Der abtretende Schweizer Impfchef redet offen darüber, was er im Rückblick anders machen würde: zum Beispiel bei der Impfung Jugendlicher. Das unterscheidet ihn von den meisten damaligen Verantwortungsträgern.
Es gab einmal eine Zeit, da wurde der Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (Ekif), Christoph Berger, mit einem persönlichen Hashtag bedacht: #bergermussweg. Der Leiter der Abteilung für Infektiologie und Spitalhygiene am Kinderspital Zürich musste sich dafür rechtfertigen, dass sein Expertengremium nur eine zurückhaltend formulierte Empfehlung für die Covid-Impfung von Kindern abgegeben hatte.
Dafür wurde Berger nicht nur von der damaligen«#protect-the-kids»-Fraktion in den sozialen Netzwerken scharf kritisiert, auch das Schweizer Fernsehen war empört. Bei einem Auftritt in der «Rundschau» musste sich der erfahrene Arzt vom Moderator alle Segnungen der Kinderimpfungen aufzählen lassen. Mindestens ein Impfappell wäre angebracht gewesen, tadelte der Journalist.
Wenige Monate zuvor war Berger in den Medien noch als Impfpapst bezeichnet worden, nun war er ein «Durchseucher». Berger trug es mit Fassung. Jedenfalls liess er sich gegen aussen nie etwas anmerken. Auch dann nicht, als er täglich wüsteste Bedrohungen und Beschimpfungen in seinem Postfach fand. Auch dann nicht, als er wegen seiner Bekanntheit entführt wurde. Der Kidnapper, ein glückloser deutscher Startup-Unternehmer, war davon ausgegangen, dass ein Schweizer Mediziner in der Position Bergers problemlos 300 000 Franken Lösegeld auftreiben könne.
Nun tritt Christoph Berger als Chef der Ekif zurück, und diese Gelegenheit nutzt er für eine selbstkritische Bilanz. In einem Interview mit der «Sonntags-Zeitung» erinnert er an die zunehmende Ungleichbehandlung von Geimpften und Ungeimpften während des zweiten Pandemiejahrs. Sein indirektes Fazit: Das Massnahmenregime traf Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten oder konnten, zu hart. Berger: «Rückblickend hätte man dies möglicherweise rascher beenden können, nachdem Risikopersonen ausreichend Gelegenheit gehabt hatten, sich zu impfen, und der Effekt der Impfung auf die Übertragung nur noch gering war.»
Dass Jugendliche unter Druck gesetzt wurden, sich impfen zu lassen, bezeichnet er aus heutiger Sicht als «problematisch». «Die Aussage, ihr müsst euch impfen, damit ihr ins Lager gehen könnt, ist schon infrage zu stellen», sagt er im Interview.
Berger ist kein Corona-Skeptiker. Viele Massnahmen, gerade diejenigen, die am Anfang der Pandemie ergriffen wurden, hält er noch heute für richtig. Sie hätten verhindert, dass noch mehr Risikopersonen sterben mussten, weshalb sie von der Bevölkerung mitgetragen worden seien.
Berger ist auch alles andere als ein Impfskeptiker. Er sagt: «Natürlich sollen diejenigen impfen können, die das möchten. Aber Empfehlungen, bei denen es vor allem darum geht, andere und nicht sich selbst zu schützen, sind schwierig.»
Im Vergleich zu anderen Experten hat Berger während der Pandemie nie die Deutungshoheit für sich beansprucht. Er gehörte weder zu denen, die den Ungeimpften vorwarfen, «die Gesellschaft in Geiselhaft zu nehmen», noch zu denen, die jede Woche erneut Alarm schlugen. Aber er hat Dinge gesagt, die er heute wohl nicht mehr so sagen würde, und er hat an Massnahmen geglaubt, die heute als weitgehend wirkungslos gelten.
Die Pandemiepolitik wirkt noch immer nach. Sie prägt die Wahlen in den USA und ist wohl der Grund dafür, dass sich am Zürcher Kinderspital heute weniger Angestellte gegen Grippe impfen lassen als vor der Pandemie. In der Schweiz gibt der Bundesrat mittlerweile immerhin zu, dass rigide Schutzmassnahmen – namentlich in den Altersheimen – viel Leid verursacht haben. Von einer schonungslosen politischen Aufarbeitung der Corona-Zeit ist er aber noch meilenweit entfernt.
Anders Christoph Berger: Er hätte still und ohne Selbstkritik abtreten können. Schliesslich war er nie der Lauteste. Doch er hat sich entschieden, Verantwortung zu übernehmen. Dafür – und für seinen ehrenamtlichen Einsatz in der Impfkommission – gebührt ihm Respekt und Dank.