Der Drahtzieher des Massakers vom 7. Oktober wurde offenbar zufällig entdeckt. Seine Tötung ist ein Hoffnungsschimmer – und wirft neue Fragen auf.
Yahya Sinwar ist tot. Das bestätigte am Donnerstagabend die israelische Armee. Über ein Jahr nach dem Massaker des 7. Oktober töteten israelische Soldaten den Architekten des Terrorangriffes am Mittwoch bei einem Angriff auf ein Gebäude im südlichen Gazastreifen. Entgegen aller Annahmen befand sich Sinwar nicht in einem Tunnel umgeben von Geiseln, sondern wurde in einem Haus getötet.
Während einer Patrouille hätten israelische Soldaten drei Terroristen der Hamas getötet, teilte die israelische Armee am Donnerstagnachmittag mit. Laut Medienberichten haben die Soldaten gesehen, wie die Kämpfer das Gebäude in Rafah im südlichen Gazastreifen betreten haben, und einen Angriff auf das Haus angefordert. Ihnen sei vorher nicht klar gewesen, dass einer der Männer Yahya Sinwar war.
Einer der Getöteten hatte eine Ähnlichkeit mit dem Hamas-Chef, woraufhin die DNA, Fingerabdrücke und das Gebiss der Leiche mit jenen Sinwars abgeglichen wurden. Sinwar sass über zwanzig Jahre lang in israelischen Gefängnissen, weshalb Israel über diese Daten verfügt. Die israelische Polizei bestätigte eine Übereinstimmung der Fotos von Sinwars Zähnen mit seinem Gebiss, kurz darauf teilte die israelische Armee mit, dass die Leiche Sinwars eindeutig identifiziert wurde.
Nach der Tötung von Ismail Haniya in Teheran wurde Sinwar im August zum alleinigen Hamas-Führer ernannt. Davor führte der 61-Jährige den Gaza-Flügel der Terrororganisation. Den Angriff des 7. Oktober hat vor allem er geplant und angeordnet.
Die Verhandlungen um einen Waffenstillstand im Gazastreifen waren vor kurzem zu einem Stillstand gekommen, auch wegen der Kompromisslosigkeit Sinwars. Israels Regierung wollte den Kampf nicht einstellen, bis die Armee einen totalen Sieg errungen hat. Sinwars Tod könnte den Verhandlungen einen neuen Schub geben und Israel den Sieg erklären lassen – es könnte der Anfang vom Ende des Gaza-Kriegs sein.
Wer folgt auf Sinwar?
Die Hamas wurde seit Beginn des Gaza-Kriegs empfindlich getroffen. Ende September teilte die israelische Armee mit, die Terrororganisation sei im ganzen Gazastreifen militärisch besiegt und operiere nur noch als Guerilla-Truppe. Wenige Wochen zuvor hatte Israel den Tod von Mohammed Deif bestätigt, dem Chef des militärischen Flügels der Hamas. Mit der Tötung von Sinwar trifft Israel die Organisation ins Mark.
Die Hamas ist allerdings seit Jahrzehnten an die Tötung ihrer Führer gewöhnt. Immer wieder konnte ein Nachfolger gefunden werden, und die Organisation existierte weiter, etwa auch, als Israel 2004 den Hamas-Gründer Scheich Ahmad Yassin tötete. Auch dieses Mal wird die Organisation aller Wahrscheinlichkeit nach einen neuen Führer ernennen.
Schon nach der Tötung von Haniya wurde Khaled Mashal, der ehemalige Politbürochef der Hamas, als neuer Chef der Organisation gehandelt. Er gilt als weniger eng verbunden mit Iran, weshalb er nach dem Tod von Haniya das Nachsehen gehabt haben soll. Auch der in Libanon residierende Osama Hamdan könnte auf Sinwar folgen. Er ist derzeit der aussenpolitische Sprecher der Hamas und hochrangiger Funktionär im Politbüro.
So oder so: Israel hat mit der Tötung von Sinwar einen grossen Sieg in dem bereits über ein Jahr anhaltenden Krieg eingefahren. Sinwar war bei weitem der einflussreichste Anführer der Terrortruppe, der mit dem aus Sicht der Hamas erfolgreichen Blutbad am 7. Oktober für immer in die Annalen der islamistischen Organisation eingehen wird.
Sein Nachfolger hat nun mehr Spielraum, um ein Abkommen mit Israel zu schliessen. Die Kommunikation mit Sinwar war in der Vergangenheit äusserst mühsam, da er laut Berichten abgetaucht war und nur noch spärlich Mitteilungen nach aussen schickte. Er galt zudem trotz dem zunehmenden militärischen Drucks Israels als skrupellos und unnachgiebig.
Wo sind die Geiseln?
Dass Sinwar nicht von Geiseln umgeben in einem Tunnel tief unter der Erde getötet wurde, sondern mit einer mit Granaten bestückten Weste im Kampfgebiet, wird seinen Mythos innerhalb der Hamas stärken. Es könnte der dezimierten Terrortruppe einen Moralschub geben – obwohl unklar ist, wie viel sie ausrichten kann.
Gleichzeitig stellen sich viele in Israel die Frage, wo sich die Geiseln befinden, wenn sie offenbar nicht in der Nähe des Hamas-Chefs festgehalten wurden. Der Druck auf Israels Regierung wird nach der Tötung Sinwars noch einmal zunehmen, alles für eine Rückkehr der Verschleppten zu tun.
Das Forum der Geiselfamilien begrüsste am Donnerstagnachmittag die «Eliminierung» Sinwars. Es rief die israelische Regierung und die Vermittler dazu auf, den militärischen Erfolg in einen diplomatischen umzuwandeln, «indem sie eine sofortige Vereinbarung über die Freilassung aller 101 Geiseln anstreben: die Lebenden zur Rehabilitierung und die Ermordeten für eine angemessene Bestattung». Bis vor kurzem gingen israelische Quellen davon aus, dass nur noch 64 Geiseln am Leben seien.
Noch bleiben nach Sinwars Tod viele Fragen offen. Doch zum ersten Mal seit vielen Monaten ist ein vorläufiges Ende des Gaza-Kriegs in greifbare Nähe gerückt. Ein Waffenstillstand würde nicht nur das Leid der Bewohner des Gazastreifens beenden, sondern auch die erschöpfte israelische Gesellschaft ein Stück näher zum Frieden bringen.