Wo früher Lokomotiven gefertigt wurden, wohnen bald Zürcherinnen und Zürcher.
Als Peter Ritschard in den frühen 1960er Jahren bei der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) in die Lehre geht, herrscht dort reger Betrieb. Mehr als 3000 Arbeiter sind auf dem annähernd 100 000 Quadratmeter grossen Areal beim Bahnhof Oerlikon beschäftigt. Sie produzieren Lokomotiven, Grosstransformatoren, Elektromotoren und Generatoren für Wasserkraftwerke.
Die MFO ist ein angesehenes und traditionsreiches Schweizer Unternehmen – einst gehörte sie gar zu den grössten Arbeitgebern im Kanton. Es ist ein guter Ort, um eine Ausbildung zu absolvieren, denkt sich Peter Ritschard. Doch bald stellt sich heraus: Die Maschinenfabrik ist dem Untergang geweiht.
Während seiner kaufmännischen Lehre erlebt Ritschard turbulente Jahre. Die Direktion akquiriert mehr und mehr Aufträge, die die Produktion gar nicht umsetzen kann. 1967 wird die MFO schliesslich von der Konkurrentin Brown, Boveri & Cie. aus Baden übernommen.
Die ohnehin angeschlagene Schweizer Industrie verliert damit eines ihrer Aushängeschilder – und 500 Arbeitsplätze. Es ist aber auch das Ende eines wichtigen Kapitels der Zürcher Geschichte, wie der spätere Kantonsrat und heutige Pensionär Peter Ritschard in einem neuen, aussergewöhnlich detailliert recherchierten Buch nachzeichnet.
Der Zeitpunkt von Ritschards Publikation ist günstig: Am Donnerstag hat Stadtpräsidentin Corine Mauch (SP) bekanntgegeben, dass die Stadt Zürich einen Teil des MFO-Areals zu einem Preis von 106 Millionen Franken von der ABB übernommen hat. Zusammen mit dem Hochbauvorsteher André Odermatt (SP) und dem Finanzvorsteher Daniel Leupi (Grüne) präsentierte sie die Pläne, nach denen sich das Quartier in Zukunft entwickeln soll.
Wohnen inmitten einstiger Industriehallen
Auf einer 25 000 Quadratmeter grossen Fläche im Westen der ehemaligen Industrieanlage entsteht demnach ein neues Stadtquartier. Geplant sind 220 städtische Wohnungen, Gewerbeflächen, ein Park sowie ein Kulturzentrum.
Die Planungsverfahren und die Architekturwettbewerbe sollen schon 2031 abgeschlossen sein. Gelingt dies, sind die Wohnungen ab 2034 bezugsbereit.
Als die Stadt Zürich Ende der 1990er Jahre erstmals mit der Landbesitzerin ABB in Kontakt stand, war ein Schutz der alten Industriegebäude noch kein Thema. Der ABB, der indirekten Rechtsnachfolgerin der MFO, lag ihr Erbe jedoch am Herzen.
Deshalb werden die Neubauten nun so geplant, dass sie sich in den Kontext der historischen Gebäude einfügen und mit ihnen in einen städtebaulichen Dialog treten. Dadurch bleibe der ursprüngliche Charakter des Quartiers erhalten und das Andenken an die industrielle Vergangenheit von Oerlikon bewahrt, sagte Nora Teuwsen, die Vorsitzende der Geschäftsleitung von ABB Schweiz.
Bis mit den Bauarbeiten begonnen werden kann, werden die Flächen der einstigen Maschinenfabrik von Non-Profit-Organisationen zwischengenutzt. Dabei handelt es sich unter anderem um Game-Designer, Glasbläser oder um experimentelle Veranstalter.
Der Ingenieur aus der Seidendynastie
Dass das einstige Bauerndorf Oerlikon einmal zu einem lebendigen Teil der Grossstadt Zürich werden würde, darauf deutete noch Mitte des 19. Jahrhunderts kaum etwas hin.
Doch dann ermöglichte eine kolossale Fehleinschätzung der Schwamendinger Regierung Oerlikons Aufstieg zur Industriemetropole. Wie dieser Aufstieg gelungen ist, legt Peter Ritschard in seinem Buch eindrücklich dar.
Um 1855 plant Alfred Escher, in der Vogtei Schwamendingen einen Bahnhof für seine Nordostbahn zu errichten. Doch in Schwamendingen glaubt man nicht an die neumodische Eisenbahn. Als zudem die Fuhrhalter gegen das Vorhaben opponieren, erteilt man Escher eine Absage.
Dieser verlegt den Startpunkt der Linie in Richtung Romanshorn nach Oerlikon. Zu jener Zeit ist der heutige Stadtkreis 11 ein sumpfiger, kaum besiedelter Landstrich. In einem Dokument des Regierungsrats ist gar von einer «einsamen, abgelegenen Gegend» die Rede.
Doch die neuen Direktverbindungen nach Winterthur, in die Ostschweiz und die ganze Welt bedeuten für Oerlikon einen enormen Standortvorteil. Peter Emil Huber-Werdmüller erkennt das und hegt schon bald grosse Pläne für das Bauerndorf.
Huber-Werdmüllers Vorfahren haben mit Textilien ein Vermögen erwirtschaftet, er aber sieht in dem Gewerbe keine Zukunft mehr. Deshalb studiert er an der ETH Maschinenbau und geht bei Sulzer in Winterthur und bei Escher Wyss in Zürich in die Lehre.
Als er schliesslich alle Facetten seines Metiers beherrscht, gründet Huber-Werdmüller 1876 sein eigenes Unternehmen. Damit dem Wachstum seiner Maschinenfabrik Oerlikon nichts im Weg stehe, kauft er sämtliches Land nördlich des Bahnhofs.
Dass er das ausladende Verwaltungsgebäude seiner MFO unmittelbar neben die Gleise platziert, ist dabei kein Zufall: Eisenbahn und Industrie gehören für ihn zusammen.
Kleiner, aber innovativer als die Konkurrenz
In den Fabrikhallen lässt er Apparate für die nun überall in der Schweiz entstehenden Wasserkraftwerke bauen. Es handelt sich um teure und überaus aufwendige Einzelanfertigungen: Normierung und Standardisierung sind in der Industrie jener Zeiten noch Fremdwörter.
Doch die MFO hat Erfolg: Zwanzig Jahre nach ihrer Gründung beschäftigt sie schon mehr als 1200 Arbeiter. Bis zum Ende des Jahrhunderts gehört sie im Bereich der Elektrotechnik zu den führenden Unternehmen Europas.
Huber-Werdmüller macht nicht nur seinen einstigen Lehrbetrieben in der Schweiz Konkurrenz, sondern auch AEG und Siemens in Deutschland. Seine MFO ist zwar viel kleiner, aber sie ist ihrer Zeit voraus.
Es sind Ingenieure aus Oerlikon, denen es 1891 zum ersten Mal gelingt, Starkstrom über die 175 Kilometer von Lauffen am Neckar nach Frankfurt am Main zu übertragen. Später ist man bei der Elektrifizierung der Eisenbahn ganz vorne mit dabei.
Zu jener Zeit ist Oerlikon eine unabhängige Stadt: Dank der Innovationskraft der MFO steht sie schon bald davor, zur drittgrössten des Kantons Zürich zu werden. Und ab 1897 hat sie sogar eine eigene Strassenbahn, die alle drei Minuten zum Zürcher Central fährt.
Finanziert und gebaut wird das Tram – natürlich – von der MFO, bei der zeitweise zwei Drittel aller Oerliker angestellt sind. Doch ihre erfolgreichsten Jahre stehen der Firma erst noch bevor.
Ein stählernes Krokodil erobert den Gotthard
Nach dem Ersten Weltkrieg setzt die Schweiz auf eine rasche und umfassende Elektrifizierung ihres Eisenbahnnetzes. Da trumpfen die Oerliker so richtig auf: Ihre Lokomotive mit der Typenbezeichnung Ce 6/8 ist allen Konkurrenzprodukten überlegen.
Das als «Krokodil» berühmt gewordene, 128 Tonnen schwere Gefährt bewältigt die Steigung am Gotthard mit seinen mehr als 2200 Pferdestärken mühelos – auch mit angehängten Lasten von bis zu 300 Tonnen. Zwischen 1917 und 1926 bestellen die Bundesbahnen 51 «Krokodile» für Güterzug-Kompositionen und 88 weitere Loks für Güterzüge.
Weil die SBB neben Rollmaterial auch Strom benötigen, verdient die MFO doppelt: Für die Eisenbahn-Kraftwerke Ritom und Vernayaz liefert man einträgliche elektrische Anlagen.
Die MFO häuft in Form von Wertschriften ein Vermögen von fast zwanzig kumulierten Jahresgewinnen an. In Peter Ritschards Buch sind die finanziellen Verhältnisse und der buchhalterische Dilettantismus der MFO präzise dargelegt.
Doch dann kommen die Weltwirtschaftskrise der dreissiger Jahre und der Zweite Weltkrieg. Die MFO stürzt in eine Krise, von der sie sich nie mehr erholen wird.
Die Fabrik hat Schwierigkeiten, ihre Fertigungsqualität zu halten. Zudem wird sie bei grossen Aufträgen immer unpünktlicher, weil sie damit beschäftigt ist, mangelhafte Fabrikate zurückzunehmen und zu überarbeiten. Hinzu kommen gravierende Fehler im Management und eine starke Überalterung im Verwaltungsrat.
Anfang der 1960er Jahre, während Peter Ritschards Lehrjahre, erholt sich das Unternehmen etwas – und wird dadurch gerade rentabel genug, um für eine Übernahme interessant zu werden.
Die Ironie der Geschichte will es, dass mit Brown, Boveri & Cie. (BBC) ausgerechnet ein Unternehmen von ehemaligen MFO-Technikern nach Oerlikon kommt.
Oerlikon bleibt eine Industriemetropole
Im Jahr 1988 fusioniert die BBC ihrerseits mit der schwedischen Asea zur ABB und verlegt ihren Hauptsitz nach Zürich. Bis heute haben 500 Angestellte des Konzerns hier ihren Arbeitsplatz. Es sind 500 von insgesamt knapp 108 000 Angestellten, die das Unternehmen weltweit beschäftigt.
Für die ABB bleibt Oerlikon trotz der überschaubaren Grösse ein wichtiger Standort, wie die Schweiz-Chefin Nora Teuwsen am Donnerstag sagte.
Umso mehr sei man stolz, einen Beitrag zu einer zukunftsorientierten Weiterentwicklung dieses geschichtsträchtigen Stadtteils leisten zu können.
Peter Ritschard: «Das Ende einer Legende: Die Maschinenfabrik Oerlikon 1945–1967». Hier-und-Jetzt-Verlag, Zürich 2025. 232 S., Fr. 39.–.