «Es gibt im Jazz viel weniger Akzente, kaum Crescendos oder Verzögerungen», sagt Trifonov, vielmehr folge die Musik einer klaren Linie. Und auch dann, wenn es einzelne Phrasen gäbe, dürften diese nie den Grund-Flow unterbrechen.

Um dem Groove der jazzigen Stücke möglichst gerecht zu werden, hat sich Trifonov während des Übeprozesses selbst analysiert. «Das war ein ständiges Vor und Zurück. Ich habe gespielt, mich dabei aufgenommen, die Aufnahme angehört und versucht, daraus zu lernen», erzählt der Pianist. Nach und nach habe er dabei gemerkt, «wie es klingen soll und wie sich das in den Händen anfühlt». Der improvisatorische Charakter eines Stückes wie «I cover the Waterfront» sei angesichts dieser unermüdlichen Detailarbeit nur Schein. Stattdessen handele es sich um ein Stück «von mathematischer Exaktheit und subtil durchscheinender Logik».

Daniil Trifonov, dem expressiven Denker und Perfektionisten an den Tasten, entspricht dieser Anspruch. Für das letzte Stück das Albums aber hat er die Noten beiseitegelegt, das Klavier verlassen und Feldforschung betrieben. Man hört: das Rattern der U-Bahn, Stimmengewirr, das Schliessen von Türen, Lautsprecherdurchsagen, lachende Kinder. Es ist Trifonovs ganz eigene Version von John Cages Stück «4’33». Doch statt 4 Minuten und 33 Sekunden Stille erklingt hier der Sound des amerikanischen Grossstadtalltags.

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