Samstag, Dezember 21

Braucht Europa einen eigenen Atomschutzschirm, um sich für eine Präsidentschaft des unberechenbaren Donald Trump zu wappnen? Fünf Gründe zeigen, weshalb diese Idee Europa nicht stärken, sondern schwächen würde.

Die Welt steht wieder im Banne Donald Trumps, noch bevor dem irrlichternden Republikaner die Rückkehr ins amerikanische Präsidentenamt gelungen ist. Ein untrügliches Zeichen dafür ist die Erregung, die Trump mit wenigen provokativen Worten auslösen kann – ganz so, wie dies zum Alltag seiner turbulenten Regierungszeit bis 2021 gehört hatte. Das jüngste Beispiel ist seine Drohung, Nato-Verbündete im Falle eines russischen Angriffs im Stich zu lassen, wenn diese die eigene Sicherheit vernachlässigt hätten. Seither denken europäische – vor allem deutsche – Politiker laut darüber nach, einen eigenen Atomschutzschirm über Europa aufzuziehen.

Solche Stimmen machten sich diese Woche in allen deutschen Mitteparteien bemerkbar – von der Spitzenkandidatin der Sozialdemokraten bei der Europawahl, Katarina Barley, bis zu ihrem konservativen Gegenpart von den Christlichsozialen, Manfred Weber. Der grüne Vordenker Joschka Fischer hatte schon im Dezember den Aufbau eines europäischen Atomwaffenarsenals gefordert, während der liberale Finanzminister Christian Lindner sich nun zumindest eine Debatte darüber wünscht. Was nur ist mit den Deutschen los, die sich doch bis vor kurzem gegen alles Nukleare sträubten?

Man reibt sich die Augen und liest dann die reisserische Schlagzeile der Boulevardzeitung «Blick»: «So weit sind Europas Atombomben-Pläne». Ja, wie weit? Die kurze Antwort lautet: Es gibt keine solchen Pläne, und das ist auch gut so.

Weder nötig noch machbar

Zu beobachten ist vielmehr eine fiebrige Aufregung, in der vergessengeht, was Europa sicherheitspolitisch in Wirklichkeit anpacken müsste. Es gibt viel zu tun, doch Atomwaffen sind das Letzte, worin die EU nun investieren sollte. Derzeit scheint dies nur für die extreme Linke klar zu sein – wenn auch aus den falschen Gründen. Sie hing schon immer der Utopie an, dass man Atomwaffen einfach verbieten kann. Wichtig ist dagegen, dass die staatstragenden Parteien erkennen, auf welchen Irrweg die Idee eines europäischen Atomschirms führt.

Fünf Argumente stehen dabei im Vordergrund. Das erste wird oft unterschätzt: Selbst eine neuerliche Präsidentschaft Trumps würde nicht den Bruch zwischen Amerika und Europa bedeuten. Es geht den Populisten im konservativen Lager nicht um Abkoppelung, sondern um Entlastung, um eine fairere Verteilung weltpolitischer Bürden. Für Trump zählt dabei die Stimmungsmache – der Beifall des kleinen Mannes – mehr als die Substanz. In seinem ersten Wahlkampf vor acht Jahren erklärte er die Nato kurzerhand für unnütz. Aber als Präsident fand er bald Gefallen an der Formulierung, dank ihm sei die Allianz endlich nicht mehr obsolet.

Auch unter Trump wollen die USA eine Weltmacht bleiben. Das kann ihnen nur mithilfe von Bündnissen gelingen. Schutzversprechen sind dabei die entscheidende Währung. Der Geschäftsmann Trump will im Gegenzug einfach möglichst viel herausholen, mit Methoden, die er der New Yorker Mafia abgeschaut hat.

Dagegen lässt sich einwenden, dass Europa seine Sicherheit unmöglich einem derart skrupellosen Politiker anvertrauen kann. Ob Trump im Ernstfall den Europäern gegen Russland mit Atomwaffen zu Hilfe käme und damit die Vernichtung Amerikas in Kauf nähme, erscheint tatsächlich zweifelhaft. Doch diese Ungewissheit ist keineswegs neu. Ein Altmeister der Sicherheitspolitik, der kürzlich verstorbene Henry Kissinger, fand es schon in den siebziger Jahren absurd, eine amerikanische Selbstmordbereitschaft zur Grundlage westlicher Strategie zu machen. Nukleare Abschreckung war somit stets ein wackliges Konzept. Hinzu kommt, dass der Aufbau eines europäischen Atomschirms mehr als ein Jahrzehnt in Anspruch nähme – also kein Rezept für eine mögliche zweite Ära Trump ist.

Ein zweites Argument betrifft völkerrechtliche Hürden. Ausser Frankreich haben sich sämtliche EU-Staaten im Atomsperrvertrag zum Verzicht auf Nuklearwaffen verpflichtet. Gegenüber Moskau hat Deutschland obendrein im Zwei-plus-vier-Vertrag – der Grundlage der Wiedervereinigung von 1990 – hoch und heilig dem Besitz von Atomwaffen abgeschworen. Eine «deutsche Atombombe» würde somit in Moskau als schwerer Vertragsbruch aufgefasst. Eine hochgradige Dummheit wäre auch die Aufkündigung des Atomsperrvertrags durch die Europäer, da dies eine Kettenreaktion im Mittleren Osten und in der Pazifikregion auslösen würde. Jede mittelgrosse Nation müsste sich ernsthaft eine atomare Bewaffnung überlegen.

Wer würde den roten Knopf drücken?

Die Befürworter einer nuklearen Aufrüstung gehen nonchalant über solche Einwände hinweg und sprechen vage von einer «europäischen Atombombe». Doch wer genau hätte die Verfügungsgewalt darüber? Das führt zum dritten Punkt: Die EU ist kein Bundesstaat und wird es noch lange nicht sein. In ihrer heutigen Form wäre die Union zu glaubwürdiger nuklearer Abschreckung unfähig. Sie kann sich nicht einmal auf eine Nebensache wie die Anerkennung Kosovos einigen; in der Schicksalsfrage einer nuklearen Eskalation wäre Brüssel erst recht gelähmt.

Geradezu weltfremd ist der Vorschlag eines unter den EU-Staaten «wandernden» Atomkoffers mit rotem Knopf. Ein Pole wird niemals akzeptieren, dass eine Italienerin über die Zündung einer Atombombe in Osteuropa entscheidet und umgekehrt. Jeder militärische Gegner würde die Lächerlichkeit eines solchen Arrangements durchschauen.

Damit wird, viertens, klar: Ein «EU-Atomschirm» könnte höchstens auf der Basis der Atomstreitkräfte Frankreichs entstehen – diese würden zu einem zentralen Pfeiler europäischer Sicherheit. Denn innerhalb der EU ist Frankreich das einzige Land mit Atomwaffen. Wie die meisten Präsidenten vor ihm wirbt auch Emmanuel Macron für die Idee, die französische nukleare Abschreckung in den Dienst der kollektiven Sicherheit zu stellen. Aber seine Vorschläge sind vage und nicht vertrauenswürdig.

Paris wäre wohl an einer finanziellen Abgeltung interessiert, würde aber die alleinige Verfügungsgewalt über die Force de Frappe behalten. Zum Einsatz käme diese nur, wenn «vitale Interessen» Frankreichs bedroht wären – und diese werden im Élysée definiert, nicht in Brüssel. Glaubwürdige europäische Abschreckung sieht anders aus, erst recht gegenüber Russland. Denn Macron hat sich mit seinem beschämend kleinen Beitrag an die Waffenhilfe für die Ukraine als unsicherer Kantonist erwiesen. Zugleich flösst er den Russen keinen Respekt ein – Putin wimmelte ihn einst ab mit dem Argument, er wolle jetzt lieber Eishockey spielen.

Die Priorität liegt ganz anderswo

Die europäische Atomdebatte krankt aber noch an einem fünften Punkt, dem wohl entscheidenden. Die gängige Vorstellung, mit «der Bombe» sei man vor einem Krieg sicher wie Asterix mit dem Zaubertrank, ist falsch. Schuld daran ist die Logik dieser Waffe: Weil rationale Akteure nur nuklear eskalieren, wenn überlebenswichtige Interessen auf dem Spiel stehen, erweisen sich Atombomben in anderen Szenarien als nutzlos. Beispielsweise könnte Russland ungestraft einen bewaffneten Grenzkonflikt in Ostmitteleuropa provozieren, im Wissen darum, dass weder die USA noch Frankreich gleich mit der nuklearen Keule reagieren würden.

Abschreckung benötigt deshalb zwingend auch einen anderen Pfeiler, die Verteidigungsfähigkeit mit konventionellen Waffen. Deren jahrelange Vernachlässigung ist der Grund, weshalb Europas Sicherheit nun bedroht ist – nicht das Fehlen eines «EU-Atomschirms». Wer Putin in die Schranken weisen will, muss deshalb bei den nichtnuklearen Lücken ansetzen. Es gilt zuallererst, die leeren Munitionslager zu füllen. Damit gewänne Europa militärische Glaubwürdigkeit zurück und die Möglichkeit, die Ukraine in ihrem Abwehrkampf mit ausreichend Nachschub zu versorgen. Europa hat auf diesem Weg erschreckend viel Zeit verloren. Dass es noch immer keinen rechten Plan gibt, die gesamte Rüstungsindustrie des EU-Raums mit langfristigen Abnahmegarantien anzukurbeln und zu einem europaweiten Kraftakt aufzubieten, ist ein schwer verzeihlicher Fehler.

In dieser Lage ist es unverantwortlich, Zeit und Ressourcen für atomare Illusionen zu verschwenden. Der Aufbau von europäischen Atomstreitkräften würde Hunderte von Milliarden Euro verschlingen – Ausgaben, die zulasten der viel dringenderen konventionellen Verteidigung gingen. Ein solcher Kurs würde nicht nur die Prioritäten falsch setzen. Er stiesse auch die Amerikaner vor den Kopf, die weiterhin besten Garanten europäischer Sicherheit. Absehbar wären zudem endlose interne Querelen, denn in den meisten Ländern Europas will die Bevölkerung nichts von atomarer Aufrüstung wissen. Wie man es auch dreht und wendet: Die Idee eines eigenen Atomarsenals verheisst Europa keine Sicherheit, sondern nur eine weitere Schwächung.

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