Die Wahlrechtsreform der «Ampel» stellt einen Systemwechsel dar. Dieser wird in Karlsruhe grossteils gebilligt. Aus unklarer Ursache wurde das Urteil schon vor der geplanten Zeit bekannt.
Das von der «Ampel» beschlossene neue Wahlrecht hat zwar durchaus kuriose Effekte, es ist aber dennoch überwiegend verfassungsgemäss. Das entschied das Bundesverfassungsgericht. Der Entscheid sollte eigentlich um 10 Uhr am Dienstag veröffentlicht werden. Doch am späten Montagabend war die Urteilsbegründung bereits kurzzeitig über die Website des Gerichts abrufbar. Ob es sich um eine technische Panne oder einen absichtlichen Leak handelte, ist unklar. Das Gericht wollte sich dazu am Dienstag nicht äussern.
Passieren kann nach dem neuen Wahlrecht zum Beispiel, dass ein Kandidat haushoch den Wahlkreis gewinnt und trotzdem nicht in den Bundestag kommt. Nämlich dann, wenn seine Partei nicht genügend Zweitstimmen bekommen hat. Dieses sogenannte Zweitstimmendeckungsverfahren sei verfassungsrechtlich in Ordnung, urteilten die höchsten deutschen Richter und bestätigten grossteils die Wahlrechtsreform der «Ampel». Diese stellt einen Systemwechsel dar.
Das Wortungetüm Zweitstimmendeckungsverfahren löst andere Vokabeln ab, die nun nicht mehr gebraucht werden. Überhang- und Ausgleichsmandate zum Beispiel sind fortan Geschichte. Diese Mandate hatten zur Aufblähung des Parlaments geführt und letztlich die Reform erzwungen; verstanden hatte die akrobatische Abstimmungsarithmetik ohnehin kaum jemand. Das neue Wahlrecht schreibt die Zahl der Sitze im Bundestag nun dauerhaft auf 630 fest.
«Unser neues Wahlrecht hat Bestand», jubelten Ampelpolitiker am Dienstag, während der christlichsoziale bayrische Ministerpräsident Markus Söder von einer «Klatsche für die ‹Ampel›» sprach. Beide haben ein bisschen recht.
Die Grundmandatsklausel bleibt
Die Richter kassierten nämlich die Abschaffung der Grundmandatsklausel. Nicht zu beanstanden sei zwar, dass die Regelung noch auf den letzten Metern in das Gesetz aufgenommen worden sei. Dafür seien Gesetzgebungsverfahren ja da, um auch kurzfristig noch Änderungen zu beschliessen, sagte die Gerichtsvizepräsidentin Doris König bei der Urteilsverkündung. Inhaltlich sei die Regelung aber verfassungswidrig. Die Union hatte schon im Gesetzgebungsverfahren erfolglos gegen sie protestiert.
Der Grundmandatsklausel verdankt die Linke ihren erneuten Einzug in den Bundestag. Sie besagt, dass eine Partei in Fraktionsstärke ins Parlament kommt, wenn sie entweder fünf Prozent der Stimmen oder mindestens drei Direktmandate bekommt. Die Linke errang bei der letzten Wahl drei Direktmandate und zog deshalb mit 39 Abgeordneten ins Parlament ein.
Für die CSU hätte die Abschaffung der Grundmandatsklausel bedeuten können, dass sie mit keinem einzigen Abgeordneten im Bundestag ist, selbst wenn ihre Kandidaten in allen 46 bayrischen Wahlkreisen das Direktmandat geholt hätten. Diese Klausel gilt fort, bis eine verfassungskonforme Lösung gefunden ist.
Systemwechsel ist möglich, totale Gerechtigkeit nicht
Was ist also nun übrig von der Reform? Das Ziel, den Bundestag zu verkleinern, wird erreicht. Das deutsche Parlament ist das grösste frei gewählte Parlament der Welt. Die Verfassung sieht 598 Sitze vor, real sind es derzeit 733. Die beschlossene Reform schreibt die Grösse von 630 Sitzen dauerhaft fest und wirft die Zahlenakrobatik über Bord. Das ist ein Systemwechsel, nunmehr höchstrichterlich gebilligt.
Eine weitere Erkenntnis mag sein: Totale Gerechtigkeit gibt es nicht. Dass ein erfolgreicher Wahlkreiskandidat nur ins Parlament kommt, wenn er die Partei im Rücken hat, kann man kritisch sehen und befürchten, dass eckige, authentische Kandidaten es noch schwerer haben werden als bisher schon und stromlinienförmige Parteisoldaten leichter. Dem Bundesverfassungsgericht ist das jedoch egal. «Man kann es so machen», lautet sinngemäss sein Verdikt, und dass der Gesetzgeber das so ermöglicht habe. Die CDU kündigte an, diese Regelung bei nächster Gelegenheit rückgängig machen zu wollen.
Gegen die Reform geklagt hatten 195 Mitglieder der Unionsfraktion im Bundestag, die bayrische Staatsregierung sowie die Parteien CSU und Die Linke.
Die jüngste einer Reihe von Wahlrechtsreformen
Das neue Bundeswahlgesetz war im März des vergangenen Jahres mit den Stimmen von SPD, FDP und Grünen verabschiedet worden. Im Juni 2023 trat es in Kraft.
Bereits 2020 hatte die damalige grosse Koalition aus CDU/CSU und SPD eine Wahlrechtsreform beschlossen – die aber nicht bewirkte, was sie hätte bewirken sollen. Von vornherein von ihren Kritikern als Reförmchen verspottet, schaffte sie es lediglich, den Anstieg der Abgeordnetenzahl zu verlangsamen. Der Bundestag wuchs bei der Wahl 2021 von 709 auf 736 Abgeordnete – und ist damit weiterhin das grösste frei gewählte Parlament weltweit. Die Zahl ist durch Rücktritte und die Berliner Neuwahl auf aktuell 733 gesunken.
Wem das alles bekannt vorkommt, der liegt richtig. Das Verfassungsgericht hatte bereits vor gut einem halben Jahr über das Wahlrecht geurteilt. Damals ging es um die Vorgängerreform. Diese winkte der Zweite Senat zwar mit Blick auf die Nachholwahl in Berlin durch. Die Vorsitzende Doris König und zwei Richter monierten aber die mangelnde Verständlichkeit der Regeln. In einem Sondervotum hielten sie fest, den Wahlberechtigten werde zugemutet, ihre demokratischen Rechte «im Blindflug» wahrnehmen zu müssen.

