Donnerstag, Dezember 26

Die Re 4/4 II war die grösste Lokserie der Bundesbahnen. Nun verschwindet sie nach 60 Jahren aus dem Fernverkehr. Eine Abschiedsfahrt mit dem «Transalpin».

Zürich HB, Gleis 10: Andreas Stadlin, Lokführer der SBB, wartet am Perron, um seinen Zug nach Buchs SG zu übernehmen. Der «Transalpin» nach Graz ist einer der letzten Eurocity-Züge ab Zürich, die mit herkömmlichen EC-Wagen geführt werden. Vor allem aber handelt es sich um einen der letzten Fernverkehrszüge, die mit einer Re 4/4 II bespannt sind. «Ich bin einer der wenigen, die das Glück haben, noch mit dieser Lokomotive zu fahren», sagt Stadlin.

Kurz vor der Abfahrt stellt ein Kollege die Komposition bereit. Um 08.43 Uhr fährt Stadlin leicht verspätet aus dem Hauptbahnhof aus. Die Lok mit der Nummer «11193» beschleunigt ruckweise. Parallel verlässt ein anderer Zug den unterirdischen S-Bahnhof Museumsstrasse. Er ist mit zwei Lokomotiven desselben Typs bespannt. Vor gut zehn Jahren modernisierten die SBB 30 Re 4/4 II, um sie mit Zusatzzügen der Zürcher S-Bahn einzusetzen. Im Zimmerbergtunnel erreicht der «Transalpin» 140 km/h, die Höchstgeschwindigkeit der Lokomotive.

Um 09.01 Uhr, kurz nach Wädenswil, grüsst Stadlin einen Kollegen, der ihm mit einem Nachtzug aus Wien entgegenkommt. Der Zug ist ebenfalls mit einer Re 4/4 II bespannt. Mit rund 300 Lokomotiven handelt es sich um die grösste Serie, die die SBB je beschafft haben. Von 1964 bis 1985 produzierten die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik, Brown, Boveri & Cie. und weitere Firmen die Re 4/4 II, von den Bundesbahnen seit längerem als Re 420 bezeichnet – und von den Eisenbahnern schlicht Bo Bo genannt.

Gnadenfrist im Güterverkehr

Jahrzehntelang waren die zuverlässigen, robusten Lokomotiven im Personen- und Güterverkehr das Rückgrat der SBB. Sie zogen die prestigeträchtigsten Züge, auf der Gotthard-Strecke oder den «Swiss-Express» und die Intercity von St. Gallen nach Genf. Heute verdienen die 71 Re 4/4 II, die bei der Division Personenverkehr verblieben sind, ihr Gnadenbrot neben der Zürcher S-Bahn mit Nachtzügen, Fussball-Extrazügen und Dienstzügen. Bis etwa ins Jahr 2033 sollen die Letzten verschwinden.

Stadlin bedauert das nahende Ende «schon ein wenig». Es war ein eigentümliches Gefühl, als er in Kaiseraugst an Re 4/4 II vorbeifuhr, die zur Verschrottung abgestellt waren. «Mich hat die Lokomotive nie im Stich gelassen.» Diese sei zwar anspruchsvoller zu bedienen als modernere Maschinen, funktioniere aber bei Regen besser. Es war die erste Lokomotive, mit der er in der Ausbildung fuhr, als er vor 23 Jahren bei den SBB begann. Viele seiner jüngeren Kollegen sind nicht mehr auf dem Loktyp instruiert.

Der «Transalpin» fährt an diesem milden Januartag dem Walensee entlang, vor der Kulisse der Churfirsten. Vor Unterterzen kommt Stadlin um 09.26 Uhr ein Zug von SBB Cargo entgegen. Die Güterbahn setzt noch 78 ihrer 90 vorhandenen Re 4/4 II ein, mit Expresszügen für die Post oder die Migros, im alpenquerenden Verkehr und mit Ganzzügen mit Öl und Kies. Bis ins Jahr 2033 sollen die Lokomotiven schrittweise verschwinden und durch modernere Loks ersetzt werden.

Damit geht eine Ära zu Ende: Die Re 4/4 II ist die letzte Lokomotivserie, die die SBB bis heute im Personen- und Güterverkehr einsetzen. «Das Mädchen für alles der SBB wird fünfzig», titelte die NZZ im Jahr 2014. Sogenannte Universallokomotiven, die Reise- und Güterzüge im Mittelland und auf Bergstrecken ziehen können, sind nicht mehr gefragt. Der Personen- und der Güterverkehr der Bundesbahnen sind organisatorisch schon länger getrennt. Bei Fernverkehrszügen sind heute oft höhere Geschwindigkeiten gefragt.

Bei Flums kommt Stadlin um 09.31 Uhr der Intercity von Chur nach Zürich und Basel entgegen. Bespannt ist er mit je einer Re 460 an der Spitze und am Schluss des Zuges – der Lokomotive, die auf die Re 4/4 II folgte. Diese mit über 12 000 Kilowatt reichlich motorisierten Kompositionen haben seit dem Fahrplanwechsel vom letzten Dezember die verbliebenen IC-Züge mit den Re 4/4 II abgelöst. Der Grund für das aufwendige Produktionskonzept ist eine Vorgabe der SBB-Division Infrastruktur, um den Fahrplan und die Anschlüsse sicherzustellen. Die IC-Züge müssen mit zwei Loks bespannt werden, wenn sie mehr als acht Wagen haben und mit den spurtstarken Triebzügen mithalten wollen.

SBB setzen auf Triebzüge

Der Abschied von den Re 4/4 II zwischen Zürich und Chur war auch Peter Füglistaler, dem Direktor des Bundesamts für Verkehr (BAV), ein paar Zeilen wert. «Wehmut kommt auf, wenn die Lieblingslokomotiven nach 60 Jahren Betrieb ausser Dienst gestellt werden», schrieb er auf der Plattform Linkedin. Füglistaler bedauerte es, dass die SBB wie andere Bahnen für den Personenverkehr nur noch Triebzüge beschafften. Diese hätten zwar eine gute Innenausstattung, seien schön und technologisch vom Besten, aber auch anspruchsvoll und unflexibel.

Die Doppelstock-Triebzüge FV-Dosto funktionieren inzwischen zwar gut. Bei den Passagieren und dem Zugspersonal werden sie aber nie einen Beliebtheitspreis gewinnen. Die lokbespannten Züge mit den eleganten Speisewagen sind trotz ihrem Alter bis heute wesentlich komfortabler. Die modernen Triebzüge werden nur noch etwa halb so lange im Einsatz sein, wie es bei der Re 4/4 II der Fall war. Ein Grund ist die Elektronik.

Vor der Kulisse des Alpsteins fährt der «Transalpin» um 09.48 Uhr im Grenzbahnhof Buchs SG ein. Stadlin hat die Verspätung aufgeholt. Die «11193» funktioniert, als wäre sie gerade erst abgeliefert worden. Die Lok hat in der SBB-Werkstätte Bellinzona erst letztes Jahr nochmals eine Hauptrevision erhalten, unter anderem um den Panorama-Express über die Gotthard-Bergstrecke zu ziehen.

Zwei Lokomotiven der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) warten, um den EC über die Arlbergstrecke nach Innsbruck zu führen. Stadlin senkt den Stromabnehmer, und ein Rangierarbeiter kuppelt die Lokomotive ab. Ein Kollege übernimmt diese, um sie abzustellen, bis sie am Abend mit dem Gegenzug nach Zürich zurückkehrt.

Neue Verwendung für alte Lokomotiven

Die Stiftung Historisches Erbe der Bundesbahnen, SBB Historic, will zu gegebener Zeit eine Re 4/4 II übernehmen und für die Nachwelt erhalten. Dazu kommen weitere Lokomotiven, die Private erworben haben. Der Verein «Depot und Schienenfahrzeuge Koblenz» hat eine Lok weitgehend in den Ursprungszustand zurückversetzt – mit der grünen Lackierung, die jahrzehntelang das Bild der SBB prägte.

Eine private Firma hat weitere Lokomotiven übernommen und revidieren lassen. Sie setzt diese mit Güter- und Extrazügen ein. Eine trägt wieder das rot-beige Kleid des TEE, des Trans-Europ-Expresses. Die grösste Lokomotivserie der SBB mag allmählich aus dem Fern- und Güterverkehr verschwinden. Trotzdem wird sie auf Schweizer Schienen gelegentlich weiterhin anzutreffen sein.

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