Freitag, Oktober 4

Am Dienstag findet die möglicherweise wahlentscheidende TV-Debatte im US-Präsidentschaftswahlkampf statt. Trump muss sich präsidialer zeigen, Harris ihr Profil schärfen.

Neunzig Minuten könnten den künftigen Kurs der USA bestimmen. Da die beiden Kandidaten für die Präsidentschaftswahl Kopf an Kopf liegen, hat die TV-Debatte vom Dienstag enorme Bedeutung. Es wird der erste und voraussichtlich letzte Schlagabtausch zwischen Donald Trump und Kamala Harris sein vor dem Urnengang vom 5. November. Das Duell in Philadelphia wird besonders aufschlussreich, da sich die beiden zum ersten Mal begegnen und die Amerikaner bisher nur vage Vorstellungen über Harris’ Wahlprogramm haben.

Statt auf Harris konzentriert sich Trump auf Vergangenes

Beide Kontrahenten wissen um die Bedeutung des Auftritts. Harris verschanzt sich für fünf Tage mit ihren engsten Beratern in einem Hotel in Pittsburgh und bereitet sich mit simulierten Debatten auf den Abend vor. Laut der «New York Times» wurde die TV-Bühne für diesen Zweck eins zu eins nachgebaut. Philippe Reines, ein ehemaliger Mitarbeiter von Hillary Clinton, spielt dabei Trump, lebensecht mitsamt Perücke und blauem Anzug. Nach den Probedurchläufen kritisieren Harris’ Vertraute sie erbarmungslos.

Trump übt offiziell nicht für den entscheidenden Abend, sondern führt lediglich Gespräche mit Beratern. Aber auch er zieht sich mehrere Tage zurück, in seinen Privatklub in Bedminster, New Jersey, wo er unter anderem mit dem republikanischen Abgeordneten Matt Gaetz arbeitet, der ihm harte Fragen stellt, zum Beispiel zu seiner Verurteilung oder zum Thema Abtreibung. Es heisst, Trump bereite sich nun intensiver auf die Debatte vor als 2016 gegen Hillary Clinton und 2020 gegen Joe Biden.

Während seine Berater ihn drängen, sich im Wahlkampf auf gegenwärtige Probleme und Harris’ Bilanz als Vizepräsidentin zu konzentrieren, tut er das Gegenteil. Am Samstag drohte er, alle ins Gefängnis zu werfen, die am angeblichen Betrug bei den Wahlen von 2020 beteiligt gewesen seien. Am Freitag zählte er vor laufender Kamera all die «Gemeinheiten» auf, die er in den letzten Jahren erdulden musste, und breitete nochmals detailreich die gegen ihn erhobenen Vorwürfe wegen sexuellen Fehlverhaltens aus.

Harris wollte Trump ins Messer laufen lassen

Als die Bedingungen der Debatte diskutiert wurden, waren die Mikrofone ein Streitpunkt. Das Kampagnenteam von Trump wollte, dass das Mikrofon desjenigen, der gerade nicht spricht, stumm geschaltet wird. Harris plädierte für offene Mikrofone. Ihr Kalkül: Trump würde sie dann dauernd unterbrechen, wie er das schon 2020 mit Biden gemacht hatte, und sich so selbst blossstellen. Weil Trumps Team um seine Schwäche weiss, wollte es den Kandidaten vor sich selbst schützen, wie dies bei der Debatte vom 27. Juni gegen Biden geglückt war. Die Stummschaltung führte damals dazu, dass Trump – für seine Verhältnisse – zivilisiert und staatsmännisch wirkte.

Auch die anderen Bedingungen wurden von der letzten Debatte im Juni übernommen: Der Schlagabtausch dauert neunzig Minuten, als einzige Hilfsmittel erhalten die Kandidaten einen leeren Notizblock und einen Kugelschreiber. Die beiden haben jeweils zwei Minuten, um eine Frage zu beantworten, es folgen eine zweiminütige Erwiderung des Gegenübers und eine Zusatzminute für Klärungen. Eröffnungsreden gibt es nicht, hingegen dürfen beide ein zweiminütiges Schluss-Statement abgeben. Das Duell wird vom amerikanischen Fernsehsender ABC moderiert und ausgestrahlt, ohne Live-Publikum.

Harris ist seit der Annahme ihrer Kandidatur in die Kritik geraten, weil sie – abgesehen von einem langen CNN-Gespräch am 29. August – Interviews ablehnte. Ihre Strategie zahlte sich zwar aus, wenn man die guten Umfragewerte anschaut. Diese stagnieren allerdings in jüngster Zeit. Laut einer Analyse der «New York Times» liegt dies vor allem daran, dass rund ein Drittel der Wähler mehr über sie wissen will. Ihre anfängliche Stärke ist inzwischen zum Schwachpunkt geworden. Denn vielleicht rührte ihr Erfolg im August tatsächlich auch daher, dass sie sich so bedeckt hielt; jeder konnte seine Wunschvorstellungen auf sie projizieren. Deshalb birgt die Debatte – die Stunde der Wahrheit – jedoch auch Risiken für sie. Sie muss sich nun klar positionieren und wird dadurch zwangsläufig gewisse Wählergruppen enttäuschen.

Sie muss sich selbst definieren, bevor es Trump für sie tut

Harris’ Bilanz als Rednerin ist gemischt. Sie ist schlagfertig und kann – wie sie als Staatsanwältin bewiesen hat – ihr Gegenüber erbarmungslos demontieren. Aber sie neigt gelegentlich zu unverständlichem Wortsalat und verliert sich in sachpolitischen Details. Für sie geht es in der Debatte darum, sich selbst für das Publikum zu definieren, bevor dies Trump übernimmt.

Laut der «New York Times» äussert sich Trump im engen Kreis voller Verachtung über Harris. Während er Hillary Clinton durchaus als «smart» einschätzte, betrachtet er Harris als dumm. Zudem hat er sich wiederholt über ihre Hautfarbe und ihre Herkunft ausgelassen und sich abfällig über ihre früheren Beziehungen geäussert, zum Beispiel mit dem Bürgermeister von San Francisco. Mit solchen Sprüchen kann er bei seinen Stammwählern punkten, aber viele Frauen und Nichtweisse werden sie als frauenfeindlich und rassistisch brandmarken.

Von Trump hat die Öffentlichkeit ein viel klareres Bild als von Harris. Man liebt ihn oder hasst ihn. Daran kann auch Harris nicht viel ändern, weshalb sie voraussichtlich wenig Redezeit für Kritik an ihm verwenden wird. Sowieso ist Trump selbst sein gefährlichster Feind. Gibt er sich vernünftig und präsidial, könnte er Wechselwähler für sich einnehmen, allerdings auf das Risiko hin, seine Stammwähler zu enttäuschen. Gibt er sich hingegen vulgär und wild, dürfte das seine Basis begeistern, jedoch Mittewähler abstossen. Welche Seite am Dienstag dominieren wird, weiss er wohl selbst noch nicht. Insofern ist die Debatte auch ein Duell zwischen Trump und Trump.

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