Dienstag, November 26

Die Grossstadt Charkiw wehrte Russlands Blitzangriff im Frühling 2022 ab. Doch nun ist der Krieg wieder näher gerückt und zehrt an den Kräften der Bevölkerung.

Zwei Minuten nach Beginn des Luftalarms knallt es laut. Darauf folgt eine zweite Explosion, tief, durchdringend und in der ganzen Stadt hörbar. Vom grenznahen Belgorod aus hat Russland zwei S-300-Raketen auf Charkiw abgefeuert. Im Zentrum der ostukrainische Metropole sind Sirenen zu hören. Polizeiautos, Feuerwehrwagen und Ambulanzen rasen zum Einschlagsort.

Dort blinken Blaulichter in der sternenklaren Januarnacht. Es riecht nach verbranntem Plastik. An einer der Strassensperren stoppt ein Mitarbeiter des Militärgeheimdienstes die Journalisten. «Fotografieren verboten», bellt er. Später melden die Behörden 17 Verletzte. Bei Tageslicht zeigt sich, dass die Rakete ein riesiges Loch in ein Verwaltungsgebäude gerissen hat. Auf der anderen Strassenseite durchlöcherten Splitter die Fassade einer Frauenklinik. Überall klebt der Staub von pulverisierten Ziegelsteinen, am Boden vermischt er sich mit dem Löschwasser zu einer rötlichen Brühe. Die Druckwelle hat Behandlungszimmer verwüstet und Patientinnen verwundet.

2600 getötete Zivilisten in Charkiw

Die einstige Hauptstadt der Ukraine ist Russlands Raketenterror gewohnt. Allein seit dem Jahreswechsel hat sie ein halbes Dutzend grössere Angriffe erlebt. Charkiw ist das wirtschaftliche und logistische Zentrum im Osten und eine bedeutende Industriestadt, inklusive eines starken Rüstungssektors. Sie ist ein Bollwerk gegen den Aggressor, symbolisch, politisch, aber auch militärisch.

Zivilisten und Armee vermischen sich hier deshalb. Möglicherweise war das auch am Ort des Einschlags von Mitte Januar der Fall. Eine aussergewöhnlich hohe Präsenz von Sicherheitskräften, die nervöse Informationspolitik und andere Spuren deuten darauf hin, dass das getroffene Verwaltungsgebäude nicht wie offiziell behauptet unbenutzt war. Dies beweist freilich noch nicht, dass es ein militärisches Objekt darstellte.

Da die Russen gegen Charkiw meist für Bodenangriffe umgerüstete Flugabwehrraketen des Typs S-300 einsetzen, nehmen sie eine geringe Präzision in Kauf. Ihr Gefechtskopf trägt zudem Splitter, die sich nach dem Einschlag weitherum verteilen. Allein in den letzten Wochen kamen so gegen 20 Personen ums Leben. Insgesamt haben die Truppen Moskaus seit Februar 2022 2600 Zivilisten in der nur 30 Kilometer von der Grenze entfernten Stadt getötet.

Die vielen Verwundeten landen meist im Kreisspital von Charkiw. Dort liegt Jewhen Botwinow in der Intensivabteilung, neben zwei bewusstlosen Patienten mit schweren Kopfwunden. Der 45-Jährige arbeitete in einer Fabrik, die Ende Dezember beschossen wurde. Nach den ersten Explosionen floh er in den Schutzraum. «Wir warteten, 20 Minuten, eine halbe Stunde. Ich dachte, es sei vorbei, und ging nach oben. Dann – plötzlich Dunkelheit», erzählt der 45-Jährige und schnippt mit den Fingern.

Als er zu sich kam, hörte er die Stimmen der Rettungskräfte durch die Trümmer. «Ich versuchte, zu schreien. Aber ich bekam keine Luft, da ein Betonpfeiler auf meiner Brust lag», erinnert sich der stämmige Mann, der noch immer an einem Gewirr von Schläuchen hängt. «Dann haben mich die Feuerwehrleute bemerkt und ausgegraben.»

Auch über zwei Wochen später kann Botwinow nur schwer atmen. Er schwitzt ständig, obwohl er sich kaum bewegt. Die gebrochenen Rippen haben seine Lunge durchbohrt, ausserdem wurde die Wirbelsäule verletzt. Vor ihm liegt eine lange Rehabilitation. «Aber ich habe überlebt», sagt Botwinow. «Von jetzt an werde ich am 29. Dezember meinen zweiten Geburtstag feiern.»

Die Ziele von Russlands Raketen sind unklar

Für das Kreisspital bedeuten die Raketenangriffe, dass die Ärzte ständig mit einer Welle von Patienten rechnen müssen. In den engen Gängen herrscht deshalb Hektik und Anspannung. Mehr als zehn Prozent der 690 Betten belegen die Verwundeten aber nicht – nicht mehr: Zu Beginn von Russlands Invasion gehörte Charkiw zu den prioritären Zielen. Erst am Stadtrand wehrten die Ukrainer die feindlichen Panzer ab.

Doch die Millionenstadt blieb unter Artilleriebeschuss, bis die Ukrainer im Frühherbst 2022 die gesamte Region befreiten. Sie drängten die Russen so weit zurück, dass diese Charkiw «nur» noch mit Raketen beschiessen können. Über tausend davon hat die Staatsanwaltschaft auf einem Werkhof gesammelt, darunter auch Behälter mit Streumunition.

Mit dem Scheitern des Blitzkriegs änderten die Russen ihre Strategie: Der Raketenbeschuss soll die Bevölkerung vertreiben und demotivieren. War er im letzten Winter noch stark auf die Energieinfrastruktur konzentriert, so wirken die Ziele nun unterschiedlicher. Ein klarer Fokus ist schwer erkennbar: Niemand weiss, ob der nächste Angriff einem Wohnhaus, einer Industriezone oder einem Kraftwerk gelten wird. Anfang Januar zerstörte Russland zwei Hotels, die bei ausländischen Journalisten und Organisationen besonders beliebt waren. Sie galten als sicher und besassen keinerlei militärische Bedeutung.

Anders als in Kiew hat die Flugabwehr nur begrenzte Möglichkeiten: Vom Abschuss bis zum Einschlag einer Rakete dauert es 30 bis 45 Sekunden. Die Ukrainer versuchen deshalb, die Zielerfassung der Flugkörper durch elektronische Signale zu stören. Dies hat den irritierenden Nebeneffekt, dass Google Maps einen stets an einem völlig anderen Ende der Stadt ortet, zuweilen auch direkt an der russischen Grenze. Es bleibt ein Gefühl der Desorientierung und Schutzlosigkeit.

Der Bürgermeister der «Heldenstadt»

Um das Risiko zu minimieren, pendelt Charkiws Bürgermeister Ihor Terechow zwischen verschiedenen improvisierten Büros. Terechow räumt im Gespräch ein, dass ihm die Angriffe auf die Stadt und der wachsende Druck am nahen Frontabschnitt von Kupjansk Sorgen bereiten würden. «Aber wir haben tägliche Explosionen überlebt. Wir sind unzerstörbar», verkündet er etwas phrasenhaft. «Wir sind eine Heldenstadt.» Diesen einst sowjetischen Ehrentitel verlieh der ukrainische Präsident Charkiw im März 2022.

Glich die Metropole damals einer Geisterstadt, so leben hier heute wieder eine Million Menschen. Das sind etwa 70 Prozent der Vorkriegsbevölkerung. Die Metro fährt regelmässig, ihre Stationen beherbergen Schutzräume und Schulen. Restaurants und sogar ein brandneues Einkaufszentrum sind geöffnet, die Menschen konsumieren und flanieren. Im Zentrum stauen sich die Autos – in Strassen, die an zahllosen Häusern mit zerstörten Dächern vorbeiführen.

Unter diesen Bedingungen den Alltag am Laufen zu halten, bringt Schwierigkeiten mit sich. Laut Terechow leben in Charkiw 200 000 Vertriebene, oft in Wohnheimen. Die Stadt erhalte zwar Unterstützung von der Regierung, müsse aber mit einem um 30 Prozent gekürzten Budget haushalten, sagt der Bürgermeister.

Offenkundig kann der Staat nicht alles regeln. In die Bresche springen die Freiwilligenorganisationen, seit Kriegsbeginn das Rückgrat der Ukraine. Eine von ihnen steht am Eingang zur Metro und verteilt aus einem Auto mit der Aufschrift «Super Hero» Essensrationen an 450 Personen mit Behinderungen: Konserven, Teigwaren, Ketchup, gefrorenen Salat. Die Nachfrage wachse, man sei alle zwei Wochen hier, sagt einer der Aktivisten. Die Spendensammlung werde mit zunehmender Kriegsdauer aber immer schwieriger.

Fast 10 Milliarden Dollar an Zerstörung

Die Frage des Wiederaufbaus bleibt erst recht ausgeklammert, solange der Krieg tobt. Zerstörung im Umfang von umgerechnet 9,5 Milliarden Dollar habe Russland angerichtet, sagt Terechow. 50 Prozent der Schulen seien beschädigt, und 150 000 Menschen hätten ihr Obdach verloren.

Eine von ihnen ist Lina Pasetschnik, die gleich hinter dem zentralen Freiheitsplatz mit zwei Kübeln Schutt aus ihrem Haus trägt. Davor klafft ein Loch in der Strasse, wo am 2. Januar eine S-300 einschlug. «Ich hatte Glück, aber im fünften Stock wurde eine alte Schauspielerin getötet», sagt die 59-Jährige in ihrer völlig ruinierten Erdgeschosswohnung. Erst im Sommer hatte Pasetschnik sie von Grund auf erneuert.

Wie die anderen Bewohner des Hauses, das einst speziell für Künstler gebaut worden war, ist sie zurückgekommen, um ihre Habseligkeiten zu holen. Pasetschniks Türen sind geborsten, in einem Zimmer ist die Decke eingebrochen. Die Stadt hat versprochen, das Haus zu sanieren – dieses Jahr sollen laut dem Bürgermeister 167 Gebäude repariert werden.

Wann Pasetschniks Haus dran ist, weiss sie nicht. «Bis auf weiteres kann hier natürlich niemand wohnen.» Momentan kommt sie bei ihrer Tochter unter. Die meisten Obdachlosen wohnten nun bei Verwandten. «Das soziale Netz funktioniert immer noch», findet Pasetschnik.

«Wir rauchten auf dem Balkon, als Raketen flogen»

Auch Lili Muntjan erhielt nach dem Angriff viel Unterstützung – von Freunden und Stammkunden, die Glas und Schutt wegräumten. Die 31-Jährige betreibt neben Pasetschniks Haus das Café Pakafuda. Im grossen Fenster liegt statt Glas eine Spanplatte. «Wir haben geöffnet», hat jemand darauf geschrieben. Drinnen gibt es Kaffee und Kuchen, im Regal stehen Dutzende von Brettspielen. Die Gäste sitzen zusammen und spielen, als wären sie in ihrem Wohnzimmer, als suchten sie etwas Geborgenheit inmitten der Zerstörung.

Die ursprünglich aus Mariupol stammende Muntjan lebt gleich um die Ecke. «Die russischen Raketen haben beide Orte beschädigt, an denen ich mich wirklich sicher fühlte.» Die junge Frau mit den blonden Locken wirkt fröhlich und zuversichtlich, ihr Café öffnete sie nach acht Tagen wieder. «Mein Team muss Geld verdienen.»

Doch sie gesteht, dass sie der Angriff erschüttert hat. «Wir waren gedankenlos, kümmerten uns nicht gross um die Luftalarme und rauchten sogar auf dem Balkon, als Raketen flogen.» Sie habe immer gedacht, sie sei sicher in der Innenstadt, weil es hier keine militärischen Ziele gebe. Doch nun betritt sie ihre stilvoll eingerichtete und praktisch intakte Wohnung nur noch für kurze Zeit, um Sachen zu holen und ihre Katze zu füttern. Sie verbringt ihre Tage im Café und schläft jede Nacht bei anderen Freunden.

Routine und Erschöpfung in der Extremsituation

Wenn Muntjan erzählt, dass sie gerne ein paar Tage wegfahren würde, um die Nerven zu beruhigen, spricht sie wohl vielen in Charkiw aus der Seele. Der akute Überlebenskampf der Stadt ist vorbei, eine Eroberung droht nicht, und die Wohnungen sind im Gegensatz zum letzten Winter warm und hell. Doch die Leute kämpfen gegen die Erschöpfung und die Unberechenbarkeit der Raketenangriffe. Die wiederkehrenden Extremsituationen zehren an der Substanz.

Gleichzeitig haben die Einwohner nach fast zwei Jahren Krieg eine Routine entwickelt, die beeindruckt. Jene Putzbrigaden, Bauarbeiter und Feuerwehrleute, die am 16. Januar die Schäden nach dem S-300-Angriff aufräumen, tun dies ruhig und koordiniert, in abgestimmten Bewegungen, die sie tausend Mal eingeübt haben.

Bagger schaufeln die Trümmer auf einen Haufen, Laster fahren sie weg. Während die einen Spezialisten die Wasserrohre im riesigen Krater auf der Strasse flicken, füllen andere bereits Sand ein, um das Loch zu füllen. «In vier Stunden sollte wieder alles laufen», brummelt einer. Sein Gesicht bleibt emotionslos. Alltag in der Heldenstadt Charkiw.

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